Der entschleunigte Domino-Effekt
Bush Jr. im Schlammbad, Phantasmen der globalen Vernetzung und die Distanz zwischen New Orleans und Bagdad
Ihm steht das Wasser sprichwörtlich bis zum Hals. Er schaut verwirrt drein. Presst die Lippen zusammen. Ist ratlos. So zeigt das US-Magazin The Nation George W. Bush auf dem Cover. Ähnlich rückte neulich schon das Süddeutsche Zeitung Magazin Gerhard Schröder ins Titelbild und im Heft dann auch andere Staatslenker, deren In-Bedrängnis-Geraten wohl kaum treffender als mit sommerlichen Badefotos illustriert werden konnte. Schließlich sind auch sie meistens in Situationen gezeigt worden, in denen ihnen das Wasser bis zum Hals steht.
Bei dem Bush-Portrait handelt es sich jedoch um mehr als eine ironische Fußnote zur politischen Narration. Das Wasser hat längst nicht nur seinen Hals, sondern auch schon sein Kinn erreicht. Es hat sich als morastige Schlammasse über seinem Haupthaar und seiner Stirn verteilt; lässt ihn als Kämpfer mit Kriegsbemalung erscheinen oder einfach nur als Verlierer eines sado-masochistischen TV-Formats, bei dem die Teilnehmer eines Hindernislaufs stets zum Scheitern verurteilt sind. Wäre Bush Jr. nicht besser beraten gewesen, auf die Teilnahme zu verzichten?
Das „The Nation“-Cover lenkt die Aufmerksamkeit unmissverständlich auf den Kopf des US-Präsidenten – das vermutlich mysteriöseste Körperteil unserer Zeit. Was geht darin wohl vor? Wie sieht es darin aus? Und wie ist der Innenraum konstruiert? Alles Fragen, die Verständnis- und Fassungslosigkeit gegenüber seinen Entscheidungen und seiner Weltanschauung zum Ausdruck bringen. Und wenn „The Nation“ auf diese Fragen eine Antwort hat, dann weil es deutlich zum Ausdruck bringt, was in dem Politikerkopf nicht vorgeht. Was in seinem Gehirn keinen Platz hat. Nicht berücksichtigt wird. Was die Kapazität seines Rechners offensichtlich übersteigt. Der über seinem Kopf angebrachte Titel der Oktober-Ausgabe macht klar, worum es sich dabei handelt: „Connecting the two disasters“.
Gemeint sind die Katastrophe im Irak und die Katastrophe in den Südstaaten der USA ( Our Two Gulf Crises). Ist es nicht offensichtlich, dass beide miteinander zusammenhängen? Hätten die Soldaten, die in Bagdad zum Einsatz kommen, in New Orleans nicht Leben retten können? Hat sich Bush im Irak nicht so sehr festgebissen, dass ihm der Überblick über die Probleme im eigenen Land abhanden gekommen ist? Selbst die Boulevard-Blätter haben diese rhetorischen Fragen als Aussagesätze auf die Titelseiten gebracht. Was den derzeit wohl unbeliebtesten Politiker weltweit diskreditiert, muss auf seine Logik nicht hinterfragt werden. Und wurde es bislang auch nicht. Es wurde allenthalben herausposaunt, also kann es nur wahr sein. Doch was steckt eigentlich hinter dieser Argumentationslinie?
Domino: Effekt und Theorie
Bei der Debatte um die zwei Golf-Krisen, also jene am Golf von Mexiko und jene im Irak – werden zwei Orte und zwei Probleme auf eine Ursache zurückgeführt. In diesem Zusammenhang ist es das kranke Hirn des US-Präsidenten. Was freilich eine polemische Zuspitzung ist und die Sachlage unzulässig vereinfacht. Differenzierter gesprochen liegt dieser Argumentationslinie eine Annahme zu Grunde, die in der gegenwärtigen Phase der Globalisierung weit verbreitet ist: Die allumfassende Vernetzung hat den Planeten schrumpfen lassen; auch wenn ein tiefer Graben zwischen den Welten zu bestehen scheint, die Erste und die Dritte Welt sind unmittelbar miteinander verbunden.
Eine angemessene Beschreibungsebene bietet der Domino-Effekt – wohlgemerkt in einer rasant beschleunigten Version. Wenn Räume schrumpfen, dann auch die Einheiten auf der Zeitachse. Der zeitliche Abstand zwischen dem Kippen des ersten Dominosteins (sagen wir Vorfälle in Bagdad) und dem Fall des letzten (beispielsweise damit zusammenhängende Vorfälle in New Orleans) wird wie durch einen Zeitraffer um ein Vielfaches verkürzt. Die Verkehrsnetze für virtuelle und materielle Gegenstände sind derart gut ausgebildet, dass die Distanz zwischen den beiden Dominosteinen nahezu wettgemacht ist – oder auf eine direkte Verbindung zwischen ihnen reduziert zu sein scheint. Im Fall von New Orleans und Bagdad scheint die Übertragung sogar simultan stattzufinden, allein die Sichtbarwerdung des Effekts tritt verzögert ein.
Wenn das Kippen und Fallen der Steine tendenziell immer auch negative Vorstellungen von Nivellierung von Widerstand, Zerstörung, etc. evoziert, so nimmt es nicht Wunder, dass mit dem Domino-Effekt zahlreiche negative Visionen konnotiert werden. Bedrohungsszenarien, die Sicherheitsfanatiker an die Wand malen. Bilder des Untergangs, die von Globalisierungskritikern beschworen werden, um eine Verbesserung der Welt, sprich: eine Verbesserung der Netze einzufordern. Das „The Nation“-Cover reiht sich bei den dystopischen Auslegungen des Domino-Effekts scheinbar nahtlos ein. Allein die dunkle Farbwahl haucht dem Motiv die Atmosphäre des Untergangs ein. Der Himmel hätte einen Horizont der Hoffnung eröffnen können, aber auch er hat sich zugezogen. Schwarze Rauchschwaden ziehen über ihn hinweg und versperren den Blick auf ein besseres Morgen.
Trotz allem birgt das Motiv ein Moment der Erlösung in sich und setzt das Modell des Domino-Effekts auf einen neuen Boden. Was also ist neu? Worin weicht es in seiner symbolischen Rhetorik von den Vorläufern ab?
Stillstand des total vernetzten Planeten
Viele der dystopischen Auslegungen des Domino-Effekts gehen auf den Kalten Krieg zurück. Damals entstand beispielsweise im Westen die Modellvorstellung über die fortschreitende Ausbreitung des Kommunismus. So wie bei einer Reihe senkrecht hintereinander stehender Dominosteine der Fall eines einzigen den Sturz der ganzen Reihe bewirkt, so ziehe der kommunistische Umsturz in einem Land in der Folgezeit weitere in den Nachbarländern nach sich. Die so genannte „Dominotheorie“ diente oft als Begründung des US-amerikanischen Engagements im Vietnamkrieg. Heute dient sie dem US-Präsident als Argument beim Krieg gegen den Terror. Letzte Woche etwa beantwortete er die Frage nach dem Rückzug aus dem Irak mit einem dominotheoretischen Schreckensszenario: Sollte sich die USA aus diesem Land zurückziehen, dann entsteht ein islamistisches Imperium, das von Spanien bis nach Indonesien reicht (Im Auftrag der Geschichte – oder Gottes?)
Spätestens Ende des 20. Jahrhunderts beginnen sich die düsteren Szenarien, bei denen die Dominotheorie Verwendung findet, zu vervielfältigten. Als beispielsweise im Tokio der 1990er Jahre ein gigantisches Erdbeben erwartet worden ist, überschlugen sich die Spekulationen darüber, was für Konsequenzen die Zerstörung der japanischen Hauptstadt für die Welt haben würde. War es nicht unumgänglich, dass die Banken der Global City mit dem Rest der Stadt untergehen und auf diese Weise das globale Finanzsystem an den Rand des Abgrunds stoßen würde? Freilich, im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung hat der Kapitalverkehr seine Transportwege längst in Telefonleitungen gefunden. Wenn Tokios Banken alle im Zentrum der Stadt und damit im Epizentrum eines Bebens lagen, deren Wucht bereits in den 1920er Jahren die gesamte Stadt in Schutt und Asche gelegt hatte, dann konnte das im Zeitalter totaler Vernetzung tatsächlich nur böse Folgen im Weltmaßstab haben.
Da Informationsnetze im Allgemeinen zusehends größere Bedeutung gewonnen haben, kündigt sich der Untergang der Nation oder der gesamten Welt in den Untergangsszenarien der kollektiven Vorstellung gerne auch mal über einen Stromausfall oder in Umlauf gebrachte Computerviren an. Hollywoodfilme erzählen diese Geschichte auf die unterschiedlichste Art und Weise immer wieder neu. Das erste Filmbeispiel, das einem dazu einfällt, ist sicherlich nicht „Alien“ (1978), aber selbst dieser Klassiker lässt sich in diesem Zusammenhang lesen. Entfaltet das fremde Wesen seine Gefährlichkeit nicht über das Schacht[i]system[i] des Mutterschiffs? Angriffe auf die Netze und Systeme, die mittlerweile das Skelett der Erde darstellen, ziehen die Erstarrung der Welt wie wir sie kennen nach sich. Bringen sie zum Stillstand. Das haben auch die Anschläge vom 11. September gezeigt. Bekanntlich stürzten nicht nur Hochhäuser ein, sondern die Sehgewohnheiten von global verstreuten TV-Zuschauern.
Im Grunde bedient sich auch die Globalisierungskritik der Dominotheorie. Den freien Markt in Länder der Dritten Welt einzuführen, bedeute Ungleichheit und Ausbeutung zu exportieren. Die Verschuldung und Verarmung der Dritten Welt sei das Produkt unseres neoliberalen Systems. Noch allgemeiner könnte man sagen, dass alle großen Probleme der Welt (Welthunger, Global Warming, etc.) als Produkte eines Domino-Effekt s beschrieben werden. Doch wenn das geschieht, dann nicht selten mit Gedanken im Hinterkopf, den Spieß irgendwann auch mal umzudrehen. Warum sollte man den Domino-Effekt der fortgeschrittenen Globalisierung nicht für positive Zwecke nutzen können? Warum sollte die totale Vernetzung der Welt nicht auch Schleusen und Kanäle für die Lösung von Problemen eröffnen?
Die Dominotheorie neu denken
Diesen Gedanken dürften auch die Gestalter des besagten „The Nation“-Covers nachgehangen haben. Wenn man es sich noch einmal genauer anschaut, wird darin das Szenario des dystopisch kodierten Domino-Effekts umgepolt. Bagdad und New Orleans sind im Hintergrund des Bildes zusammengerückt und erscheinen wie zwei benachbarte Küstenstädte, die zusammengewachsen sind. Dabei muten die grauen Wolkenkratzer der amerikanischen Stadt und die Kuppelbauten der irakischen Metropole wie Bestandteile eines urbanen Kontinuums an, das sich von einem modernen Zentrum bis in eine orientalische Altstadt erstreckt. Handelt es sich bei dieser Vision nicht um die Zukunft von Bagdad in der Vorstellung von George W. Bush, der vor dieser Kulisse baden gegangen ist? Vermutlich ja. Keine Vermutung ist jedoch, dass das Bad für den Kaiser überraschend bösartig ausgefallen ist. Man kann den unangenehmen Gestank seiner Kopfglasur förmlich riechen.
Als perfektes Motiv für das Pantheon der Satire legt das Cover vor allem eines nahe: Die Verkürzung des Domino-Effekts auf zwei Steine, symbolisiert durch die Architektur von New Orleans und Bagdad, schafft eine untragbare Situation. Die Golfküste ist in der siamesischen Version ungenießbar. Um dieser Überkatastrophe zu entrinnen, muss Bush Jr. an seiner Badestelle eine Grenze ziehen. Anders gesagt: Damit die beiden lokalen Probleme als zusammenhängendes Ganzes entsprechend behandelt werden, müssen aus einem Golf wieder zwei werden. Die USA müssen von der Idee Abschied nehmen, dass der arabische Golf ihr Vorhof ist. Die Welt mag kleiner geworden sein, okay. Amerika ist in dieser kleinen Welt eine einsame Macht, auch das ist nicht von der Hand zu weisen. Aber Washington muss eine Sache ganz klar erkennen: Mögen dem US-Imperium unter diesen Umständen die geo-politischen Räume als fließend-grenzenlose Konkursmasse erscheinen – bei dem Irak handelt es sich keineswegs um amerikanisches Gebiet.
Das visuelle Lösungsangebot des „The Nation“-Covers besteht darin, die zeitgenössische Version des Domino-Effekts zu entschleunigen oder, anders gesagt: Distanz zu schaffen zwischen dem ersten und dem letzten Stein, der fällt. Den Weg zu vergrößern. Damit aber auch die Zeitspanne. Die Produktion von Entfernung, die diesem Bild implizit zu Grunde liegt, ist eine überraschende Wendung, nimmt es sich auf den ersten Blick doch ein wenig unsolidarisch aus: Die Zurückweisung von Nähe, die Reaktivierung von Grenzen, der Rückzug von Beteilung im Krisengebiet. All das kann aber auch anders gelesen werden. Denn wenn hier die lange Wegstrecke des Domino-Effekt s aufscheint, dann entpuppt sich nicht zuletzt die Idee des schrumpfenden Planeten als Phantasma. Bei wirklich gravierenden Problemen werden die Wege auf der Erde eben nicht wirklich kürzer.