Der "unprovozierte Krieg": Wenn Stoltenberg und Co. die Wahrheit über die Nato-Erweiterung sagen
Seite 2: Über einen Glaubensartikel, der uns blind macht
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Die gegenteilige Behauptung, die Invasion sei völlig "unprovoziert" gewesen, ist im westlichen Diskurs zu einem Glaubensartikel geworden und ist als Begriff in Nachrichtenberichten und offiziellen Erklärungen zum Krieg allgegenwärtig.
In ähnlicher Weise berichtet ein Artikel der Washington Post vom August 2022 – der sich auf "ausführliche Interviews mit mehr als drei Dutzend hochrangigen US-amerikanischen, ukrainischen, europäischen und Nato-Beamten" stützt –, von vier verschiedenen Fällen, in denen hochrangige russische Beamte ihren US-Kollegen im Vorfeld des Krieges sagten, dass die Nato-Erweiterung einer der Hauptgründe für Moskaus drohende Truppenaufstockung sei.
Dazu gehörte auch Putin selbst, der Präsident Joe Biden in einem Videogespräch im Dezember 2021 mitteilte, dass "die Osterweiterung der westlichen Allianz ein wichtiger Faktor für seine Entscheidung war, Truppen an die ukrainische Grenze zu entsenden", heißt es in dem Bericht.
In gewisser Weise ist das nicht überraschend. Wie Analysten, Journalisten, Politiker und andere, die auf die Nato-Erweiterung als Hauptursache für den Krieg hinweisen, ausgiebig dokumentiert haben, warnten in den Jahrzehnten vor der Invasion unzählige Mitglieder des nationalen Sicherheitsapparats in Washington – vom berühmten Strategen des Kalten Krieges George Kennan und dem derzeitigen CIA-Direktor William Burns bis hin zu einer Reihe von Diplomaten, Militärs, Nato-Chefs und sogar Biden selbst – davor, dass die Osterweiterung des Bündnisses eine wesentliche Ursache für die russische Unzufriedenheit sei, sie russische Feindseligkeit und Aggression provozieren, ja sogar einen Krieg auslösen würde.
Doch was vor der Invasion unumstritten und weithin anerkannt war, darf seit dem Beginn der Invasion im Februar 2022 nicht mehr ausgesprochen werden. Debatten oder abweichende Meinungen über den Krieg und die US-amerikanische sowie europäische Politik gegenüber dem Krieg werden unterdrückt, oft mit bösartigen McCarthy-Taktiken. Das Thema ist inzwischen tabu, es sei denn, man ist zufällig ein Vertreter der USA oder der Nato.
Es handelt sich auch nicht nur um einzelne Offizielle. Elemente dieses angeblich vom Kreml stammenden Arguments tauchen auch in wichtigen Dokumenten der US-Regierung auf. Nehmen wir zum Beispiel die jährliche Bedrohungsanalyse, die vom Direktor der Nationalen Nachrichtendienste ein Jahr nach Beginn der Invasion herausgegeben wurde.
Der Bericht, der die "gesammelten Erkenntnisse" der verschiedenen Geheimdienste Washingtons wiedergeben soll, geht davon aus, dass Moskau sich weiterhin …
in Krisen einmischen wird, wenn seine Interessen auf dem Spiel stehen, wenn die zu erwartenden Kosten gering sind, wenn es eine Gelegenheit sieht, aus einem Machtvakuum Kapital zu schlagen, oder wenn es, wie im Fall der Gewaltanwendung in der Ukraine, eine existenzielle Bedrohung in seiner Nachbarschaft wahrnimmt, die Putins Herrschaft destabilisieren und die nationale Sicherheit Russlands gefährden könnte.
Wer heute jedoch behauptet, dass Putin oder das russische Establishment die zunehmende Integration der Ukraine in die Nato tatsächlich als Sicherheitsbedrohung ansehen, muss mit allerlei skurrilen Anschuldigungen rechnen.
Ähnlich wie bei den offiziellen Äußerungen finden sich auch in Dokumenten aus der Zeit vor dem Krieg ähnliche Aussagen. In einem Papier des U.S. Army War College aus dem Jahr 2020 heißt es, dass "künftige Nato-Beitritte von Staaten im nahen Umfeld Russlands wahrscheinlich mit Aggression beantwortet werden."
In einem Bericht der vom Pentagon finanzierten Rand Corporation aus dem Jahr 2019, das vom Quadrennial Defense Review Office der Armee finanziert wurde, heißt es ausdrücklich, dass die Angst des Kremls vor einem direkten militärischen Angriff der Vereinigten Staaten "sehr real" sei und "die Bereitstellung von mehr US-Militärausrüstung und -beratung [für die Ukraine im Krieg im Donbass] dazu führen könnte, dass Russland seine direkte Beteiligung an dem Konflikt und den Preis, den es dafür zahlt, erhöht", u. a. durch "eine neue Offensive und die Besetzung weiterer ukrainischer Gebiete".
In der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2017 heißt es unumwunden, dass "Russland die Nordatlantikvertragsorganisation (Nato) und die Europäische Union (EU) als Bedrohung ansieht."
Das ist das zentrale Paradoxon des aktuellen Kriegsdiskurses: Was von westlichen Politikern und Beamten in den Machtzirkeln, die sich bei der Gestaltung der Außenpolitik auf ein evidenzbasiertes Verständnis der Welt verlassen, weithin anerkannt wird, ist außerhalb dieser Zirkel unaussprechlich.
Es geht um mehr als nur um Schuldzuweisungen. Wenn wir uns hartnäckig weigern, eine der grundlegenden Ursachen des Krieges und die Rolle der USA und der Nato darin zu verstehen, wird es uns weiterhin nicht gelingen, den Krieg zu beenden und einen dauerhaften Frieden zu sichern, was zu vielen weiteren ukrainischen Toten und zu vielen weiteren Jahren des Lebens im Schatten einer globalen Katastrophe führen wird.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.