Deutschland, deine Streikformen
Wo politische Streiks illegalisiert sind und Gewerkschaften sich das bieten lassen, verzweifeln junge Menschen und hungern für den Schutz ihrer Lebensgrundlagen
Seit Jahrzehnten lassen sich erwachsene Menschen und gestandene Gewerkschafter in Deutschland politische Streiks verbieten - gestützt auf Gutachten von Juristen, die schon in der Nazizeit Karriere gemacht haben. Weil der Mitautor des "Arbeitsordnungsgesetzes" von 1934 und spätere Präsident des Bundesarbeitsgerichts Hans Carl Nipperdey 1952 nur Streikziele für legal hielt, die durch Tarifverträge regelbar sind, sind beispielsweise Generalstreiks für eine sozial-ökologische Energie- und Verkehrswende bis heute tabu.
Selbst der klassische Arbeitskampf ist hierzulande verpönt, sobald er als solcher spürbar wird, wie zuletzt in diesem Spätsommer beim Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). Die Jugendbewegung Fridays for Future musste sich anfangs das Etikett "Schulschwänzer" gefallen lassen, weil die Beteiligten nicht in ihrer Freizeit streiken wollten, wie das der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) beim bundesweiten Klimastreik vor knapp zwei Jahren von Berufstätigen erwartete.
Mittlerweile gibt es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem klargestellt wurde, dass ein "Weiter so" in der deutschen Klimapolitik die Rechte der jungen Generation verletzt. Doch keine etablierte Partei hat ausreichende Maßnahmen zur Einhaltung der Pariser Klimaschutzziele in ihrem Wahlprogramm für die Bundestagswahl am 26. September verankert. Laut einer internationalen Studie, deren Ergebnisse vor wenigen Tagen veröffentlicht wurden, hat bereits die Mehrheit der 16- bis 25-Jährigen starke Zukunftsängste wegen der Klimakrise.
Unterdessen schürt die Bild-Zeitung, die auch gegen den GDL-Streik gegeifert hatte, Angst vor höheren Spritpreisen. Ein machtvoller Generalstreik, das effektivste Mittel des gewaltfreien Widerstands, das in Frankreich regelmäßig angewandt wird, scheint zur Zeit in Deutschland undenkbar.
In diesem gesellschaftlichen Klima findet nun seit 20 Tagen der unbefristete "Hungerstreik der letzten Generation" im Berliner Regierungsviertel statt. Sechs junge Menschen im Alter von 18 bis 27 Jahren verlangen ein öffentliches Gespräch mit den Kanzlerkandidaten von Union und SPD sowie mit der Kanzlerkandidatin der Grünen am 23. September, drei Tage vor der Bundestagswahl.
Sie wollen die Zusage für einen "Klimabürger:innenrat", dessen Beschlüsse nicht ignoriert oder als unverbindliche Vorschläge behandelt werden. Anders als im Fall des "Bürgerrats Klima", der sich bereits getroffen hat. Zwei der Beteiligten mussten an diesem Samstag ins Krankenhaus: Die 19-jährige Lina Eichler und der 27-jährige Jacob Heinze.
Scholz setzt auf Erfindungen, die es noch nicht gibt
Beide hatten am Vorabend bereits Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch mit dem SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz nach einem Wahlkampftermin in Potsdam. Allerdings waren sie nach eigenen Angaben entsetzt, wie sehr dieser die Klimakatastrophe unterschätze. Scholz verlässt sich demnach auf Technologien, die noch nicht erfunden sind und einen "großen Innovationsschub", mit dem das Schlimmste verhindert werden könnte, wenn es eigentlich schon zu spät ist. "Er äußerte sich weder dazu, was und wie diese Innovationen konkret aussehen und welche Maßnahmen damit verbunden sein könnten", kritisierte das Presseteam der Hungerstreikenden.
Verständnis, Sorge und Häme
Ihre Aktion ist vielfach kritisiert worden - sowohl in solidarischer Form vom Vorstand der Umweltorganisation Greenpeace als auch gehässig bis vernichtend von der "Nach uns die Sintflut"-Fraktion unter den älteren weißen Männern und Frauen.
Greenpeace hat die Hungerstreikenden mit viel Verständnis aufgefordert, ihre Aktion zu beenden, ihre Gesundheit nicht zu gefährden und ihre Energie unter anderem für die Aktionen beim bundesweiten Klimastreik am 24. September aufzusparen. Der Kolumnist der Berliner Morgenpost, Hajo Schumacher, sprach dagegen dem Hungerstreik jegliche Berechtigung ab und verglich ihn allen Ernstes mit Entführungsfällen der 1970er-Jahre, in denen Nachgiebigkeit Terrorismus gefördert habe. In einer Demokratie sei so eine "Erpressung des Staates" unangemessen. Daher solle die Aktion mit medialer Ignoranz bestraft werden.
Dazu gesellten sich in Facebook-Diskussionen Ex-Linke, Esoteriker und Althippies, die wahlweise meinten, diese junge Menschen könnten doch einfach "bei sich selbst anfangen" und ein Aussteigerdasein ohne Handy und Internet führen - oder darauf verwiesen, dass es naiv sei, per Hungerstreik Gespräche mit Kanzlerkandidaten erzwingen zu wollen, die sowieso nur Wahlkampfparolen absondern würden.
Ersteres ist natürlich ein Totschlagargument, denn der Verzicht auf moderne Kommunikationsmittel würde bewirken, dass ausgerechnet diejenigen kaum noch am öffentlichen Meinungskampf teilnehmen, die fordern, dass es uns allen leichter gemacht wird, nachhaltig zu leben - indem beispielsweise Konzernen klare Regeln für die Produktion auferlegt werden und der Raubbau an der Natur gesetzlich unterbunden wird. Individuelle Konsumkritik war nie der Schwerpunkt der jungen Klimaschutzbewegung.
Hilflos sind nicht nur die Hungerstreikenden
Der Sinn von Gesprächen mit Spitzenpolitikern, die Wahlen gewinnen wollen und dafür notfalls das Blaue vom Himmel herunter lügen, darf dagegen tatsächlich bezweifelt werden. Allerdings sind die Hungerstreikenden ja nicht so naiv, sich mit Einzelgesprächen abseits der Öffentlichkeit nach der Wahl zufriedenzugeben, die ihnen von Olaf Scholz (SPD), Armin Laschet (CDU) und Annalena Baerbock (Grüne) bereits angeboten wurden.
Es geht ihnen also nicht in erster Linie darum, Polit-Karrieristen zu überzeugen, sondern darum, in aller Öffentlichkeit deren Floskeln zu entlarven und sie zu klaren Aussagen zu zwingen - und falls dies Versprechungen sind, ihnen den Wortbruch nach der Wahl so schwer wie möglich zu machen.
Der "Hungerstreik der letzten Generation" mag hilflos wirken. Aber er ist nicht hilfloser als Gewerkschaften, die den menschengemachten Klimawandel nicht leugnen und zumindest verbal die Notwendigkeit einer zügigen, sozial ausgestalteten Energie- und Verkehrswende anerkennen, aber nicht zu politischen Streiks in der Lage sind, um das gegen die Interessen dominanter Kapitalfraktionen und deren politischer Sprachrohre durchzusetzen.
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