Der Therapiestaat - die moderne Paternalismus-Maschine

Seite 2: Das Gemeinschaftsdilemma

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Individuelle Freiheit stößt meist recht schnell an soziale Grenzen. Dort, wo sich andere gestört, beeinträchtigt fühlen, ist es mit den persönlichen Freiräumen bald vorbei. Aber es hat sich einiges geändert. Ungebührliche Kleidung im öffentlichen Raum wird heute in Großstädten meist toleriert, Lärmerregung in Kleinstädten schon weniger.

Die Menschen sind recht klagefreudig geworden, sie reden oder schreien nicht mehr miteinander, sondern laufen gleich zur Polizei oder ziehen vor das Gericht. Früher hätte man die Lärmerregung in einem Wohnhaus durch persönliche Intervention oder nachbarschaftlichen Gruppendruck behoben, heute geht man zum Rechtsanwalt oder ruft lautstark nach neuen Vorschriften.

Tatsächlich ist das Dilemma zwischen den originären Selbstbestimmungsrechten von Gemeinschaften - oder dem was als Gemeinwohl rechtlich festgeschrieben ist - und dem Einzelnen nicht zufriedenstellend lösbar, wie das Beispiel um die Impfpflicht höchst ernüchternd zeigt (Impfgegner sind wie betrunkene Autofahrer). Dem, der das Geld dafür hat, bliebe bestenfalls Auswandern.

Allerdings, die überwältigende Zahl der Menschen ist nicht im authentischen Sinn liberaler geworden, die verluderten, herabgekommenen europäischen Großstädte sind da kein Maßstab mehr für Toleranz und autonome Individualität. Es sinkt nur die Grenze fürs Versandeln, für das Abgefuckte. Wenn das, was nicht ins oft wandlungsfähige rechte/linke Maß hineinpasst, schwierig ist, wird nicht gehandelt, sondern alarmiert, die Polizei gerufen, die es dann richten soll. Moderner Paternalismus eben, Zivilcourage perdue.

Wenn die Gemeinschaft dem Gemeinwohl zuliebe ein Mitglied opfern wollte, Menschen- und Kinderopfer waren übrigens gang und gäbe in der Geschichte, dann wurde das durchgeführt. Heute macht man das generell mehr mit verrechtlichten, der Mehrheit einsichtigen Bestimmungen, also mit ganz struktureller Gewalt im ursprünglichen Sinn (siehe John Galtung).

Kapitalismus und Staat

Im Kapitalismus hat Konsum die Funktion der Entschädigung für das Arbeitsleid durch den Verkauf von Arbeitskraft übernommen. Von dieser Aufgabe haben die Unternehmen den Staat entlastet. Werbung und Medien sorgen für entsprechende Motivation und liefern unzählige Beispiele für richtige Lebensweisen - bei Sex, Wohnen, Freizeit, Unterhaltung und Urlaub. Unbemerkt ist das Private - eine Errungenschaft der Aufklärung und des Bürgertums - eine öffentliche Angelegenheit geworden, Celebrities wissen das schon längst, privates Leben und öffentlicher Auftritt gehen ineinander über.

Unsere Staaten finanzieren mit Milliardenaufwand via Wissenschaften und NGOs ergänzende Informationen zum richtigen, zum menschengerechten Verhalten, die notfalls beiläufig mit Gesetzen durchgedrückt oder mit "Nudging", also durch Manipulation, "erzogen" werden.

Ernährungshinweise (vom Fleischverzicht, übers notwendige Gemüse, bis hin zum Röstgrad bei Backprodukten und vor allem: wenig Zucker), Gebote zur Verkehrsmittelwahl, dann Genussvorschriften (Rauchverbote, Alkoholverbote, Drogenverbote, harsch regulierte Glücksspiele), ganz klar natürlich Waffenverbote (ausgenommen das Auto), Kulturstil- und Konsumstilgebote (Öko, Bio, regional Kaufen, große Kunst achten, Hochkultur), sprachliche Ausdrucksvorschriften (gendergerecht, ja keine Hetze und Blasphemie, schon gar kein Rassismus und was man dafür hält). Ebenso die Arbeitsteilung im Haushalt (halb und halb) und dann natürlich die Kindererziehung (demokratisch, unautoritär, sanft fördernd, wohlmeinend, begeisterte Beteiligung an allen Schulaktivitäten), persönliche Gesundheitsvorsorge (zehntausend Schritte täglich, immer auf Fitness achten), Vorsorgeuntersuchungen, Impfvorschriften, lebenslanges Lernen (berufliche und private Wettbewerbsbereitschaft), brave Partizipation (Wählen gehen, ehrlich sein, keine schwarze Wirtschaft), Sexualverhaltens-Vorschriften, Hundehaltungs-Vorschriften, das Selbstfahren wird den Menschen durch vorgeschriebene elektronische Assistenten im Auto aus der Hand genommen (wie das nun unsere EU vorschreibt) und vieles andere mehr.

Es sind wohl tausende Vorschriften zum Schutz der Verbraucher, was immer gut ist, und ebenso zum richtigen Verhalten, die unser Leben im Alltag bestimmen. Kaum einer überblickt sie mehr, außer die Rechtsberufe, die damit gutes Geld verdienen. Das ist demokratische Arbeitsteilung und alltagskapitalistischer Wohlfahrtsstaat (zumindest für die Gutverdiener) und im herkömmlichen staatsbürgerlichen Verständnis. Es kommt wohl auch manches an persönlicher Gehässigkeit der Politiker und Beamten dazu, egal auf welchen Ebenen. Sozusagen unter einem zeitgenössischen Blockwart-Motto: Hurra, jetzt kann man endlich die Raucher quälen und es ihnen heimzahlen.

Der mit niemals rastender Werbung und unendlichen PR (Public Relations)-Aufwendungen zugedröhnte, staatlich verwaltete und infantilisierte Mensch, ist nach Faschismus, Kommunismus und Stalinismus jetzt auch im späten Kapitalismus Wirklichkeit geworden. Selbst Philosophen haben hier keine Lösung mehr. Viele Menschen unterstützen das durch typisch mittelschichtgehätscheltes Anspruchsdenken. Sie wünschen sich eine helikoptereltern-ähnliche Verwaltung. Bei allen Problemen soll sie helfend beispringen.

In China ist das Social Scoring (Sozialkredit-System), die Aufzeichnung des guten und bösen Verhaltens der Einzelnen dem Kollektiv gegenüber, schon eingeführt, die schlimmen Menschen, die Widerspenstigen werden mitunter an den Pranger gestellt, Beschämung ist eine wirksame Waffe zur Unterbindung von Ungehorsam. "Warte nur! Bald …".