Deutsche Augen für Autokraten
Wie eine Zielerfassungstechnik zu kriegerischen Eskalationen in Kurdistan, Bergkarabach, Jemen und andernorts beträgt. Und was das mit Zivilklauseln zu tun hat
Das ZDF-Magazin frontal hat den Einsatz deutscher Zielerfassungssysteme in türkischen Drohnen und deren Vertrieb in verschiedene Länder der Erde recherchiert.
Die Redaktion fand starke Indizien dafür, die den Einsatz des Zielerfassungssystems "Argos II HDT" von Hensoldt (früher Airbus) u.a. durch die türkische Armee im Nordirak, durch Saudi-Arabien im Jemen-Krieg und durch Aserbaidschan im Krieg um Bergkarabach nahelegen.
Außerdem seien türkische Kampfdrohnen des Typs Bayraktar TB 2 u.a. an Turkmenistan und die Ukraine geliefert worden. Aufnahmen der Drohnen auf einer Militärparade in Turkmenistan legen den Verdacht nahe, dass auch diese mit dem Zielerfassungssystem von Hensoldt ausgestattet sind.
Ob dies auch für die an die Ukraine gelieferten Drohnen gilt, wollte die Regierung in Kiew nicht bestätigen. Fest steht hingegen offenbar, dass das ukrainische Militär mit einer dieser Drohnen am 26. Oktober 2021 eine Stellung der Separatisten im Osten des Landes angegriffen, damit gegen das Abkommen von Minsk verstoßen und einer weiteren Eskalation Vorschub geleistet hat.
Freier Markt?
Exportiert und vermutlich auch hergestellt wurde das Zielerfassungssystem demnach von einer Tochterfirma von Hensoldt in Südafrika, womit die deutsche und europäische Rüstungskontrolle ausgehebelt wurde.
Die von frontal befragten Experten von Greenpeace und der in Berlin ansässigen Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights verweisen jedoch darauf, dass der Bund einen Anteil von 25,1 Prozent an Hensoldt hält und die Bundesregierung über diese Sperrminorität entsprechende Praktiken unterbinden könnte (Manuskript der Sendung).
Konkret handelt es sich bei dem Zielerfassungssystem um ein Modul, das am Rumpf bzw. der Unterseite von Flugzeugen, Hubschraubern und unbemannten Luftfahrzeugen angebracht wird und verschiedene Sensoren (Kameras) sowie Lasersysteme zur Zielerfassung vereint.
Zum Gesamtsystem gehören dann auch die Bild- bzw. Datenverarbeitung innerhalb des Moduls sowie die Schnittstellen zu den Steuerungs- und Waffensystemen. Angeboten wird es von Hensoldt unter der Produktbezeichnung Argos-II.
Hensoldt war bis 2017 Teil der Rüstungssparte von Airbus (Airbus Defense & Space), bevor diese für 1,1 Milliarden Euro einen großen Teil seiner Abteilungen für Radartechnik, Verteidigungselektronik und Grenzüberwachung an den US-Finanzinvestor KKR (Kohlberg Kravis Roberts) verkaufte.
Sowohl an zentralen Airbus-Standorten wie Ottobrunn/Taufkirchen, Ulm, Oberkochen und Immenstaad wie auch bei langfristigen Rüstungs- und Lieferverträgen zeigt sich allerdings weiter eine enge Verwobenheit von Airbus und Hensoldt.
Von September 2018 bis September 2020 war KKR Alleineigentümer von Hensoldt, bevor der Investor Teile (etwa 30 Prozent) des Unternehmens an die Börse brachte. Kurz darauf erwarb der Bund über die Kreditanstalt für Wiederaufbau direkt von KKR für rund 460 Millionen Euro 25,1 Prozent (nicht an Aktien, sondern direkt von KKR) und damit die Sperrminorität.
Daraufhin wiederum stellte KKR den Verkauf von weiteren 25,1 Prozent aus seinen Anteilen in Aussicht, wofür mehrere europäische Rüstungsunternehmen Angebote vorlegten. Den Zuschlag erhielt – offenbar auch auf Drängen des Anteilseigners Bund – der italienische Rüstungsgigant Leonardo für 606 Millionen Euro. KKR hat damit in fünf Jahren durch Umstrukturierung und Neuverteilung der Anteile durch Verkäufe bereits mehr eingenommen, als ursprünglich für Hensoldt bezahlt und hält aktuell noch etwa 18 Prozent am Unternehmen – all dies mit politischer Unterstützung aus Berlin.
Forschungsförderung des deutschen Staates
Politische und finanzielle Unterstützung erhalten Airbus und Hensoldt jedoch v.a. auch von Bund und EU bei der Entwicklung jener Technologien, die nun offenbar auf zahlreichen Schlachtfeldern der Erde zum Einsatz kommen. So berichtete die Zeit im Februar 2017: "Die Rüstungssparte von Airbus (und dessen Vorgängerkonzern EADS) bekam in den vergangenen zehn Jahren insgesamt mehr als 25 Millionen Euro Fördermittel" – gemeint war damit allein die sog. "Sicherheitsforschung" im Rahmen der EU-Forschungsprogramme FP7 und Horizon2020.
Da FP7 formal auf nicht-militärische Anwendungen begrenzt war, wurde hier Aufklärungstechnologie vorwiegend unter vermeintlich zivilen Szenarien wie dem Katastrophenschutz und der Grenzsicherung und häufig in Kooperation mit der EU-Agentur Frontex weiterentwickelt. So ging es unter anderem in den Projekten Sagres (EU-Beitrag: 3,4 Milionen Euro) und Airbeam (EU-Beitrag: 9,8 Millionen) mit Beteiligung von Airbus um die Weiterentwicklung von Sensorik, wie sie auch in Zielerfassungssystemen zur Anwendung kommt, sowie deren Integration in unbemannte (Luft-)Fahrzeuge.
Hensoldt bewirbt die Produktlinie Argos entsprechend auch als System für die luftgestützte Nachrichtengewinnung, Aufklärung, Überwachung und Zielerkennung (ISTAR: Intelligence, Surveillance, Target Acquisition and Reconnaissance) für "Militär, Grenzschutz und Küstenwache sowie Strafverfolgung".
Die Produktbeschreibung verspricht ein hohes Maß an automatisierter Bildverarbeitung und so genannter Data Fusion, also die für bestimmte Zwecke optimierte Zusammenführung und Auswertung von (Sensor-)Daten aus verschiedenen Quellen.
Dies soll u.a. die automatisierte Verfolgung verschiedener Objekte bzw. Ziele gleichzeitig ermöglichen. Entsprechende Forschung wird in Deutschland v.a. vom Fraunhofer Institut für Optronik, Systemtechnik und Bilderkennung (IOSB) in Karlsruhe und Ettlingen (bei Karlsruhe) betrieben – oft im Auftrag des Bundesverteidigungsministeriums (BMVg) und/oder in unmittelbarer Kooperation mit der Bundeswehr (so etwa bei der Weiterentwicklung der Bildauswertung der zeitgleich von der Bundeswehr in Afghanistan eingesetzten Luna-Drohne im Projekt ABUL).
Auch einen wesentlichen Anteil seiner Grundfinanzierung erhält das Fraunhofer IOSB aus dem Budget des BMVg. Unter anderem fließen die Gelder, um es auch für (mehr oder weniger) zivile Forschungsbudgets und -Projekte (wie die so genannte Videoüberwachung im öffentlichen Raum – konkret in Mannheim) zugänglich zu machen, wurde es vor gut zehn Jahren aus der nahezu ausschließlich in der wehrwissenschaftlichen Ressortforschung tätigen FGAN (Forschungsgesellschaft für Angewandte Naturwissenschaften) in die Fraunhofer-Gesellschaft überführt.
Das IOSB war in der Folge an mehreren Projekten beteiligt, die zumindest vordergründig dem Grenzschutz bzw. der sog. Bekämpfung illegaler Migration dienen sollten. Beispiele hierfür sind das Projekt AMASS (Autonomous Maritime Surveillance System), 2008-2011, unter der Leitung der Carl Zeiss Optronics GmbH, die (zwischenzeitlich als EADS-Tochter Cassidian) weitgehend in der Rüstungssparte von Airbus aufging, bevor sie – in großen Teilen – als Hensoldt ausgegliedert wurde.
Während dieses Projekt im Rahmen der EU-Sicherheitsforschung (mit 3,4 Millionen Euro) gefördert wurde, erhielt das IOSB zeitgleich weitere Zuwendung im Rahmen der deutschen "Sicherheitsforschung" vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie für das Projekt DeMarine. Dieses fand in Kooperation mit der 2014 (ebenfalls über Cassidian) in der Rüstungssparte von Airbus aufgegangenen EADS-Tochter Astrium statt und hatte die halb-automatische Detektion von Booten mit Geflüchteten im Mittelmeer aus Satellitenbildern zum Ziel.
Vom "Weltmodell" zur Zielerkennung
Das Ergebnis der entsprechenden Forschung stellten zwei der beteiligten Wissenschaftler*innen im Jahresbericht 2012 des BMVg zur "Wehrwissenschaftliche(n) Forschung" in Form eines "Objekt-Orientierten Weltmodells (OOWM) vor. Hier allerdings geben sie an: "Die von der Wehrtechnischen Dienststelle 81 (der Bundeswehr) geförderten Forschungsaufgaben für diese Aufgaben wurden begleitet durch Projekte der zivilen Sicherheitsforschung: DeMarine, AMASS (Autonomous Maritime Surveillance System) und WiMA2S (Wide Maritime Area Airborne Surveillance)".
In einem sehr ähnlichen Beitrag in einer Publikation des IOSB zur "zivile(n) Sicherheit" hatten dieselben Wissenschaftler:innen nur die letzten drei – formal zivilen – Finanzierungsquellen angegeben.
Hensoldt ist gemeinsam mit Airbus, dem Lenkwaffenhersteller MBDA, Rheinmetall und Siemens ebenso im 23-köpfigen Kuratorium des IOSB vertreten, wie verschiedene öffentliche Auftraggeber der dortigen Forschung, darunter das BMVg, das Bundesministerium für Bildung und Forschung und das Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg.
Sehr enge Verbindungen unterhält das IOSB auch zur Universität Karlsruhe bzw. dem "Karlsruher Institut für Technologie (KIT)". So haben zwei der vier Direktoren (gendern nicht nötig) des IOSB, darunter dessen Leiter Jürgen Beyerer und der "Bereichsleiter Verteidigung", Marc Eichhorn, Lehrstühle am KIT. Das führt zu wahren Bilderbuchkarrieren – im Sinne des Verteidigungsministeriums und der Rüstungsindustrie.
Bilderbuchkarrieren in der Rüstungsindustrie
Nehmen wir ein Beispiel: Jemand hat 2002 bis 2009 Informatik am KIT studiert, seine Diplomarbeit bei Bosch geschrieben und war anschließend – offenbar in wechselnden oder gleichzeitigen Stellungen am Lehrstuhl für Interaktive Echtzeitsysteme (IES) des KIT und in der Abteilung Videoauswertesysteme (VID) des IOSB beschäftigt.
Dabei entwickelte er mit einer Kollegin (in ähnlichen Beschäftigungsverhältnissen zwischen KIT und IOSB), gefördert aus drei "zivilen" und einem militärischen Forschungsprojekt, ein Objekt-Orientiertes Weltmodell für die multisensorielle Aufklärung.
2015 hält er zusammen mit dieser Kollegin einen Vortrag auf einem Nato-Symposium zur automatisierten Erfassung "abnormalen Verhaltens" von Fahrzeugen durch Luftaufnahmen – damals noch als Referent des KIT.
Fünf Jahre später schickt mir ein Journalist das Programm einer Konferenz Angewandte Forschung für Verteidigung und Sicherheit in Deutschland, dem zufolge der ehemalige Student am KIT, dann Mitarbeiter am IOSB nun (2020) als Vertreter von Hensoldt Optronics einen Vortrag unter dem Titel "Deep Learning für die Objektdetektion in multispektralen Videos" hält.
Wenn ich nun in die Suchmaschine meiner Wahl "Hensoldt" und "IOSB" eingebe, stoße ich wieder auf den Namen, z.B. als Vertreter von Hensoldt bei einer klar militärisch dominierten Konferenz zum Thema "Appearance and Motion Based Persistent Multiple Object Tracking in Wide Area Motion Imagery" – gemeinsam mit zwei Referenten des IOSB.
Obwohl sich Hensoldt – unter deutscher Aufsicht – beim Verkauf seiner Zielerfassungssysteme an die Türkei und andere Staaten womöglich zwischenzeitlich vollständig im Besitz einer US-Investmentfirma befand und diese vielleicht in Südafrika montiert wurden, spricht das ZDF-Magazin frontal zurecht von einem "deutschen" Zielerfassungssystem, denn es wurde in Deutschland entwickelt und in diese Entwicklung sind mit einiger Wahrscheinlichkeit auch zivile Fördermittel der Bundes eingeflossen.
Hensoldt und das Fraunhofer IOSB genießen nicht zuletzt mithilfe der systematischen, öffentlichen Förderung einen weltweiten Ruf als führende Akteure bei der Weiterentwicklung der Bilderverarbeitung und Zielerkennung.
Dass diese Systeme mittlerweile im Nordirak, Bergkarabach und der Ukraine tödlich zur Anwendung kommen, scheint entweder im Interesse der Bundesregierung zu liegen oder im Rahmen der Technologiepolitik nicht weiter ins Gewicht zu fallen.
Zivilklauseln gegen Proliferation
Ein aktuelles Dossier der Zeitschrift "Wissenschaft und Frieden" beschäftigt sich mit den Anwendungen so genannter Künstlicher Intelligenz in der Kriegführung. Auch hier wird klar, dass neue Technologien in der Verbindung mit massiver Rechenleistung und dem massiven Ausbau digitaler Infrastrukturen zwar neue, lukrative Geschäftsfelder eröffnen, für die Eindämmung ihrer militärischen Anwendungen und Proliferation aber – je nach Lesart – Konzepte oder der politische Wille fehlt.
Der Fokus auf Karlsruhe ergibt sich im Zusammenhang mit dem Skandal um Hensoldt und der Anwendung seiner Zielerfassungssysteme weltweit quasi zwangsläufig, da das IOSB hier international anerkannte (militärische) Forschung leistet und nachweislich auf verschiedenen Ebenen mit Hensoldt verbunden ist. Er eröffnet jedoch auch einen Blick auf den Widerstand von Unten als eine und womöglich effektivste Form der Eindämmung der Proliferation von Rüstungstechnologie, zu der Bundesregierungen aller Farben offensichtlich nicht willens und in der Lage sind.
Der Studierendenrat in Karlsruhe hatte 2009 eine Urabstimmung dazu durchgeführt, ob das KIT fortan "nur friedliche Zwecke" verfolgen dürfte. Die klare Mehrheit in dieser Abstimmung beflügelte bundesweit eine "Zivilklausel-Bewegung", die maßgeblich von dem mittlerweile verstorbenen Naturwissenschaftler, Antifaschisten und Pazifisten Dietrich Schulze vorangetrieben wurde, der viele Jahre Betriebsratsvorsitzender am Kernforschungszentrum Karlsruhe war, bevor dieses ins KIT aufging.
Die Zivilklauselbewegung kämpft seit dem gegen rüstungsnahe Forschung an den jeweiligen Hochschulen. Sie leistet damit vielleicht einen größeren Beitrag zur Erhaltung des Friedens, als die deutsche und europäische Rüstungskontrolle.
Christoph Marischka hat im vergangenen Jahr unter dem Titel Cyber Valley – Unfall des Wissens ein Buch zur KI-Forschung in Deutschland veröffentlicht.
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