Der gerahmte Putschist
Vor 70 Jahren fiel der Austrofaschist Engelbert Dollfuß einem NS-Putsch zum Opfer. Die konservative ÖVP arbeitet an seiner Rehabilitierung als Märtyrer im Kampf gegen Hitler
Wenn ein blutiger Diktator den Machenschaften eines anderen, ungleich blutigeren zum Opfer fällt, macht ihn das schon zum Märtyrer? Darf man diesem Zerstörer der Demokratie in den Hallen des Parlaments, das er selbst einst abgeschafft hat, gar ein Denkmal in Form eines Ehrenporträts setzen? Österreichs regierende Konservative haben da weder Zweifel noch Skrupel und huldigen ihrem Parteiahnen Engelbert Dollfuß auch 70 Jahre nach seiner Ermordung am 25. Juli 1934.
In den Augen der ÖVP gebührt Dollfuß' Experiment eines katholischen Konkurrenzfaschismus nicht Verdammung, sondern Applaus: Der christlichsoziale Kanzler habe eine Abstimmungspanne im Parlament im März 1933 nur deshalb dazu genützt, die Volksvertretung zu entmachten, um sich Hitlers Griff nach Österreich bzw. dem Aufstieg der NSDAP mit allen Mitteln - mit Notstandsgesetzen, Standrecht und Todesstrafe - entgegenzustemmen.
Als erstes Opfer der NS-Expansion habe er deshalb Ruhm und Respekt verdient. Doch dass er sich hierbei nicht nur als Feind der Nazis, sondern vor allem auch als erbitterter Feind der Demokratie erwiesen hatte, fällt im Schatten seines "Patriotismus" einfach unter den Tisch. Mit Rückendeckung Mussolinis hatte Dollfuß der Alpenrepublik ein autoritäres Regime übergestülpt und den Staat auf berufsständischer Grundlage umgemodelt.
Sein Abwehrkampf gegen Hitler war in Wirklichkeit ein Zweifrontenkrieg, der Österreich nicht bloß der einzigen Chance beraubte, der NS-Aggression ein breites Bollwerk aller demokratischen Kräfte entgegenzustellen, sondern in der Ausschaltung von Parlament und Arbeiterbewegung zu einem Gutteil bereits das Geschäft der Nazis erledigte. Ins "Anhaltelager" Wöllersdorf steckte der Diktator nämlich Regimegegner jedweder Couleur: nicht nur Nationalsozialisten, sondern vor allem auch Kommunisten und Sozialdemokraten.
Bürgerkrieg (12. Februar 1934) und "Juliputsch" (25. Juli 1934)
Nach der Lahmlegung des Parlaments am 4. März 1933 begann das Dollfuß-Regime, die Opposition Schritt um Schritt zu drangsalieren. Die Nazis überzogen daraufhin das Land mit einer Terrorwelle; die Sozialisten hingegen versuchten, jede Eskalation zu vermeiden - und schreckten sogar davor zurück, auf die Auflösung des Parlaments mit einem Generalstreik zu antworten. Selbst bei dem unkoordinierten und aussichtslosen Widerstand, der schließlich am 12. Februar 1934 in den Industriezonen Österreichs aufflammte und mit Panzerbeschuss von Gemeindebauten grausam niedergeschlagen wurde, war die Parteispitze von der Verzweiflungstat ihrer Basis überrollt wurden.
Was bei der SPÖ als Trauma bis in die jüngste Nachkriegszeit fortwirkte, war für die ÖVP selbst nach 1945 kein Grund, ernstlich an ihrem Dollfußbild zu rütteln. Ihr historisches Selbstverständnis ist bis heute vom Propagandamythos vom "Märtyrerkanzler" als erstem Opfer Hitlers geprägt. Denn am 25. Juli 1934 stürmten 150 SS-Männer das Bundeskanzleramt und das Funkhaus in Wien. Beim Versuch, sich in Sicherheit zu bringen, wurde Dollfuß angeschossen und erlag wenig später seinen Verletzungen.
Polizei und Bundesheer brachten die Situation in Wien schnell unter Kontrolle, schon am Abend ergaben sich die Putschisten. Die Kampfhandlungen in den Bundesländern, besonders in Kärnten, Oberösterreich und der Steiermark, dauerten hingegen noch mehrere Tage an. Der dort vor allem von SA-Einheiten getragene Aufstand brach mancherorts überhaupt erst in den ersten Augusttagen zusammen. Über 2.000 Nationalsozialisten flüchteten daraufhin aus den Aufstandsgebieten über die jugoslawische Grenze.
Die Hintergründe des "Juliputsches", dem insgesamt 220 bis 270 Personen zum Opfer fielen, liegen nach wie vor im Halbdunkel; außer Frage steht aber, dass die Fäden des missglückten Aufstands (auch) von Deutschland aus gezogen wurden. Dies beweisen etwa die Aufmarschpläne jener Trupps der Österreichischen Legion der nach Deutschland geflohenen Nazis, die über die österreichische Grenze stürmten, um den Aufstand zu unterstützen (unter ihnen übrigens auch der Vater Jörg Haiders).
Märtyrer oder schmieriger Faschist
Die propagandistische Verklärung des ermordeten Diktators durch das Nachfolgeregime hat sich tief ins Geschichtsbild des katholischen Lagers eingenistet. Hinzu kommt, dass sich die Zeit vor dem "Anschluss" 1938 neben dem NS-Regime als vergleichsweise harmloses Intermezzo ausmachte und das Konsensstreben nach 1945 Bürgerkrieg und Austrofaschismus einfach dem jeweiligen Geschichtsnarrativ der politischen Lager überließ. Bestes Indiz dafür ist, dass man sich - 70 Jahre danach - noch immer nicht zu einer einheitlichen Begrifflichkeit durchgerungen hat: "Ständestaat", "Austro-" oder "Klerikalfaschismus" werden brav in Anführungszeichen gesetzt, das Wort "Diktatur" seitens der ÖVP tunlichst vermieden. Und im Parlament fängt man sich immer noch einen Ordnungsruf ein, wenn man, wie ein SPÖ-Abgeordneter, auf die - unbeanstandete - Glorifizierung Dollfuß' als "Märtyrer und Patriot" (ÖVP-Chefideologe Andreas Khol 2001) mit der Etikettierung des Kurzzeitdiktators als "schmieriger Faschist" reagiert.
Gerade in jüngster Zeit gefällt sich ÖVP immer wieder darin, wohldosierte Provokationen zu lancieren. So stellte Khol in seiner Funktion als Nationalratspräsident im Vorjahr das Parlament für eine Buchpräsentation zur Verfügung, um eine Dollfuß-Biografie vorzustellen, die wieder einmal den Mythos vom Widerstandskämpfer gegen Hitler auftischte und der Sozialdemokratie die Hauptschuld am Bürgerkrieg zuschob. Dieser revisionistischen Ehrenstunde für Dollfuß schickte Khol einen neuen Affront hinterher: Für ihn sei die Zeit von 1933-1938 sogar "die faszinierendste Zeit unserer Geschichte". Zuletzt lud der ÖVP-Abgeordnete Walter Tancsits, anschließend an eine Dollfuß-Gedenkfeier am 7. Mai 2004, zu einer Parlaments-Führung - und ließ dabei nicht unerwähnt, dass er der "Gatte der Enkelin" sei.
Nachdem die ÖVP die SPÖ mit dem Vorschlag, der Ereignisse vor 70 Jahren doch am besten an zwei Terminen - am 12. Februar und am 25. Juli - zu gedenken, vor den Kopf gestoßen hatte, fand man im Februar doch noch zu einer gemeinsamen Historikerenquete zusammen. Von "Fragen der Schuld" wollte die ÖVP freilich nichts wissen: "Wir wollen nicht analysieren, wer angefangen hat", verkündete Khol, "der, der zur Waffe gegriffen hat, oder der, der die Demokratie durch eine autoritäre, undemokratische Herrschaft ablöste."
Anlässlich von Dollfuß' Todestag hat die Regierung nun für den 26. Juli sogar eine Gedenkmesse im Marmorsaal des Kanzleramts angesetzt. Statt an historischer Selbstkritik zeigt sich die ÖVP also primär an der Rehabilitation ihres Säulenheiligen interessiert. An einer weiteren Provokation, die den Sozialisten seit Jahrzehnten die Zornesröte ins Gesicht treibt, wird sich deshalb nichts ändern: dem Dollfuß-Porträt im Parlamentsklub der ÖVP.