Der eingebildete Makel

"Frauen können keine Mathematik" - dieses Stereotyp bewahrheitet sich immer wieder. Allerdings nur, solange die Frauen daran glauben. Das zeigt eine aktuelle Studie.

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Als Lawrence Summers, der damalige Präsident der Universität Harvard, Anfang 2005 auf einer Konferenz über „Frauen und Minderheiten in den Ingenieurs- und Naturwissenschaften“ darüber spekulierte, warum Frauen in den Spitzenpositionen der Naturwissenschaften so unterrepräsentiert seien, hat er auch jenen inzwischen berühmt-berüchtigten Satz geäußert, wonach Frauen die inhärente Befähigung fehle, in diesen Fächern so erfolgreich wie Männer zu sein.

Ein weiteres Mal wurde damit von höchster wissenschaftlicher Stelle jenes alte Vorurteil bestätigt, das ganze Generationen von Mädchen und Frauen durch Schule und Studium begleitet hat: Frauen können keine Mathematik, und das scheint irgendwie biologisch bedingt. Als Beweis tauchen in den einschlägige Debatten immer wieder ähnliche Argumente (Frauen können rechnen) auf: Etwa dass das Gehirn der Männer um rund zehn Prozent größer ist als das der Frauen; dass deren Gehirn im Alter von elfeinhalb Jahren seine Maximalgröße erreicht, während es bei Jungen bis zum 15 Lebensjahr wächst etc., pp..

In der aktuellen Ausgabe von Science (Vol. 314 vom 20. Oktober 2006) gehen die Psychologen Ilan Dar-Nimrod und Steven J. Heine von der University of British Columbia in Vancouver das Thema von einer anderen Seite an. Sie suchen nicht nach einer genetischen Veranlagung – etwa einem Mathe-Gen. Sie verfolgen den Ansatz des „stereotype threat“, nach dem Mitglieder einer sozialen Gruppe genau die Verurteile erfüllen, die die Außenwelt an sie heranträgt.

Erst kürzlich hatte sich eine andere Science-Studie (Schulaufsätze gegen Rassenvorurteile) damit beschäftigt, wie afrikanische Amerikaner das Vorurteil, sie seien dumm, in ihren schulischen Leistungen beeinflusst. Dar-Nimrod und Heine wollten nun wissen, ob es sich mit dem Verhältnis von Frauen und Mathematik ebenso verhält. Sie wollten herausfinden, ob Frauen Mathematikaufgaben anders lösen, wenn sie den Geschlechterunterschied für genetisch bzw. wenn sie ihn für sozial bedingt halten.

Mathematik mit Einlage

Im Zeitraum von 2003 bis 2006 luden die beiden Psychologen mehr als 220 Universitätsstudentinnen im Alter von zirka 20 Jahren zu einem ganz besonderen Test ein. Er bestand aus zwei Abschnitten mit eher anspruchsvollen Mathematikaufgaben, die von einem Essay unterbrochen wurden: In einem wurden die unterschiedlichen Mathematikleistungen der Geschlechter auf genetische Ursachen (G-Gruppe) zurückgeführt, in einem anderen auf unterschiedliche soziale Erfahrungen (E-Gruppe). Zwei weitere Kontrollgruppen bekamen Aufsätze darüber zu lesen, dass es keine mathespezifischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt (ND-Gruppe) bzw. es wurde allgemein über Geschlechtsunterschiede diskutiert, ohne das Mathematik-Stereotyp zu erwähnen (S-Gruppe).

Die Auswertung der Mathematikaufgaben ergab eindeutig, dass die Probandinnen der E- und der ND-Gruppe besser abschnitten, während die S- und die G-Gruppe ähnliche Leistungen zeigten:

Diese Untersuchungen zeigen, dass sich der „stereotype threat“ bei den Leistungen der Frauen ausgleichen bis reduzieren lässt, wenn sie mit Berichten über den Ursprung dieser Vorurteile konfrontiert werden. Aus Gewohnheit glauben viele Leute, dass einige Geschlechtsunterschiede genetisch bedingt sind, außer wenn sie ganz direkt mit sozialen Argumenten konfrontiert werden. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass Menschen genetische Erklärungen als so mächtig und geradezu unumstößlich akzeptieren, dass sie zu sich selbst erfüllenden Vorhersagen werden. […] Empirische Untersuchungen jedoch erlauben den Frauen zu sagen, dass dieses Stereotyp nicht auf sie zutrifft

Ilan Dar-Nimrod und Steven J. Heine

Mehr empirische Forschung

Offen bleibt damit immer noch, warum Männer und Frauen unterschiedliche Leistungen in Mathematik zeigen und ob die Gene dabei womöglich doch eine Rolle spielen. Aber allein den Hinweis darauf, dass die Erbanlagen eine Rolle spielen könnten, halten die beiden Psychologen für verhängnisvoll. „Wir sollten aufmerksam verfolgen, wie wissenschaftliche Ergebnisse interpretiert werden. Das gilt besonders für genetische Erklärungen. Man denke nur an die häufig grob vereinfachten Mediengeschichten über das Gen für Homosexualität oder die Gene für Fettsucht“, mahnt Dar-Nimrod. Beide Wissenschaftler fordern daher dringend mehr empirische Forschung über die biologischen Grundlagen intellektueller Leistungen.

Lawrence Summers ist seine Rede im Übrigen nicht gut bekommen: Vielleicht wollte er nur ein bisschen provozieren und eine ernsthafte Diskussion in Gang bringen, doch der Schuss ging nach hinten los. Nachdem ihm die Mitglieder der Fakultät „Arts and Sciences“ bereits im vergangenen Jahr das Misstrauen aussprachen, hat er im Februar 2006 seinen Rücktritt eingereicht.