Der "unprovozierte Krieg": Wenn Stoltenberg und Co. die Wahrheit über die Nato-Erweiterung sagen
Ging es bei der Ukraine-Invasion um die Ausdehnung des Bündnisses bis vor die Haustür Moskaus? Das hängt davon ab, wer die Geschichte erzählt. Über Tabus in der Öffentlichkeit und Fakten in Machtzirkeln.
Seit dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine wurde uns gesagt, dass die Frage der Nato-Erweiterung für den Krieg irrelevant ist und jeder, der sie erwähnt, bestenfalls unbeabsichtigt Kreml-Propaganda nachplappert, schlimmstenfalls aber den Krieg entschuldige oder rechtfertigt.
Daher ist es denkwürdig, dass Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg Anfang des Monats ausdrücklich erklärte, dass der russische Präsident Wladimir Putin seinen verbrecherischen Krieg als Reaktion auf die mögliche Nato-Erweiterung um die Ukraine und die Weigerung der Allianz, davon abzulassen, begonnen habe. Und Stoltenberg sagt das nicht nur ein- oder zweimal, sondern gleich dreimal.
Präsident Putin erklärte im Herbst 2021 – und schickte sogar einen Vertragsentwurf, den die Nato unterzeichnen sollte –, dass man versprechen müsse, dass es keine weitere Nato-Ausdehung geben werde,
… sagte Stoltenberg am 7. September vor einem gemeinsamen Ausschuss des Europäischen Parlaments.
Das war es, was er uns geschickt hat. Und [das] war eine Vorbedingung dafür, dass sie nicht in die Ukraine einmarschieren. Natürlich haben wir das nicht unterschrieben.
"Er ist in den Krieg gezogen, um die Nato und immer mehr Nato an den russischen Grenzen zu verhindern. Er hat genau das Gegenteil erreicht", wiederholte Stoltenberg und bezog sich dabei auf den Beitritt Schwedens und Finnlands zum Bündnis als Reaktion auf Putins Invasion. Deren Beitritt, so betonte er später, "zeigt, dass Präsident Putin, der in ein europäisches Land einmarschiert ist, um eine Erweiterung der Nato zu verhindern, genau das Gegenteil erreicht hat".
Es ist nicht klar, ob Stoltenberg sich auf den Vertragsentwurf bezog, den Putin im Dezember 2021 vorlegte, und einfach die Jahreszeiten verwechselte (die Bestimmungen beider Verträge sind identisch), oder ob er sich auf einen früheren, noch nicht berichteten Vorfall bezog.
In jedem Fall ist das, was Stoltenberg hier behauptet – dass Putin den Nato-Beitritt der Ukraine als so inakzeptabel ansah, dass er bereit war, einzumarschieren, um ihn zu verhindern, und zugleich ein Verhandlungsangebot unterbreitete, das die Invasion hätte verhindern können, aber die Nato lehnte es ab –, wiederholt von denjenigen vorgebracht worden, die die Ursachen des Krieges zu erklären versuchen und darauf hinweisen, wie er beendet werden könnte. Aber das wird in der Öffentlichkeit als Propaganda abgetan.
Die einzige logische Schlussfolgerung, wenn man den Hardlinern folgt, ist, dass der Mann, der für das Nato-Bündnis verantwortlich ist, welches der Ukraine hilft, sich gegen Putin zu verteidigen, tatsächlich für den russischen Präsidenten arbeitet und dessen Propaganda verbreitet.
Lesen Sie auch:
Ein Nato-Beitritt Schwedens macht Europa keineswegs sicherer
Das ist nicht der einzige Fall, in dem ein Mitglied des Nato-Establishments dergleichen zugibt. Im Mai dieses Jahres sagte die Direktorin des US-Geheimdienstes Avril Haines zusammen mit dem Direktor der Defense Intelligence Agency, Generalleutnant Scott Berrier, vor dem Senatsausschuss für die US-Streitkräfte, dass "wir davon ausgehen, dass Putin seine unmittelbaren Ambitionen zurückschraubte, die ... sicherstellen sollten, dass die Ukraine niemals ein Nato-Verbündeter wird".
Zuvor hatte Haines gesagt, dass Putins Invasion nach hinten losgegangen sei, indem sie genau die Ereignisse ausgelöst habe, die er zu vermeiden hoffte, wie den Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato.
Auch die Russlandexpertin Fiona Hill, die unter den Präsidenten George W. Bush und Barack Obama als Geheimdienstanalystin tätig war und unter Präsident Donald Trump dem Nationalen Sicherheitsrat angehörte, erklärte in einem Interview mit der deutschen Zeitung Die Zeit im März 2023, dass "es immer offensichtlich war, dass die Nato-Erweiterung um die Ukraine und Georgien eine Provokation für Putin war."
Über einen Glaubensartikel, der uns blind macht
Die gegenteilige Behauptung, die Invasion sei völlig "unprovoziert" gewesen, ist im westlichen Diskurs zu einem Glaubensartikel geworden und ist als Begriff in Nachrichtenberichten und offiziellen Erklärungen zum Krieg allgegenwärtig.
In ähnlicher Weise berichtet ein Artikel der Washington Post vom August 2022 – der sich auf "ausführliche Interviews mit mehr als drei Dutzend hochrangigen US-amerikanischen, ukrainischen, europäischen und Nato-Beamten" stützt –, von vier verschiedenen Fällen, in denen hochrangige russische Beamte ihren US-Kollegen im Vorfeld des Krieges sagten, dass die Nato-Erweiterung einer der Hauptgründe für Moskaus drohende Truppenaufstockung sei.
Dazu gehörte auch Putin selbst, der Präsident Joe Biden in einem Videogespräch im Dezember 2021 mitteilte, dass "die Osterweiterung der westlichen Allianz ein wichtiger Faktor für seine Entscheidung war, Truppen an die ukrainische Grenze zu entsenden", heißt es in dem Bericht.
In gewisser Weise ist das nicht überraschend. Wie Analysten, Journalisten, Politiker und andere, die auf die Nato-Erweiterung als Hauptursache für den Krieg hinweisen, ausgiebig dokumentiert haben, warnten in den Jahrzehnten vor der Invasion unzählige Mitglieder des nationalen Sicherheitsapparats in Washington – vom berühmten Strategen des Kalten Krieges George Kennan und dem derzeitigen CIA-Direktor William Burns bis hin zu einer Reihe von Diplomaten, Militärs, Nato-Chefs und sogar Biden selbst – davor, dass die Osterweiterung des Bündnisses eine wesentliche Ursache für die russische Unzufriedenheit sei, sie russische Feindseligkeit und Aggression provozieren, ja sogar einen Krieg auslösen würde.
Doch was vor der Invasion unumstritten und weithin anerkannt war, darf seit dem Beginn der Invasion im Februar 2022 nicht mehr ausgesprochen werden. Debatten oder abweichende Meinungen über den Krieg und die US-amerikanische sowie europäische Politik gegenüber dem Krieg werden unterdrückt, oft mit bösartigen McCarthy-Taktiken. Das Thema ist inzwischen tabu, es sei denn, man ist zufällig ein Vertreter der USA oder der Nato.
Es handelt sich auch nicht nur um einzelne Offizielle. Elemente dieses angeblich vom Kreml stammenden Arguments tauchen auch in wichtigen Dokumenten der US-Regierung auf. Nehmen wir zum Beispiel die jährliche Bedrohungsanalyse, die vom Direktor der Nationalen Nachrichtendienste ein Jahr nach Beginn der Invasion herausgegeben wurde.
Der Bericht, der die "gesammelten Erkenntnisse" der verschiedenen Geheimdienste Washingtons wiedergeben soll, geht davon aus, dass Moskau sich weiterhin …
in Krisen einmischen wird, wenn seine Interessen auf dem Spiel stehen, wenn die zu erwartenden Kosten gering sind, wenn es eine Gelegenheit sieht, aus einem Machtvakuum Kapital zu schlagen, oder wenn es, wie im Fall der Gewaltanwendung in der Ukraine, eine existenzielle Bedrohung in seiner Nachbarschaft wahrnimmt, die Putins Herrschaft destabilisieren und die nationale Sicherheit Russlands gefährden könnte.
Wer heute jedoch behauptet, dass Putin oder das russische Establishment die zunehmende Integration der Ukraine in die Nato tatsächlich als Sicherheitsbedrohung ansehen, muss mit allerlei skurrilen Anschuldigungen rechnen.
Ähnlich wie bei den offiziellen Äußerungen finden sich auch in Dokumenten aus der Zeit vor dem Krieg ähnliche Aussagen. In einem Papier des U.S. Army War College aus dem Jahr 2020 heißt es, dass "künftige Nato-Beitritte von Staaten im nahen Umfeld Russlands wahrscheinlich mit Aggression beantwortet werden."
In einem Bericht der vom Pentagon finanzierten Rand Corporation aus dem Jahr 2019, das vom Quadrennial Defense Review Office der Armee finanziert wurde, heißt es ausdrücklich, dass die Angst des Kremls vor einem direkten militärischen Angriff der Vereinigten Staaten "sehr real" sei und "die Bereitstellung von mehr US-Militärausrüstung und -beratung [für die Ukraine im Krieg im Donbass] dazu führen könnte, dass Russland seine direkte Beteiligung an dem Konflikt und den Preis, den es dafür zahlt, erhöht", u. a. durch "eine neue Offensive und die Besetzung weiterer ukrainischer Gebiete".
In der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2017 heißt es unumwunden, dass "Russland die Nordatlantikvertragsorganisation (Nato) und die Europäische Union (EU) als Bedrohung ansieht."
Das ist das zentrale Paradoxon des aktuellen Kriegsdiskurses: Was von westlichen Politikern und Beamten in den Machtzirkeln, die sich bei der Gestaltung der Außenpolitik auf ein evidenzbasiertes Verständnis der Welt verlassen, weithin anerkannt wird, ist außerhalb dieser Zirkel unaussprechlich.
Es geht um mehr als nur um Schuldzuweisungen. Wenn wir uns hartnäckig weigern, eine der grundlegenden Ursachen des Krieges und die Rolle der USA und der Nato darin zu verstehen, wird es uns weiterhin nicht gelingen, den Krieg zu beenden und einen dauerhaften Frieden zu sichern, was zu vielen weiteren ukrainischen Toten und zu vielen weiteren Jahren des Lebens im Schatten einer globalen Katastrophe führen wird.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.