"Der Ungehorsam ist eine hervorragende Intuition gewesen."
Ein Jahr G8 in Genua: Aktivitäten zum ersten Jahrestag und Stand der linken Bewegung
Morgen jährt sich erstmals der Todestag von Carlo Giuliani, dem jungen Demonstranten, der während der Proteste gegen den G8-Gipfel in der italienischen Hafenstadt Genua im vergangenen Jahr mit einem Kopfschuss von einem Carabinieri getötet wurde. Im Gedenken an Carlo Giuliani finden in ganz Italien Kundgebungen und Aktionen statt. Das Zentrum der Aktivitäten liegt natürlich in Genua. Dort finden vom 13. bis zum 21. Juli, über neun Tage hinweg, öffentliche Debatten, Kongresse, Aktionen, Straßentheater, Konzerte und Demonstrationen statt, die nicht nur an die brutale Polizeirepression und den toten Carlo Giuliani erinnern, sondern auch die nächsten Schritte der außerparlamentarischen Bewegung entwerfen und diskutieren sollen.
Nach den Mobilisierungen im Anschluss an den G8 in Genua, wie gegen den (schließlich verlegten) NATO-Gipfel in Neapel im September, den breiten Antikriegsdemonstrationen im Herbst, die erneut Hundersttausende auf die Straßen brachten, dem Winter der den streikenden Studenten gehörte und den Aktionen gegen die jüngst verabschiedeten neuen repressiven Ausländergesetze, braucht die Bewegungslinke einen Raum der Reflexion und Neubestimmung, um einen qualitativen Sprung vornehmen zu können und sich nicht in den ewig gleichen Mobilisierungsritualen totzulaufen. Dies soll vor allem während der Juli-Tage in Genua und Anfang November auf dem Europäischen Sozialforum in Florenz geschehen.
Dabei sollte die Bewegung, nach Ansicht einer ihrer bekanntesten Sprecher Luca Casarini, "deutlich machen, dass wir global sind und die wirklichen No global die starken und marginalisierenden Mächte des Wirtschaftsliberalismus sind" Nach den Erfahrungen von Genua erklärten die Tute Bianche das Ende der "weißen Overalls", bildeten gemeinsam mit der Jugendorganisation von Rifondazione Comunista, der süditalienische Koordination Rete No-Global und anderen kleineren Gruppen die Bewegung der Ungehorsamen (Disobbidienti) und riefen den Übergang vom zivilen zum sozialen Ungehorsam aus.
Der Ungehorsam ist eine hervorragende Intuition gewesen, weil einige Bipolaritäten dadurch gesprengt wurden, wie z.B. die von Gewalt und Gewaltlosigkeit oder auch die von Legalität und Illegalität. So muss es sein: Ein nützliches Instrument und anwachsend in Europa,
so Federico Martelloni von den Ungehorsamen in Bologna.
Dennoch ist die Bewegung weit davon entfernt dies zur unverzichtbaren Identität zu machen: "Wenn es nicht mehr nützlich ist, dann werden wir uns dessen entledigen, so wie wir es mit den Tute Bianche (weißen Overalls) nach Genua gemacht haben." Doch das Konzept des sozialen Ungehorsam scheint vielen nicht klar genug.
Als das Wort Ungehorsam noch mit zivil assoziiert war, drückte es die Idee der cittadinanza (Bürgerschaft) aus, und zwar genau im Moment, in dem man entscheidet, die Grenze der Legalität zu überschreiten. Das Ganze hatte durchaus eine biopolitische Bedeutung, die sich mit dem Ausdruck Empire gut verbinden ließ. Der Soziale Ungehorsam ist als eine Art Taschenspielertrick entstanden, um sich in der Nach-Genua Zeit zurecht zu finden. Es war als ob man eine Diskontinuität markierte, ohne dabei zu wissen, was danach passieren würde.
So Roberto Bui, vom Schriftstellerkollektiv Wu Ming, der sich lange Zeit zu den Tute Bianche rechnete. (Vgl.Wer reden will, muss auch rebellieren)
Auch die Social Foren, von denen in Folge der Erfahrungen rund um den G8 in ganz Italien innerhalb weniger Wochen Hunderte entstanden, stellen ein Jahr später keineswegs überall ein Erfolgsmodell dar. Damals fanden sich in Städten und kleinen Ortschaften verschiedenste Gruppen, von Nachbarschaftsinitiativen über Eine-Welt-Läden bis hin zu besetzten Zentren nach dem Beispiel des Genoa Social Forum zusammen und bildeten eine tragende Säule der Verbreiterung der Bewegung und Mobilisierung. Dabei unterscheiden sich die lokalen Erfahrungen und Einschätzungen ebenso wie die verschiedenen Kooperationsmodelle.
In einem Kommuniqué der Ungehorsamen Anfang Juni wurde kritisch angemerkt:
Die ausgebliebene Mobilisierung der Bewegungen zum Anlass des Besuchs von George Bush II in Rom und zum Gipfel Nato-Russland in Pratica del Mare sollte von allen genutzt werden um eine Reflexion in die Wege zu leiten. Als Ungehorsame beginnen mit Selbstkritik, aber die Enttäuschung darüber, dass wir es nicht geschafft haben unserer Rolle gerecht zu werden, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Probleme auch allgemeiner Natur sind und alle betreffen. (...) Eines betrifft den Mechanismus der Anerkennung, Akzeptanz und Anziehungskraft der Social Foren. Hier muss mit aller Deutlichkeit gesagt werden, dass der Geist von Genua wichtig ist und nicht irgendein Logo, das mittlerweile ohnehin nicht mehr in der Lage ist anziehend zu wirken und als Motor zu fungieren, wie es einige Monate lang der Fall war. Wir müssen die Vorstellung überwinden das Bewegung dadurch entsteht das die Simulation der Orte der Bewegung verfestigt oder bürokratisch aufrecht erhalten werden.
Ein Schreiben das die Medien direkt dazu veranlasste eine Krise der Bewegungen und vor allem der Social Foren auszurufen, was allerdings eine grobe Verzerrung der Realität darstellt.
Ein abschreckendes Beispiel unter den Social Foren stellt das Forum in Rom dar. Hier trifft die Kritik des Schreibens durchaus zu, das eigentlich nicht vorhat die Social Foren insgesamt zu Grabe zu tragen, sondern eher vor einer Tendenz warnen soll. Zu Beginn noch ein brodelndes Gemisch verschiedenster Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen mit der Beteiligung einiger Tausend, degenerierte das Social Forum Rom innerhalb weniger Monate zu einem institutionalisierten Scheinparlament professioneller Politaktivisten. Die Ungehorsamen, wie auch andere linke Basisorganisationen und besetzte Zentren zogen sich daraus zurück und versuchten vor allem mit der Gründungvon Social Foren auf Stadtteilebene der Bürokratisierung entgegen zu wirken. Ein Modell das auch in Genua Schule machte, obwohl dort auch das Social Forum Genua gut funktioniert. In Neapel hingegen hat es nie ein Social Forum gegeben, die bereits vorher bestehende Koordination No global übernahm hier die Rolle eines Forums.
In Florenz wiederum, wo vom 6. bis 11. November das Europäische Sozialforum als kontinentales Vorbereitungstreffen für das Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre Anfang nächsten Jahres stattfindet, läuft das lokale Social Forum gut. Vielleicht liegt es daran, dass die Stadt stark studentisch geprägt ist. Die Ungehorsamen zielen hier auf eine Europäisierung der Kämpfe,
um uns auf einen neuen Weg der praktischen Kontinentalen Beziehungen zwischen verschiedenen Formen des Ungehorsams zu begeben, die zu gemeinsamen Initiativen fähig sind: So dass das Soziale Forum in November in Florenz, in dessen Vorbereitung wir nun - verspätet - eintauchen werden, nicht die Brutstätte erneuerter Spaltungen in der Bewegung und über sie darstellt, sondern einen wirklich fundamentalen Übergang, um einen Kampfhorizont zu entwerfen und ein alternatives Folgeprojekt zu den vorangehenden Mobilisierungen gegen die offizielle europäische Charta zu erschaffen. Also: FÜR DIE EUROPÄISCHE VEREINIGUNG DER SOZIALEN KÄMPFE.
Im italienischen Kontext drängt für die Bewegung wohl die Klärung ihres Verhältnis zu den Gewerkschaften, vor allem gegenüber der ehemals kommunistischen Gewerkschaft CGIL. Hatte diese sich vor einem Jahr noch distanziert zu den Demonstrationen in Genua verhalten, unterstützt sie nun die Aktivitäten zum ersten Jahrestag. Hier muss die Bewegung um eine eigenständige Mobilisierungsfähigkeit und den Raum für ein eigenes politisches Projekt kämpfen.
Nach drei Generalstreiks der Bewegung der Basisgewerkschaften Cobas war die italienische Gewerkschaftsbewegung im Frühjahr aus ihrem langanhaltende sozialpartnerschaftlichem Winterschlaf erwacht. Am 23. März demonstrierten auf Initiative der CGIL in Rom mehr als drei Millionen Menschen gegen die Veränderung des Artikels 18 zum Kündigungsschutz. Drei Wochen später legte ein achtstündiger Generalstreik das Land lahm. Mittlerweile haben die beiden anderen großen Gewerkschaftsverbände Italiens CISL (ehemals christdemokratisch) und UIL (ehemals der Sozialistischen Partei nahestehend) nach Gesprächen mit der Regierung einer Veränderung des Artikels 18 zugestimmt.
Die CGIL hingegen bleibt ihrem kategorischen Nein. Doch kann diese oppositionelle Gewerkschaftsmobilisierung, wie die Vergangenheit gezeigt hat, auch schnell wahltaktischen und parteipolitischen Überlegungen zu Gunsten der sozialdemokratischen DS (Democratici di Sinistra, ehemals PDS und davor kommunistische Partei PCI) und ihrem Wahlbündnis Ulivo (Olivenbaum) weichen und die Kräfte konzentrieren sich nur noch auf eine Ablösung der Berlusconi-Regierung. Auch ist von der CGIL kaum eine Radikalisierung und Ausdehnung der Kämpfe zu erwarten.