Die "Science Fiction" der Vergangenheit

Neal Stephensons neues Buch The Confusion und das Metaweb zu Quicksilver

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Während wir in Deutschland immer noch recht ungeduldig auf den 1184 Seiten starken Band 1 des Barock-Zyklus Quicksilver warten (Barockes Quecksilber), den Random House/Manhattan Verlag für Oktober angekündigt hat, eröffnet Neal Stephenson den 2. Band "The Confusion" (816 Seiten, William Morrow/HarperCollins) mit einem Paukenschlag. Jack Shaftoe, der rasende Jack, der vom Londoner Gassenjunge zum sagenumwobenen König der Vagabunden aufstieg, einer der Hauptprotagonisten in Quicksilver, der uns dort leider abhanden kam, ist wieder da. Zwar versklavt und in Ketten gelegt, aber quicklebendig und wie immer mit den coolsten Sprüchen auf den Lippen. Irgendwo an einer afrikanischen Küste erwacht er aus einer Art Delirium und führt uns nach und nach in seine Geschichte ein.

The Confusion liegt in den USA seit Mitte April vor und wurde dort, wie üblich, mit großem Trara und einem schönen Interview in Stephensons Hauszeitschrift Wired eingeführt. Der (ehemalige) Science-Fiction-Autor, der sich mit Werken wie Snowcrash, Diamond Age und zuletzt Cryptonomicon (The Course of the Empire Takes its Way) in die Herzen der Cyberspace-Community eingeschrieben hat, hielt also sein Versprechen, immer sechs Monate nach dem Erscheinen des Vorgänger-Bandes ein neues Buch abzuliefern. Folglich müsste der 3. Band des Barock-Zyklus The System of the World, in den USA Ende Oktober/Anfang November dieses Jahres erscheinen. Damit würde er sich in die Annalen der Literaturgeschichte einschreiben, während der harte Zeitplan Stephensons "epische" Breite nicht einzuschränken scheint.

The Confusion umfasst die Zeitspanne von 1689-1702 und Stephenson hat seinen Roman in zwei "Novellen", wie er es nennt, unterteilt: Bonanza (die Goldgrube) und Juncto (die Kreuzung, die Verbindungsstelle). Während Bonanza im gesamten arabischen Mittelmeerraum bis tief hinein nach Afrika spielt und die Geschichte von Jack Shaftoe, seiner bunt zusammen gewürfelten Piratengang und einem sagenhaften Goldraub erzählt, spielt Juncto hauptsächlich in Frankreich, England, Holland und Deutschland. Das ist nicht nur die Zeit, in der die Hochzeit des französischen Sonnenkönigs Ludwig des XIV. mit seinem gewaltigen, 4.000 Menschen umfassenden Hofstaat in Versailles stattfindet, sondern auch die Thronzeit des englischen Königs Wilhelm III. von Oranien (freiheitlich-protestanisch, seit 1672 Statthalter und Oberbefehlshaber der Niederlande) in Großbritannien. Es ist die Hochzeit des Merkantilismus, in Frankreich durch den Generalkontrolleur der Finanzen Jean Baptiste Colbert und seine "Steuerreformen" verkörpert, in England u.a. durch die Gründung der Bank von England, die stetige Staatsverschuldung und den gleichzeitigen wirtschaftlichen Aufschwung zur dominierenden europäischen Handelsmacht. Es ist aber auch die Zeit der englischen "Bill of Rights", eines blühenden Kunst- und Kulturlebens und dem Begreifen der Welt aus einer naturwissenschaftlichen Sicht. Hinzu kommen natürlich die Bemühungen der europäischen Staaten, "Kolonien" zu erobern, zu besetzen, zu erschließen und zu verteidigen - ganz besonders das heutige Amerika.

In diesem explosiven europäischen Spannungsfeld, das von unzähligen großen und kleinen Kriegen durchzogen ist, bewegen sich die Helden der Geschichte Juncto: Der Wissenschaftler, Puritaner und Kryptograph Daniel Waterhouse, der Codebrecher des französischen Königs Bonaventure Rossignol, der Kapitän Jean Bart, die Universalgelehrten Isaac Newton und Gottfried Leibniz und Eliza, die von Jack Shaftoe in Quicksilver aus einem türkischen Harem befreit wurde und es inzwischen zur Gräfin von Zeur und Herzogin von Qwghlm geschafft hat.

Eliza ist überdies die tragende Figur in Confusion. Mit anderen Worten: Neal Stephenson, der Vorzeige-Science-Fiction-Autor, der längst in der Vergangenheit angekommen ist, hat in weiten Teilen auch einen sehr schönen "Frauenroman" geschrieben. Eliza ist es, die die Fäden zwischen London und Versailles in den Händen hält, die Zugang zur Holländischen Börse und dem Geld-Handelsplatz Lyon hat, die mit Leibniz ebenso korrespondiert wie mit dem deutschen Banker Lothar von Hacklheber oder mit Jacks Bruder Bob Shaftoe schläft. Sie ist es, die intrigiert, Pläne ausheckt, den Kopf ihres ehemaligen Sklavenhändlers geschenkt erhält, heiratet, Kinder bekommt, Menschen zusammenführt und diese wieder trennt.

Im Gegensatz zu Quicksilver, das erst im letzten Drittel an Tempo gewinnt, beginnt Confusion nicht nur rasant, sondern treibt die Handlung auf allen Ebenen gnadenlos voran. Ein Schatz an Geschichten, Personen, Handlungen und Verknüpfungen, spannend bis zum Anschlag! Einzig das alte Ego von Stephenson, der undurchsichtige, aber sympathische Enoch Root, dem schon in Cryptonomicon die Schlüsselrolle zufiel, gibt sich in The Confusion äußerst zurückhaltend.

Inzwischen arbeiten Stephenson und etliche andere Autoren fleißig weiter an ihrem Metaweb. Dort gibt es im Moment 652 Beschreibungen, Erläuterungen, Erklärungen usw. von und zu Helden, Figuren, Orten, Handlungen oder Begriffen aus dem Roman Qucksilver. Man kann zum Beispiel nach dem merkwürdigen Ort "Qwghlm" suchen, aus dem unsere Lieblingsfigur Eliza stammt, und wird dann darüber aufgeklärt, wo der fiktive Ort in ungefähr liegen könnte.

Eingebettet ist das Metaweb, ursprünglich eine Idee von Danny Hillis, in die freie Web-Enzyklopädie Wikipedia, die im englischen Original bereits über 300.000 und in der deutschen Fassung über gut 100.000 Stichwörter verfügt. Und das ist eine geradezu geniale Idee. Denn in Wikipedia gibt es schon ellenlange Artikel zu "Newton", "Leibniz" usw., die niemand mehr neu erfinden muss, aber tragende Figuren in Quicksilver sind.

Das Quicksilver-Metaweb erreicht so gleich mehrere Dinge auf einmal. Erst einmal zeigt es, wie eine vorhandene, frei verfügbare Enzyklopädie in ein hochaktuelles Thema eingebunden werden kann und damit in der Öffentlichkeit wahrnehmbar wird. Dann kann es natürlich Interessenten zu dem Buch führen, dem eigentlichen Quicksilver-Leser selbst bietet es viele Erklärungen, die nicht selbstverständlich sind (wer war noch einmal Robert Hooke bzw. Boyle?), er kann sein Wissen vertiefen und sich auch aktiv am Prozess des Metaweb beteiligen. Und: Das Thema wird im Medium Web, über das sich viele informieren, extrem tief verankert. Alle, die sich in den Verlagen mit dem Entdecken von "Bestsellern" mühen, sei diese Website als Beispiel für eine ebenso sinnvolle wie gelungene Webumsetzung und -einbindung eines Buches empfohlen.