Der "unprovozierte Krieg": Wenn Stoltenberg und Co. die Wahrheit über die Nato-Erweiterung sagen

Rede des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg vor einer gemeinsamen Sitzung des US-Repräsentantenhauses und des Senats, 2019. Bild: Nato / CC BY-NC-ND 2.0

Ging es bei der Ukraine-Invasion um die Ausdehnung des Bündnisses bis vor die Haustür Moskaus? Das hängt davon ab, wer die Geschichte erzählt. Über Tabus in der Öffentlichkeit und Fakten in Machtzirkeln.

Seit dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine wurde uns gesagt, dass die Frage der Nato-Erweiterung für den Krieg irrelevant ist und jeder, der sie erwähnt, bestenfalls unbeabsichtigt Kreml-Propaganda nachplappert, schlimmstenfalls aber den Krieg entschuldige oder rechtfertigt.

Daher ist es denkwürdig, dass Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg Anfang des Monats ausdrücklich erklärte, dass der russische Präsident Wladimir Putin seinen verbrecherischen Krieg als Reaktion auf die mögliche Nato-Erweiterung um die Ukraine und die Weigerung der Allianz, davon abzulassen, begonnen habe. Und Stoltenberg sagt das nicht nur ein- oder zweimal, sondern gleich dreimal.

Präsident Putin erklärte im Herbst 2021 – und schickte sogar einen Vertragsentwurf, den die Nato unterzeichnen sollte –, dass man versprechen müsse, dass es keine weitere Nato-Ausdehung geben werde,

sagte Stoltenberg am 7. September vor einem gemeinsamen Ausschuss des Europäischen Parlaments.

Das war es, was er uns geschickt hat. Und [das] war eine Vorbedingung dafür, dass sie nicht in die Ukraine einmarschieren. Natürlich haben wir das nicht unterschrieben.

Branko Marcetic schreibt für Jacobin, Washington Post und Guardian.

"Er ist in den Krieg gezogen, um die Nato und immer mehr Nato an den russischen Grenzen zu verhindern. Er hat genau das Gegenteil erreicht", wiederholte Stoltenberg und bezog sich dabei auf den Beitritt Schwedens und Finnlands zum Bündnis als Reaktion auf Putins Invasion. Deren Beitritt, so betonte er später, "zeigt, dass Präsident Putin, der in ein europäisches Land einmarschiert ist, um eine Erweiterung der Nato zu verhindern, genau das Gegenteil erreicht hat".

Es ist nicht klar, ob Stoltenberg sich auf den Vertragsentwurf bezog, den Putin im Dezember 2021 vorlegte, und einfach die Jahreszeiten verwechselte (die Bestimmungen beider Verträge sind identisch), oder ob er sich auf einen früheren, noch nicht berichteten Vorfall bezog.

In jedem Fall ist das, was Stoltenberg hier behauptet – dass Putin den Nato-Beitritt der Ukraine als so inakzeptabel ansah, dass er bereit war, einzumarschieren, um ihn zu verhindern, und zugleich ein Verhandlungsangebot unterbreitete, das die Invasion hätte verhindern können, aber die Nato lehnte es ab –, wiederholt von denjenigen vorgebracht worden, die die Ursachen des Krieges zu erklären versuchen und darauf hinweisen, wie er beendet werden könnte. Aber das wird in der Öffentlichkeit als Propaganda abgetan.

Die einzige logische Schlussfolgerung, wenn man den Hardlinern folgt, ist, dass der Mann, der für das Nato-Bündnis verantwortlich ist, welches der Ukraine hilft, sich gegen Putin zu verteidigen, tatsächlich für den russischen Präsidenten arbeitet und dessen Propaganda verbreitet.

Das ist nicht der einzige Fall, in dem ein Mitglied des Nato-Establishments dergleichen zugibt. Im Mai dieses Jahres sagte die Direktorin des US-Geheimdienstes Avril Haines zusammen mit dem Direktor der Defense Intelligence Agency, Generalleutnant Scott Berrier, vor dem Senatsausschuss für die US-Streitkräfte, dass "wir davon ausgehen, dass Putin seine unmittelbaren Ambitionen zurückschraubte, die ... sicherstellen sollten, dass die Ukraine niemals ein Nato-Verbündeter wird".

Zuvor hatte Haines gesagt, dass Putins Invasion nach hinten losgegangen sei, indem sie genau die Ereignisse ausgelöst habe, die er zu vermeiden hoffte, wie den Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato.

Auch die Russlandexpertin Fiona Hill, die unter den Präsidenten George W. Bush und Barack Obama als Geheimdienstanalystin tätig war und unter Präsident Donald Trump dem Nationalen Sicherheitsrat angehörte, erklärte in einem Interview mit der deutschen Zeitung Die Zeit im März 2023, dass "es immer offensichtlich war, dass die Nato-Erweiterung um die Ukraine und Georgien eine Provokation für Putin war."