Der Ukraine-Konflikt und die veränderten internationalen Beziehungen

Seite 2: Die mächtige Welle der neoliberalen Globalisierung verliert zusehends an Einfluss

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Es ist ein Paradox dieser Ära, dass sich autoritär regierte Länder wie China und Russland für eine Demokratisierung der Weltordnung einsetzen, während der "freie Westen" autoritäre Strukturen verteidigt. Das in der Ukraine-Krise wiederbelebte Narrativ von der "westlichen Wertegemeinschaft" ist in diesem Zusammenhang von großem praktischen Wert. Schließlich kann sich eine "freie Welt" ja nicht mit den finsteren Mächten der Unfreiheit auf eine Stufe stellen.

Mit dieser Ideologie der Ungleichheit im Hintergrund hat der Westen jahrzehntelang systematisch UN-Organisationen geschwächt und gleichzeitig Institutionen wie WTO, IWF und Weltbank, die vom Westen dominiert werden, in eine Schlüsselrolle manövriert. Aus den erpresserischen Fängen dieser Organisationen wollen sich inzwischen die meisten Entwicklungs- und Schwellenländer freimachen. Sie wollen sich weder von der WTO verbieten lassen, Märkte zu regulieren, staatlich in die Wirtschaft zu intervenieren oder Rohstoffunternehmen und andere wichtige Sektoren unter staatliche Kontrolle zu bringen. Noch wollen sie sich von IWF und Weltbank zu immer neuen Austeritätsprogrammen zwingen lassen.

Neben BRICS und SCO haben die lateinamerikanischen Wirtschaftbündnisse Mercosur und ALBA eine ähnliche antihegemoniale Zielsetzung. Der Mercosur, dem Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay und Venezuela angehören, ist mittlerweile ein erfolgreiches Projekt regionaler Wirtschaftsintegration und verfügt mit der "Bank des Südens" über eine eigene Entwicklungsbank. Das von Venezuela und Kuba 2004 aus der Taufe gehobene Wirtschaftsbündnis ALBA, zu dem auch Bolivien, Ecuador, Nicaragua und einige karibische Länder gehören, hat bereits eine eigene Verrechnungswährung, den Sucre, mit dem sich die Mitgliedsländer vom US-Dollar unabhängiger machen.

Diese wirtschaftlichen Bündnisse und Allianzen richten sich nicht grundsätzlich gegen den Abbau von Zöllen, die Weiterentwicklung des internationalen Handels oder grenzüberschreitende Investitionen. Niemand will sich hier vom Weltmarkt zurückziehen und wirtschaftlich abkoppeln. Ihr Ziel ist es, gegenüber dem Westen eine Position der Stärke aufzubauen, um auf Augenhöhe agieren zu können. Über die Vorteile einer künftigen Mitgliedschaft Indiens in der SCO schreibt Bhadrakumar, sie würde "die Fähigkeit Indiens verbessern, mit den USA eine wirklich gleichberechtigte Beziehung auszuhandeln".

Die US-Regierung indessen arbeitet zurzeit daran, ihre Führungsposition durch eine Reihe von multilateralen Freihandelsabkommen zu festigen. Neben dem TTIP-Abkommen mit der EU stehen ein transpazifisches Freihandelsabkommen und das Dienstleistungsabkommen TISA auf der Agenda. Doch was auf den ersten Blick so offensiv und gestaltungsmächtig daherkommt, ist in Wirklichkeit ein Versuch, von der globalen Freihandelsstrategie des Westens zu retten, was noch zu retten ist. TTIP beschränkt sich - ebenso wie CETA - auf hochentwickelte Industrieländer des Westens. TISA geht nicht wesentlich darüber hinaus. Und beim geplanten transpazifischen Freihandelsabkommen ist noch nicht einmal klar, welche Länder sich beteiligen wollen.

Ein genauerer Blick offenbart, dass die mächtige Welle der neoliberalen Globalisierung, die in den 90er Jahren praktisch unaufhaltsam um die Welt ging, zusehends an Schwungkraft und Einfluss verliert. Seit vielen Jahren versucht die US-Regierung, in Amerika eine Freihandelszone "von Alaska bis Feuerland" zu installieren (FTAA). Aber bis jetzt hat sie sich am Widerstand von Mercosur und ALBA die Zähne ausgebissen. Mit dem Mercosur will auch die EU ein Freihandelsabkommen schließen. Seit 1995 wird darüber - mit längeren Unterbrechungen - verhandelt. Bisherige Ergebnisse: keine. Die Mercosur-Länder wollen ihre Industriezölle nur dann senken, wenn die EU im Gegenzug ihre Agrarmärkte öffnet und Agrarsubventionen abbaut. Sie haben es nicht mehr nötig, sich von Europa über den Tisch ziehen zu lassen.

Die große globale Marktbefreiung sollte aber eigentlich in der WTO stattfinden. Seit 2001 verhandeln ihre Mitgliedsstaaten im Rahmen der "Doha-Runde" über ein weltumspannendes Freihandelsabkommen. Ursprünglich sollte es bis 2005 fertig sein. Bisherige Ergebnisse: keine. Mehrere Anläufe mit jahrelangen Verhandlungen scheiterten, vor allem am Widerstand der Entwicklungs- und Schwellenländer. Zuletzt, im vergangenen August, wurde das bereits fertig ausgehandelte "Bali-Paket" über globale Handelserleichterungen vom neuen indischen Premierminister Modi abgeschmettert. Es wäre die erste globale Vereinbarung der WTO gewesen. Das Abkommen hätte Indien aber gezwungen, die staatliche Subventionierung von Grundnahrungsmitteln für Arme abzubauen.