Der schleichende Genozid an den Kurden

Seite 2: Geschichte wiederholt sich

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Im Umgang der heutigen Türkei mit den Kurden kann man Parallelen zum Umgang mit den Armeniern ziehen: Zunächst wurden die Armenier in die Politik der Jungtürken einbezogen; sie unterstützten diese Bewegung deshalb lange, bis sie zu spät feststellten, dass sie als Feinde und Volksverräter der Vernichtung preisgegeben wurden. Nach der Vernichtung der Armenier türkisierte die kemalistische Bewegung alle armenischen Ortsnamen, wandelte armenische Kirchen in Moscheen um und löschte auch fast alle sonstigen Hinweise auf armenische Kultur.

Auch die kurdischen Stämme wurden zu Beginn der türkischen Republik in deren Politik einbezogen und auch die kurdische Sprache war zu dieser Zeit noch nicht verboten. Es dauerte aber nicht lange, und es wurden alle kurdischen Ortsnamen türkisiert.

Sehr bald lenkte Atatürk seine Aufmerksamkeit auf die Assimilierung bzw. Vernichtung der Kurden als Volk. Denn sie hatten ebenso wie vorher die Armenier auf türkischem Territorium ihre eigene Sprache und Kultur. Das passte nicht zum Motto der jungen türkischen Republik: ein Volk, eine Sprache, eine Fahne.

1925 wurde die Bezeichnung Kurde oder Kurdistan per Runderlass des Erziehungsministeriums verboten, es gab städtische Verordnungen, die den Gebrauch anderer Sprachen als das Türkische mit Geldstrafen belegten. "In einer besonders extremen Form, die vom Autoritarismus der 1930er Jahre bis zu den 1990er Jahren bestand hatte, wurde die schiere Existenz der Kurden als eigenständige Ethnie verleugnet."

Die Kurden leisten Widerstand

Im Gegensatz zu den Armeniern leisteten die Kurden Widerstand. Der Kocgiri-Aufstand 1920 war der erste Kurdenaufstand dessen Führer entsprechend dem Friedensvertrag von Sèvres noch ein unabhängiges Kurdistan forderten. 1924 begann unter Führung Scheich Sayids ein weiterer Aufstand der Kurden gegen die gewaltsame Auflösung ihrer Stammesstrukturen.

Nach wenigen Monaten schlug die türkische Armee den Aufstand nieder. Es folgten weitere Aufstände und staatliche Massaker an den Kurden wie z.B. in Zilan, 1930 ; Dersim, 1937; Kahramanmaras, 1978; Sivas 1993; Licê, 1993.

1978 gründete sich die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die militante Guerillaeinheiten aufbaute, um sich gegen Diskriminierung und Vertreibung zu wehren. Die türkische Repressionspolitik gegen die kurdische Bevölkerung trieb seither viele Kurden in die Berge, wo sie sich der Guerilla anschlossen. Als Reaktion auf den militanten Widerstand der PKK wurden in den 1980er und 1990er Jahren in den kurdischen Gebieten der Türkei über 5.000 Dörfer niedergebrannt und die Bevölkerung wurde vertrieben.

Viele Kurden wurden extralegal ermordet oder "verschwanden" einfach. Man berichtet, dass viele davon tot oder lebendig mit Helikoptern in den Bergen abgeworfen wurden. Tausende flohen in den Westen, nach Syrien oder in den Irak.

Auch heute wieder: Hinrichtungen, Verschleppungen, Bombardements

2011 starben im kurdischen Dorf Roboski in der Provinz Sirnak 34 Dorfbewohner, darunter 19 Kinder durch das gezielte Bombardement türkischer Kampfjets. Die jüngsten Massaker ereigneten sich 2016 in der kurdischen Stadt Cizre, wo das türkische Militär ganze Stadtviertel dem Erdboden gleich machte und 300 Kurden ermordete. Der Völkerrechtler Norman Paech spricht angesichts der andauernden Verfolgung der kurdischen Bevölkerung in der Türkei von einem Völkermord.

So scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Heute sind vor allem die religiösen Minderheiten der Aleviten, Eziden und Aramäer in ihrer Existenz bedroht. Dies gilt aber auch insgesamt für die Kurden, ein Volk von über 30 Millionen Menschen, das auf vier Länder aufgeteilt ist. An unrühmlicher erster Stelle der Unterdrückung steht die Türkei: So wurden z.B fast alle der ursprünglich in der Türkei beheimateten Eziden und Aramäer in den 1980er und 1990er Jahren nach Deutschland und Schweden vertrieben.

Ob in der Türkei oder in den türkisch besetzten Gebieten Nordsyriens, überall spielt sich gegen die kurdische Bevölkerung die gleiche Repression ab: kurdische Dörfer und Städte werden entvölkert, Felder niedergebrannt, Kulturvereine verboten, religiöse Stätten zerstört, die kurdische Sprache und Kultur wird aus dem öffentlichen Leben verbannt. Turkmenen und Uiguren werden in den verlassenen Dörfern angesiedelt.

Historische Stätten, die die Vorfahren der Kurden erbaut haben, werden zerstört und geplündert Auch hier gibt es wieder Parallelen zum Schicksal der Armenier: Obwohl deutsche Konsule, Priester und Forschungsreisende im Deutschen Reich vor dem drohenden Genozid an den Armeniern warnten, ignorierte die deutsche Politik die Warnungen zugunsten ihrer geopolitischen Interessen.

Heute schlägt sich die Bundesregierung wiederrum aus geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen auf die Seite der türkischen Regierung, allen Hinweisen über Vertreibungen, Folter und Morde zum Trotz.

Auch in anderen Ländern des Nahen Ostens fielen tausende Kurden Massakern zum Opfer: In Syrien enteignete die in den 1960er Jahren herrschende Baath-Partei die kurdische Bevölkerung im Norden des Landes und machte sie zu Staatenlosen. Kurden, die in Grenznähe zur Türkei lebten, wurden enteignet, umgesiedelt und durch arabische Syrer verdrängt. Die Politik der Marginalisierung wurde auch unter Präsident Hafez al-Assad (1971-2000) und seinem Sohn und Nachfolger Bashar al-Assad fortgeführt.

Im Irak ließ Saddam Hussein 1988 ganze Dörfer und Städte mit Giftgasanschlägen ausrotten. 5000 Menschen erstickten qualvoll. Die Überlebenden von Halabja und die heute gefundenen Massengräber geben Zeugnis darüber ab.

Aktuell ist die ezidische Bevölkerung besonders betroffen (Kein Ende des Völkermords an den Eziden in Sicht. Täglich gibt es Meldungen in den kurdischen Medien über Menschenrechtsverletzungen an der kurdischen Bevölkerung, besonders an der kurdischen religiösen Minderheit der Eziden in Afrin.

Warnungen über die Menschenrechtsverletzungen an der kurdischen Bevölkerung kommen in Deutschland aus allen politischen Parteien und kurdischen Organisationen, darin sind sich konservative, liberale und linke Vertreter einig.

Trotzdem werden weiterhin kurdische Vereine verboten und politisch aktive Kurden und inzwischen selbst Deutsche die mit der kurdischen Bewegung solidarisch sind, werden verhaftet und bekommen Anklagen wegen lächerlicher "Vergehen" wie dem Zeigen der YPG/YPJ-Fahne, einer Fahne, die symbolisch für den erfolgreichen Kampf gegen den IS in Syrien steht.

In Deutschland leben heute mehr als eine Million Kurden. Die meisten von ihnen stammen aus der Türkei, wo der größte Teil der kurdischen Bevölkerung lebt. Genaue Zahlen gibt es nicht, da in Deutschland nur die Staatszugehörigkeit erfasst wird, nicht aber die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe. Kurden aus der Türkei werden so zu Türken, Kurden aus Syrien zu Syrern (und damit zu Arabern), Kurden aus dem Iran werden zu Iranern, Kurden aus dem Irak werden zu Irakern.

Die "guten Kurden"

Nur bei letzteren, den konservativen Kurden des Barzani-Clans hat sich in den letzten Jahren auch in Deutschland ein neuer Sprachgebrauch langsam durchgesetzt: Man spricht von den irakischen Kurden, die von der Bundeswehr unterstützt werden. Immerhin, da wo es politisch legitim ist, geht das. Diese "guten Kurden" dürfen auch Feste wie das kurdische Neujahrsfest "Newroz" feiern, während die Organisatoren der Newroz-Feste für die aus der Türkei und Syrien stammenden Kurden der "Terrorunterstützung" bezichtigt werden.

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