Der durchgedrehte Campus
Der Roman "Big U" von Neal Stephenson aus dem Jahr 1984 in deutscher Erstübersetzung
Mag es auch typische Klappentext-Prosa sein, so bezeichnete der Cyberpunk-Wortführer und SF-Autor Bruce Sterling seinen nur unwesentlich jüngeren Kollegen Neal Stephenson einst als den "einzigen wirklichen Erneuerer" der SF. Stephenson ist in den letzten Jahren mit einer Reihe von Romanen bekannt geworden, die nicht mehr nur SF darstellen: mit "Snow Crash", "Diamond Age", mit "Cryptonomicon" und dem "Barock"-Zyklus (siehe: Die "Science Fiction" der Vergangenheit). In der Edition Phantasia, spezialisiert auf Sammlerausgaben, ist jetzt in deutscher Erstübersetzung sein Debutroman "Big U" erschienen.
Neal Stephenson ist der eigentliche Nachfolger von William Gibson in der Riege der (Post)Cyberpunk-Autoren, was die Verwendung von Ironie angeht. "Big U" aus dem Jahr 1984 deutet die Tendenz in seinem Werk schon an, Hightech und Groteskes miteinander zu verbinden. Stephenson will, wie Aussagen von ihm im Internet vermuten lassen, diesen Roman als Jugendsünde verstanden wissen, aber so schlecht ist er gar nicht. "Big U" ist eine streckenweise brillante Satire auf das Campusleben einer fiktiven amerikanischen Megauniversität, der Stephenson zudem einen Kick ins Surreale und Absurde gibt. Der Episodenroman, der an einer überdimensionierten Universität spielt, ist nur insofern SF, als einige Fehlentwicklungen geschildert werden, wie hundegroße, durch Radioaktivität mutierte Ratten, die im unterirdischen Kanalsystem der Uni ihr Unwesen treiben und schon mal einen gerade ins Rollenspiel vertieften Studenten verspeisen.
Im Labyrinth einer Megauniversität
Das Gelände dieser "Big U" weist acht fünfundzwanzigstöckige Türme auf, die vierzigtausend Studenten beherbergen. Ein Umweltkontrollsystem sorgt im Inneren für ausgeglichene Temperaturen. Die ganze Universität wirkt wie eine riesige Maschine, die auf der einen Seite junge hoffnungsvolle Studenten aufsaugt und auf der anderen Akademiker ausspuckt. Der gesamte Komplex ist ein Labyrinth, das zum Verlaufen einlädt. Es scheint naheliegend zu sein, sich anzufreunden, wenn man in den Gängen herumirrt und zufällig zur selben Zeit mit einer anderen Person auf derselben Außenseite des Gebäudekomplexes landet. Alle naturwissenschaftlichen Fakultäten sind in einem Block versammelt, der nur "Bunker" genannt wird; unter diesem liegen viele Stockwerke tief das Rechenzentrum und die Werkstätten.
Stephenson gestaltet die persönlichen Enttäuschungen, die subtilen und offenen Machtkämpfe, die alltäglichen Verstrickungen und die Absurditäten an dieser Riesen-Uni mit großem Einfallsreichtum. Die Geschichte wird erzählt aus der Perspektive des jungen schwarzen Professors Bud Redfield. Stephenson entwirft eine Geschichte des Niedergangs, der kulturellen Verrohung und des Vandalismus, die folgerichtig in der totalen Zerstörung der Einrichtung endet. Es beginnt damit, dass Redfield den Kleinkrieg der beiden Studenten Klein und Fenrick, die sich gegenseitig und ihre Umwelt mit ihren aufgemotzten und überlauten HiFi-Anlagen terrorisieren, vergebens zu schlichten sucht. Für einen der beiden wird der Streit schließlich tödlich enden.
Wir begegnen im Verlaufe der Handlung als Hauptpersonen den Studenten Sarah Jane Johnson, Casimir Rodan und Virgil Gabrielsen. Während Casimir ein naturwissenschaftlich interessierter Intelligenzler und Virgil ein Technikfreak ist, ist Sarah die Art von Hauptperson, wie man sie in einem konventionellen Campusroman erwarten würde: eine unsichere junge Frau, die sich dem Universitätsleben stellt, zwischen Anpassung und Individualisierung schwankt und neue Freundschaften finden muss. Es entspinnt sich eine subtil geschilderte lesbische Liebesbeziehung zu ihrer neuen Freundin Hyacinth. Sarah wehrt sich gegen die Vereinnahmung durch andere Studentinnen und versucht, eine eigene Haltung zu finden; allerdings muss sie sich im Laufe der Handlung noch ganz anderer Angriffe erwehren. Ihre Arbeit für den Studentenausschuss erfährt bald die notwendige Desillusionierung. Mit Sarah allein wäre der Roman eine Auseinandersetzung um Identitätskrise und Rebellion, wie sie viele aus ihrer Studentenzeit kennen werden.
Casimir Rodan ist ein intelligenter schüchterner Student, der sich ausgemalt hatte, an der Universität in eine lebendige anregende Diskussionskultur einzutauchen, aber dessen Hoffnungen natürlich enttäuscht werden. Er ist hoffnungslos in Sarah verliebt. Gelangweilt vom Studienstoff entwickelt er Eigeninitiative in Kooperation mit Virgil und bestrahlt Rattengift mit Neutronen, um es zu markieren, und kann auf diese Weise Ratten im Mensa-Essen nachweisen - was aber angesichts der fortschreitenden Zerstörung der Uni-Normalität keine Rolle mehr spielen wird. Des Weiteren beschäftigt er sich mit einem Massenbeschleuniger für den zukünftigen Einsatzzweck in der Raumfahrt. Ein Test mit einer solchen Schienenkanone verläuft erfolgreich, was zur Folge hat, dass einer der Beobachter, ein Sponsor der Uni, Casimir gleich für die Interessen seines Rüstungskonzerns einspannt, ohne dass dieser recht begreift, wie ihm geschieht und wie er seiner idealistischen Ziele verlustig geht.
Die Computerisierung als Hintergrund
Eine Besonderheit über das normale Geschehen eines vermeintlichen Uni-Romans hinaus ist, dass Stephenson geschickt die Stimmung der beginnenden Computerisierung an den Massenuniversitäten der achtziger Jahre erfasst. Ein früherer Angestellter hat vor seiner Entlassung ein Wurm-Programm im universitätseigenen Computer hinterlassen, das den Leuten, die ihn warten müssen, das Leben schwer macht. Die ersten Hacker tauchen in Rechenzentren auf, die lauter Dinge tun, die die anderen Uni-Leute nicht verstehen, und dabei zu sozialen Außenseitern werden. Virgil ist einer dieser Hacker, der seine neue Macht zu nutzen weiß und unter anderem für sich Gelder aus Forschungsetats abzweigt.
Stephenson inszeniert schnell aufeinanderfolgend ganz verschiedene Stimmungen. Casimir hat wegen einer bürokratischen Angelegenheit, die schon genügend Nerven kostet, einen Termin bei einer wissenschaftlichen Koryphäe an der Uni, die er sehr verehrt, weshalb er freudig-aufgeregt die Etage der geistigen Elite betritt - alles in ironischem Ton geschildert. Während des Gesprächs kracht plötzlich ein Klavier durch die Decke, das den Professor schwer verletzt - Studenten haben es aus Zerstörungslust aus einem der Türme geworfen. Casimir versucht verzweifelt, hausintern Hilfe herbei zu telefonieren, aber der Wachmann erwartet nur die üblichen Notrufe von drogenmissbrauchenden Studenten und reagiert dementsprechend, was zu einem absurden Dialog führt.
Und der allgemeine Wahnsinn nimmt seinen Lauf. Erst wird der Katalog der Bibliothek gestohlen, wonach ein flotter Handel mit Hinweisen auf den Verbleib der Bücher entsteht. Aus einer Essensschlacht im Mensasaal entwickelt sich ein regelrechter Kriegszustand, in dem ein selbstgebauter Panzer durch die Gänge fährt. Die Fronten werden schnell unübersichtlich: seltsame Allianzen zwischen vandalierenden Studenten, den sogenannten "Terroristen", und sektiererischen Gruppierungen entstehen. Die "Terroristen" treiben ihren Vandalismus besonders bunt, was schon lange nicht mehr komisch ist: Sarah wird LSD in einen Drink gegeben, ihre Wahrnehmung wird übersteigert - eine literarisch höchst gelungene Szene - und sie wird beinahe vergewaltigt. Ihre Freundin Hyacinth hat eine Waffe, stürmt das Zimmer und macht kurzen Prozess mit dem Anführer der Gang. Der Tote, der aus dem Fenster stürzt, fällt nur bei den allgemeinen Unglücksfällen gar nicht mehr auf, und der Untergang von Big U setzt sich fort.
Als zynischen Witz inszeniert Stephenson übrigens die Ursache, die die Ratten hat mutieren lassen: die Verwaltung der Universität hat dabei besondere Kreativität bei der Erschließung von Finanzierungsquellen bewiesen. Mit diesem Roman lieferte Stephenson eine erste Kostprobe seines Stils, noch nicht so ausentwickelt wie in seinen späteren Büchern, aber in ersten Anzeichen erkennbar.
Neal Stephenson: Big U. Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber. Edition Phantasia, Bellheim 2004 348 Seiten EUR 55.-