Der amerikanische Traum

Clintons Inaugurationsrede und die beeindruckte Reaktion von Europäern

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Joffe war offenbar beeindruckt vom "politischen Pathos", den Clinton mit seiner Rede zum Ausdruck gebracht hatte. Clinton sprach nicht nur von der "amerikanischen Mission", vom "amerikanischen Traum" oder vom "amerikanischen Versprechen einer vollkommeneren Vereinigung", als ob das alles Markenzeichen für Exportprodukte wären, sondern auch "von Amerikas hellem Licht der Freiheit, das über die ganze Welt leuchtet", weswegen die USA eben auch einen globalen Führungsanspruch habe, wenn "die größte Demokratie der Welt einer ganzen Welt von Demokratien vorangeht." Wir Europäer, so Joffe, hätten diesen doch bei aller unbestimmten Freiheitsverklärung recht nationalen Pathos verlernt und "als etwas Peinliches, gar Unanständiges unter den Teppich der Geschichte gekehrt." Da schwingt Bedauern mit, zumal Joffes Untertitel denn auch die dann aber nicht recht eingelöste Antwort auf die Frage verspricht: "Warum Amerika sich und den Präsidenten so feiern kann, wie es in Europa keiner mehr wagt." Joffe hätte ja auch sagen können, daß wir es in Europa nicht mehr können oder gar nicht mehr wollen. Nein, suggeriert er, wir trauen es uns nicht mehr, würden aber vermutlich gerne uns im nationalen Glanz der eigenen Bedeutung sonnen.

It is our great good fortune that time and chance have put us not only at the edge of a new century, in a new millennium, but on the edge of a bright new prospect in human affairs.

Bill Clinton

Brauchen wir ein derartiges Pathos? Hat Europa eine Mission für die Welt? Soll es den Anspruch haben, daß sein Modell - oder die vielen Modelle und Ideologien seiner Länder - der Welt zum Heil gereichen und eine Führer- oder Vorbildrolle rechtfertigen? Sollten einzelne Länder, gerade bestrebt, sich zu einem vielgestaltigen Gebilde zusammenzufinden, wieder ihre Einzigartigkeit hervorkehren - also nicht an Amerika, aber beispielsweise an Deutschland wird die Welt genesen? Oder sind wir nur nicht so weit, an staatlichen Inszenierungen Gefallen zu finden, die bestenfalls, tatsächlich wie Popcorn, kurz aufplatzen und kaum Spuren hinterlassen?

Our greatest responsibility is to embrace a new spirit of community for a new century. For any one of us to succeed, we must succeed as one America.

Bill Clinton

Ein "demokratisches Fest" jedenfalls, schwärmt Joffe, sei die 30 Millionen teure Gala gewesen, für die man zwischen 100 - ganz oben unter der Dachkante - und 3000 Dollar bezahlen mußte. Schließlich wären dann während der "Mischung aus Sechs-Tage-Rennen und Opernball, Rockparty und Staatsempfang" alle in Gleichheit Schlange vor der Popcorn-Maschine und dem Hotdog-Stand gestanden. Und dann kamen musikalische Darbietungen von russischen, irischen, schwarzen oder chinesischen Künstlern, und an der Parade marschierten nicht nur High-Schoolbands, sondern sogar "Indianer, Eskimos, Akrobaten" - welch eine seltsame Zusammenstellung.

Our rich texture of racial, religious and political diversity will be a Godsend in the 21st century.

Bill Clinton

"Amerika", so zitiert Joffe, "ist nicht nur ein Land, sondern ein Traum." Wer, fügt er schnell hinzu, würde das "nach den monströsen Tragödien, die von den Religions- bis hin zu den Weltkriegen reichen, von seiner eigenen Nation sagen?" Würden wir es gerne wieder wollen? Sollten wir es? Nach Joffe ist der amerikanische Traum von der Neuen Welt "unbeschädigt" von der Revolution von 1776 bis heute geblieben. Kein Kratzer trübt es. Das also wird für Joffe im Gegensatz zu Europa, zumal zu Deutschland, der Grund für die Möglichkeit des Pathos sein.

America demands and deserves big things from us - and nothing big ever came from being small.

Bill Clinton

So ist die Geschichte für Clinton auch eine einzige Erfolgsgeschichte der ehemaligen Auswanderer, die sich auf die Reise begaben und die Amerika zum Land des Versprechens machten, weswegen es eben diese Reise unbeirrt zum Wohle der Amerikaner und damit auch für den Rest der Menschheit fortsetzen müsse. Daß die USA kein Einwanderungsland für alle mehr ist, höchstens noch ein unfreiwilliges, übergeht man einfach, indem man immer wieder Bilder von Ellis Island - dem Ankunftsort vieler Einwanderer - projiziert. Ungeniert reklamiert Clinton zum Aufbau eines Nationalgefühls alle politischen und technischen Erfolge für Amerika. Im 19. Jahrhundert verbreitete sich "unsere Nation" über den Kontinent - als wäre er so leer wie der Weltraum gewesen. Natürlich ging auch die Idee der Gleichheit von Amerika aus. Glorreicherweise schaffte man die Sklaverei ab - und das 20. Jahrhundert wurde das amerikanische Jahrhundert. Amerika gedieh zur "größten Industriemacht" und rettete die Menschheit in zwei Weltkriegen und dem Kalten Krieg vor der Tyrannei. Das Verdienst sei natürlich nicht abgestritten, aber Amerika trug nicht nur immer die Fackel der Freiheit vor sich her, sondern auch die der ökonomischen Macht. Amerika hat die Teilung des Atoms und die Erforschung des Himmels durchgeführt, es hat den Computer erfunden und den Mikrochip sowie die Frauenrechte etabliert. Offenbar ist auch die Verbreiterung der Mittelklasse, der allgemeinen Schuldbildung und der Alterssicherung eine amerikanische Erfindung. Da gab es offenbar sonst auf weiter Flur nichts.

The promise we sought in a new land we will find again in a land of new promise.

Bill Clinton

Jetzt also soll Amerika wieder auf die "Reise" in die Zukunft gehen und vorbildlich für die Welt die Mächte des Informationszeitalters und der globalen Gesellschaft gestalten. Immer wieder geht es Clinton darum, die Nation zu vereinen, ein neues Gemeinschaftsgefühl herzustellen und die individuelle Verantwortung herauszustreichen. Ansonsten ist die neue Reise der amerikanischen Pilger in den Fortschritt und den High-Tech-Wilden-Westen ganz geprägt von der Tradition. Weiter so, ist die Devise. Stärkung der Wirtschaft, dann wird alles gut, werden alle am Wohlstand teilhaben. Nichts ist zu hören, wie es beispielsweise mit der Situation in der Arbeit weitergehen kann, oder davon, daß die Schere zwischen Reichen und Armen in den USA und weltweit stetig weiter aufgeht, die gepriesene Mittelklasse immer dünner wird. Nichts ist auch davon zu hören, daß die Beteiligung des Volkes an der "größten Demokratie" immer geringer wird, daß das mächtigste Land in seinem Inneren trotz des Zuwachses an Arbeitsplätzen Zonen der Dritten Welt enthält. Nur gedämpft kommen die Probleme der Integration zur Sprache, und des Trends, daß sich die vielgepriesenen Gemeinschaften hinter Zäunen einsperren, während viele öffentliche urbane Räume zu neuen Dschungeln wurden. Trotz des großen Pathos von der amerikanischen Mission ist mithin wenig Zukunft und viel Vergangenheit zu spüren. Vor allem keinerlei Idee einer wirklichen Veränderung, eines neuen Ziels, abgesehen von dem, daß Amerikaner stets Pioniere sind, die Brücken bauen und neues Land kultivieren.

And the world's greatest democracy will lead a whole world of democracies.

Bill Clinton

Europa ist erst im Begriff, die Grenzen seiner Nationalitäten hinter sich zu lassen und zu einem neuen, transnationalen Gebilde zu werden. Jeder nationale Pathos der Integration wäre da nur kontraproduktiv, sieht man einmal davon, welche Katastrophen er hierzulande bereits hervorgerufen hat und immer noch erzeugt. Es mag sein, daß die Nüchternheit demokratischer Verfahren und Herrschaft nicht begeistert, aber sie kleistert auch nichts zu und verführt nicht zu Missionen. Von der Begeisterung an der Nation und am Staat haben wir genug, aber auch vom Pathos einer Freiheit, die Gleichheit suggeriert und sie zugleich in die engen Klammern der Ökonomie und des Eigentums einspannt. Der Pathos erscheint als Versuch, nach dem Ende des Kalten Krieges diesen mit anderen Mitteln nur fortzusetzen und sich den Clash of Zivilizations verzweifelt zu eigen zu machen.