Der Ukraine-Krieg als Menetekel: Ein Wendepunkt der Globalisierung

Seite 2: Planlose Eliten, orientierungslose Massen

Wir werden aus dieser Krise Lehren ziehen, ohne Illusionen über den Westen. Wir werden uns bemühen, nie wieder vom Westen abhängig zu sein.

So äußerte sich der russische Außenminister Sergej Lawrow vor wenigen Tagen. Aber wer wird seinem fortan unabhängigen Land die Rohstoffe abkaufen, deren Export bisher ungefähr die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts ausmachen?

US-amerikanische Kommentatoren sprechen von einer bevorstehenden Zweiteilung der Weltwirtschaft in einen von den USA geführten und einen chinesisch dominierten Block. Aber wer wird die Verschuldung des Landes finanzieren, indem er US-Staatsanleihen kauft, wenn die Chinesen es nicht mehr tun?

In Wirklichkeit verfolgen die jeweiligen Eliten bei ihrem blutigen Risiko-Spiel in Lebensgröße keinen Plan. Die geopolitische Konfrontation wird zu einem Selbstzweck, während gleichzeitig die drängenden globalen Krisen ignoriert werden.

Davon zeugt auch die Reaktion in der Europäischen Union. Die Gegner ökologischer Reformen nutzen die willkommene Gelegenheit und stellen die wesentlichen Vorhaben zur Disposition, mit denen die ökologische Krise abgebremst werden sollte.

Den Ausstieg aus der Atomenergie und der Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen, die sogenannte Agrarwende, all das soll abgesagt werden, während in Deutschland für Bundeswehr und Aufrüstung 100 Milliarden Euro fließen. Das Motto: "Für die Klimakrise haben wir gerade keine Zeit, wir müssen erst einmal China und Russland niederringen!"

Die steigenden Lebensmittelpreise betreffen nicht mehr nur den Globalen Süden. Auch in Deutschland reagieren nur wirklich Reiche mit einem Achselzucken auf Preissteigerungen von 20 Prozent und mehr. Dennoch werden keine ernsthaften Bemühungen unternommen, einen industriepolitisch-ökologischen Plan zu entwickeln, wie die Lebensmittel- und Energieversorgung gesichert werden kann (insbesondere für die ärmere Bevölkerung), ohne gleichzeitig den Klimawandel und das Artenstreben zu beschleunigen.

Der russische Angriffskrieg verschärft bereits bestehende Krisen. Beispielsweise fügt er der Masse von 33,5 Millionen internationalen Flüchtlinge (laut UN-Flüchtlingskommissariat) weitere Millionen Vertriebener hinzu. Die Kampfhandlungen und die forcierte Aufrüstung erhöhen den Ausstoß von Treibhausgasen und beschleunigen so die Klimakrise, die wiederum zu Missernten und dem Zusammenbruch von Ökosystemen führt, was weiteren Menschen die Lebensgrundlage entziehen wird. Kurz, die geopolitischen Manöver verschärfen die Probleme und führen in einen Teufelskreis.

Die kapitalistische Globalisierung hat die Möglichkeiten, das eigene Leben ohne Lohnarbeit und unabhängig von den Weltmärkten zu erhalten, zerstört und die soziale Ungleichheit extrem gesteigert, sodass heutzutage die einen zum Spaß ins All fliegen, während die anderen an Masern sterben, wie in Afghanistan gerade der Fall.

Sie hat tatsächlich eine Welt geschaffen – eine integrierte, wenn auch tief gespaltene Einheit. Die Komponenten unserer Telefone und die Zutaten für unser Essen überqueren zahllose Ländergrenzen und sogar Kontinente. Die Treibhausgase, die hierzulande freigesetzt werden, verändern die Niederschläge in Indien.

Die Infektionen, die in China entsteht, erreichen Deutschland innerhalb weniger Tage. Eine Strategie, die in dieser Lage auf Aufrüstung und Abschottung setzt, ist aussichtslos. Sie wird die Abfolge immer neuer Katastrophen nur beschleunigen. Nationale Souveränität ist objektiv anachronistisch in einer Welt, in der sich das Schicksal einer Nation auf dem ganzen Planeten entscheidet (jedenfalls wenn darunter nationale Selbstbestimmung verstanden wird).

Zwar spricht einiges dafür, Landwirtschaft und industrielle Fertigung möglichst dort anzusiedeln, wo die Erzeugnisse konsumiert werden, weil sonst für den Transport Treibhausgase freigesetzt werden müssen. Dennoch ist der weltweite Austausch von Wissen, Lebensmitteln und Rohstoffen gerade wegen der Klimakrise notwendiger denn je.

Nur so lassen sich Missernten und andere Folgen extremerer Wetterlagen abfedern. Nur so können die erneuerbaren Energiequellen in vollem Maß ausgeschöpft werden. Und nur wenn sich die Lebenschancen weltweit angleichen, ist ein gemeinsames Vorgehen überhaupt vorstellbar.

So utopisch das klingt, ist es doch realistischer als die Politik einer Regierung, die beispielsweise angesichts steigender Energiepreise ernsthaft einen Rabatt an der Tankstelle vorschlägt. Aber nicht nur die politische Klasse leidet unter Realitätsverlust. Vielmehr bedienen die Politiker echte Bedürfnisse des Wahlvolks – nach Beruhigung, Bestätigung und tauglichen Feindbildern.

Diese Politik zehrt von der Angst. So verständlich und angebracht dieses Gefühl sein mag, so schädlich ist die Neigung, schlechte Beruhigungsmittel zu sich zu nehmen. Zu akzeptieren, dass es nicht mehr weitergeht wie bisher, fällt schwer. Gerade die krisenhaften Seiten der Globalisierung – ausländische Autokraten, Migration, internationale Wirtschaftskonkurrenz, Klimawandel – wecken Wunschvorstellungen von nationaler Souveränität und Autarkie.

Es ist der Traum vom Rückzug hinter sichere Mauern und der Rückkehr zum gewohnten Alltag, "Deutschland normal" oder ein Bullerbü hinter Stacheldraht, demnächst mit einem Raketenschutzschirm geschützt. Dieser Weg ist versperrt.