Der ganz normale Antisemitismus

Seite 3: Leszczynskis "Bilanz der Ausrottung"

"In Europa gibt es praktisch keine jüdischen Kinder unter zehn Jahren mehr", schrieb Jakob Leszczynski in seiner "Bilanz der Ausrottung" (Bilan de l'extermination), das war im Juni 1946. Im Laufe von sechs Jahren, 1939 bis 1945, war über ein Drittel des Weltjudentums vernichtet worden. In seiner Studie führt Leszczynski Statistiken an, die auf Nachforschungen des New Yorker Instituts für jüdische Probleme fußen. Die Bilanz des "Ausrottungsfeldzugs gegen die europäischen Juden" gliedert der Autor auch nach Ländern.

In ganz Hitler-Europa - von Russland bis zum Atlantikwall, vom Nordkap bis nach Griechenland – wurden sie verfolgt und vernichtet. "Man jagte sie einzeln oder in Massen, Gemeinden und Familien, Männer, Frauen oder Kinder – die Alten und die Jungen."5

Das "Gute" verkörperte sich im blonden, blauäugigen Menschen, von dem alle kulturschöpferische, staatenbildende Kraft ausgehen sollte; gegenüber der "Welt des Untermenschen" forderten Hitlers Schergen schärfste Maßnahmen. In Himmlers Vorstellungswelt etwa tobte ein Kampf zwischen den Mächten des Guten und einer jüdisch-bolschewistischen Verschwörung. In mehreren Ländern Zentral- und Osteuropas wurde nicht nur die Familie und Gemeinde, sondern die gesamte Struktur jüdischen Lebens vernichtet.

So ist eine Spur nachzuweisen, die von den judenfeindlichen Dekreten des Mittelalters über Luthers Ausfälle bis nach Auschwitz führt. Verfechter einer "deutsch-christlichen" oder "christdeutschen" Weltanschauung hatten seit dem 19. Jahrhundert auch eine "Germanisierung des Christentums" gefordert. Im Mai 1939 gründeten elf evangelische Landeskirchen in Eisenach das berüchtigte "Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben".

Hier begibt sich das Lutherhaus Eisenach aktuell auf Spurensuche. In einer Sonderausstellung erläutert das Lutherhaus die Entstehung und Tätigkeit des "Entjudungsinstituts", wie es kurz genannt wird. Und beleuchtet dabei auch den mühsamen Weg einer historischen Aufarbeitung.

Vom Umbau des Menschen

Und es bleibt mühsam. Neuere Erhebungen unterscheiden klassischen Antisemitismus, sekundären Antisemitismus ("Schlussstrich-Mentalität") und israelbezogenen Antisemitismus. "Juden haben zu viel Einfluss" meinen immerhin rund 15 Prozent der Deutschen. 55 Prozent äußern Ärger darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten würden.

Auf das heutige Israel bezogen, sagen 28 Prozent, bei der Politik, die Israel mache, könnten sie gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat; 40 Prozent finden gar, Israel führe einen Vernichtungsfeldzug gegen die Palästinenser.

Hier ist Unterscheidungsvermögen gefragt. Reflexion statt Reflex.

Kommen wir noch einmal zur aktuellen Ausgangslage. Der Krieg in Nahost zwischen Israel und der Hamas in diesen Tagen zeitigt unmittelbare Folgen für unser Zusammenleben in Deutschland. Er heizt die Gemüter auf. Deutschlandweit kommt es zu antisemitischen Vorfällen. Vor Synagogen werden israelische Flaggen angezündet, Polizeischutz wird verstärkt. Es werden Transparente gezeigt, auf denen der Holocaust relativiert wird. Der Deutschlandfunk schreibt:

Jüdische Einrichtungen gleichen Hochsicherheitstrakten, jüdische Eltern überlegen sich gut, auf welche Schule sie ihre Kinder schicken. Und nicht wenige sitzen - mindestens in Gedanken - auf gepackten Koffern.

Stellungnahmen aus der Politik klingen seltsam stereotyp, die üblichen Phrasen sind kaum je realhistorisch rückgekoppelt. Der Versuch einer Antwort auf antisemitische Hetze fällt im allgemeinen legalistisch aus; an den inneren Kern eines fatalen "Deutschtums" rührt er jedenfalls nicht. Ein Blick in die (eigene) deutsche Geschichte könnte insofern nicht schaden. Nebenbei gesagt: Hierzulande existiert auch noch viel bornierte, zum Trauern unfähige Gefühls- und Bewusstlosigkeit. Und es existiert, auch in "aufgeklärten" Kreisen, die verbreitete Schlussstrich-Mentalität gegenüber 1939 bis 1945.6

Yaacov Ben-Chanan hinterließ auf der internationalen Tagung "Befreiung von Auschwitz - eine Herausforderung 50 Jahre danach" im Februar 1995 in Görlitz einen beklemmenden Einblick in die persönlich erfahrene Realität.

In einem Schülerlager auf dem Lande, dessen Insassen – alles Jungen – Schanzarbeiten für die Wehrmacht zu leisten hatten, "entdeckte" ihn ein Sanitätsfeldwebel, der zum Lagerkommando der deutschen Wehrmacht gehörte, als Juden. "Fortan", so Ben-Chanan in einer autobiografischen Skizze, später veröffentlicht in den Kasseler Semesterbüchern7 "war ich der sadistischen Gewalt dieses Mannes ausgeliefert".

Er schildert den Lageralltag aus dem Jahr 1943 so:

Ich musste immer, wenn ich zu meinem Peiniger kam, dem ich ganz allein ausgeliefert war, ein Kind von vierzehn Jahren, ein dreigliedriges Sprachritual durchmachen. Das ging wie im Katechismus: Was bist du? Ich bin ein Jude. Und was ist ein Jude? Ein Jude ist eine Laus. Und was macht man mit einer Laus? Man knackt sie. Und dann "knackte" der Peiniger die Laus, die vor ihm stand - auf eine Weise, die nicht zu beschreiben ist, etwa zweimal in der Woche, viele Monate lang.

Es war vor allem die Zerstörung des Menschen im Juden. Es war der Umbau des Menschen zur Laus.

Yaacov Ben-Chanan

"Nazi-Propaganda melden" kann man übrigens hier.

Zum Online-Kurs "Digital gegen Antisemitismus" geht es hier. Er ist an Lehramtsstudierende, Lehrkräfte und Interessierte gerichtet. Der Kurs wurde von der Kölner Uni mit Unterstützung der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit als Offene Bildungsressource (Open Educational Ressource, OER) konzipiert.

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