Der affektive Preis für die Freiheit

Demokratisches Heldentum: Alain Ehrenbergs unbehagliche Depressionstheorie

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Sein Name darf in keinem der zahlreichen Artikel über "Burn out" und andere seelische Leiden des modernen Menschen fehlen: Alain Ehrenberg. Wann immer sich Autoren dem Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und den neuen Anforderungen des Erwerbslebens widmen, zitieren sie den Soziologen. Dabei will der Franzose gar kein Kulturkritiker sein und formuliert eher ein Unbehagen am Unbehagen in der Gesellschaft.

Das "Gesamtbild eines gesellschaftlichen Strukturzerfalls" hat Alain Ehrenberg in "Das Unbehagen in der Gesellschaft" nach Meinung der "Neuen Zürcher Zeitung" gezeichnet. Der deutsche Sozialforscher Gerd-Günter Voß wertete schon den Erfolg des Vorgänger-Buches "Das erschöpfte Selbst" als "Indiz für die wachsende Sensibilisierung der Gesellschaft für die psychosozialen Folgen des Wandels der Arbeit". Und der "Spiegel" berief den französischen Wissenschaftler in seiner Titelgeschichte "Volk der Erschöpften" zum Kronzeugen für die zunehmenden Belastungen am Arbeitsplatz. Gegner wie der Kritiker Georg Dietz werfen Ehrenberg deshalb schon vor, die Depression an die Sozialkritik verraten zu haben und damit zum "Stichwortgeber all der antimodernistischen Traktate der letzten Jahre" avanciert zu sein.

Wer nun aber derart imprägniert zum "Unbehagen in der Gesellschaft" greift, um Aufschluss über die Pathologien des neoliberalen Wirtschaftssystems zu erhalten, der sieht sich enttäuscht. Eine detaillierte Antwort darauf, warum der "neue Geist des Kapitalismus" mit seinen Imperativen der Kreativität, Flexibilität und Selbstständigkeit aufs Gemüt schlagen kann, findet sich in dem Buch nämlich nicht. Ehrenberg interessiert sich nicht sonderlich für die Wechselwirkungen zwischen dem veränderten Autonomie-Status und der menschlichen Psyche. Schon gar nicht legt sich der Autor die Frage vor, ob es nicht weniger die neuen Freiheiten, sondern vielmehr ihre Aporien sind, die krank machen. In den Paradoxien der schönen neuen Arbeitswelt, die mit dem "Laissez-faire" zugleich Evaluierungen, Benchmarking und andere Kontrollmechanismen eingeführt hat, vermag er kein Potenzial für Doublebind-Konflikte erkennen. Und mit Studien zur Verbreitung von Schwermut in den Industrieländern setzt sich der Soziologe ebenfalls nicht auseinander.

Stattdessen betreibt Alain Ehrenberg vergleichende Literaturwissenschaft und analysiert die Diskurse, die es in den USA und Frankreich zum Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft gibt. Vor allem bei den Rollen, den diese der Eigenverantwortung und den sozialen Bindungen zuweisen, stellt er gravierende Unterschiede fest (Satz wurde verbessert, d. Red.). Während die US-amerikanische Kultur eher die Chancen der Autonomie betont, stellt die französische auf die Risiken ab und macht die Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts für zahlreiche Verwerfungen verantwortlich. Es werden "all diese Übel des sozialen Leidens von der Autonomie hervorgebracht und stellen die grundlegenden Merkmale dieser neuen Situation dar, in der die soziale Bindung schwächer ist, wenn man sie mit der Vergangenheit vergleicht", so fasst der Wissenschaftler die französische Position zusammen. "Trübsalsparadigma" nennt er an anderer Stelle dieses Lektüre-Raster der Welt und erklärt Pierre Bourdieu mit seinem Werk "La Misère du Monde" zu ihrem Urheber.

Der Depressive unserer Tage kapituliert vor dem Selbstverwirkungsanspruch

Nach Ehrenbergs Ansicht verstellt ein solcher Ansatz den Blick auf die Wirklichkeit. Der Reflex der kollektiven Psychologie seines Heimatlandes, "über die guten alten Zeiten zu lamentieren, in denen die Grenzen klar waren und der Fortschritt sicher" verhindere es, "die neuen Probleme der Person zu denken", schreibt er in "Das erschöpfte Selbst". Der Soziologe beklagt die "rituelle Macht" der sozialen Frage in Frankreich und distanziert sich vehement von einer Kulturkritik, die der Gesellschaft die Schuld für seelische Krankheiten aufbürdet. "Was hat die Politik mit dem Leiden zu tun?", fragt er rhetorisch. Ein Unbehagen an der Gesellschaft spürt der Denker also keineswegs, im Gegenteil: Er formuliert ein Unbehagen am Unbehagen.

Dabei stellt der Franzose das gehäufte Auftreten von psychischen Erkrankungen in Gesellschaften, die sich im Arbeitsleben von disziplinarischen Modellen verabschiedet haben und stattdessen auf flache Hierarchien und den subjektiven Faktor setzen, gar nicht in Abrede. Nach seiner Ansicht kapituliert der Depressive unserer Tage vor dem Selbstverwirkungsanspruch. "Er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen", so Ehrenberg. Nur nimmt er diesen Befund nicht zum Anlass, den modernen Kapitalismus in Frage zu stellen. "In jedem Gesellschaftstyp gibt es bestimmte Probleme, die die Kehrseite der positiven Werte bilden", betont der Sozialwissenschaftler und konstatiert: "Man kann sich nicht von der Vertikalität befreien, ohne ganz konkret einen affektiven Preis dafür zu bezahlen".

Darum will Ehrenberg dem "Trouble in Paradise" ganz pragmatisch beikommen, um den "Verlierern des Neoliberalismus" zu helfen. Statt eine politische Mobilisierung zu organisieren, plädiert er dafür, sich den Einzelnen und ihren Fähigkeiten zuzuwenden. In den jeweiligen persönlichen Ressourcen erkennt er die "Substanz der Solidarität" und den Hebel, an dem Initiativen gegen die Ungleichheit heutzutage anzusetzen haben.

Die Potenziale des Individuums gelte es zu stärken. "Empowerment" heißt seine Devise, mit der er sich ganz auf der Höhe der "Fördern und Fordern"-Philosophie der Agenda 2010 befindet. "Das entscheidende Problem, um das sich die psychosoziale Klinik dreht, besteht weniger darin, die Ärmsten vor dem Wettbewerb zu schützen, als ihnen vielmehr die Mittel in die Hand zu geben, in diesen einzutreten und sich darin zu halten", stellt er fest. Und wenn diese Wiedereingliederung gelingt, dann kommt die Gesellschaft dem Ideal nahe, das Ehrenberg von seinem Gewährsmann Jacques Donzelot definieren lässt, nämlich "ein Ganzes zu bilden, das durch äußere Ziele (die Wettbewerbsfähigkeit) und innere Ziele (ein Ideal des gemeinsamen Lebens) vereint wird".

Mehr ist nicht. Statt von Alternativen zu träumen, plädiert Ehrenberg mit Claude Lefort dafür, sich dem "Abenteuer der Demokratie" zu stellen, wobei das Abenteuerliche gerade darin besteht, die nur wenig abenteuerliche Monotonie, Unbestimmtheit und metaphysische Obdachlosigkeit der modernen Welt zu ertragen. Wer aber dieses "demokratische Heldentum", das mit Vorliebe französische Ex-68er mit einstmals weit ausladenderen Vorstellungen beschwören, nicht aufbringen kann, dem bleibt nichts als Ehrenbergs psycho-sozialer Fitness-Center. Eine unbehagliche Perspektive.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.