Deutschland im kolonialen Wettlauf
Vor 105 Jahren: die erste Marokkokrise Vorspiel zum Ersten Weltkrieg
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten die europäischen Großmächte die Welt im kolonialen Wettlauf längst in Einflusssphären aufgeteilt. Das Deutsche Kaiserreich, das sich im Vergleich mit seinen europäischen Nachbarn erst spät vom Agrar- zum Industriestaat gewandelt hatte, war mit entsprechender Verspätung in den Wettlauf um die Aufteilung der Welt eingetreten. Erst Ende des 19. Jahrhunderts hatte Deutschland mit einer planmäßigen und gesteuerten Kolonialpolitik begonnen, um dann erstaunlich schnell in die weltpolitische Offensive zu gehen, wofür exemplarisch die zwischen 1891 und 1898 durch Wilhelm II., Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow und Admiral Alfred von Tirpitz konzipierte und eingeleitete Flottenpolitik steht.
Verhandlungen, die Großbritannien mit dem Deutschen Kaiserreich aufgenommen hatte, wurden von Berlin bereits 1901 wieder beendet, da Wilhelm II. nicht bereit war, seine Flottenaufrüstung einzuschränken. Stattdessen hoffte die deutsche Regierung, die zwischen Großbritannien und Frankreich einerseits sowie zwischen Großbritannien und Russland andererseits bestehenden Interessengegensätze aus einer starken Position heraus zu ihren Gunsten ausnützen zu können ("Politik der freien Hand").
"Hinter dem Schlagwort von der freien Hand stand zugleich die Erkenntnis, dass man als Bündnispartner Londons nicht gleichzeitig eine Flotte bauen konnte, die die Royal Navy notfalls in einer rangierten Hochseeschlacht in der Nordsee besiegen sollte. Das nämlich waren die sehr weit gesteckten Endziele des von Tirpitz entworfenen stufenweisen Ausbaus der deutschen Seerüstung."1 Mit der auf insgesamt 60 Großkampfschiffe bemessenen Flotte wollte man einen "angemessenen" Anteil aus der Erbmasse der zerbrechenden älteren Kolonialreiche ertrotzen – notfalls auch in einem offenen Seekrieg.
Dennoch konnte die deutsche Aufholjagd nicht mehr verhindern, dass sich Deutschland im Gegensatz zu Großbritannien und Frankreich mit vergleichsweise kleinen und unbedeutenden Kolonialgebieten in Afrika und im Fernen Osten begnügen musste.
Die deutschen Eliten in Wirtschaft, Politik und Militär strebten daher nach weiterem Gebietsgewinn und der Vergrößerung des eigenen Einflusses. Dabei musste es zwangsläufig zu Konflikten mit anderen Großmächten wie Frankreich kommen. Das hatte ab 1904 mit der "friedlichen Durchdringung" Marokkos begonnen, um seinen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Einfluss kontinuierlich auszubauen.
Die Entente cordiale: britisch-französischer Interessenausgleich
Ermöglicht wurde dies durch einen Ausgleich mit dem Vereinigten Königreich über die gemeinsame Aufteilung der afrikanischen Kolonialgebiete (8. April 1904), Grundlage der sogenannten Entente cordiale2 (frz.: "herzliches Einverständnis"). Großbritannien hatte nach dem Scheitern der Verhandlungen mit Deutschland am 30. Januar 1902 ein Flottenbündnis mit Japan abgeschlossen, wodurch sich Japan ermutigt fühlte, 1904 Russland anzugreifen und dadurch den Russisch-Japanischen Krieg auszulösen.
Großbritannien, das befürchtete, als Bündnispartner Japans in einen drohenden Krieg mit Russland und dessen Bündnispartner Frankreich verwickelt zu werden, bemühte sich seit 1902 zur Vermeidung eben dieses Falles verstärkt um einen Interessenausgleich mit dem französischen Nachbarn. Ziel der Entente war eine Lösung des zentralen Interessenkonflikts der beiden Mächte vor allem in den afrikanischen Kolonien Ägypten und Marokko ("Wettlauf um Afrika").
Dieser Freundschaftsvertrag zwischen den beiden ehemals verfeindeten Mächten gab Großbritannien u.a. freie Hand in Ägypten und dem Sudan, während er Frankreich das Recht zusprach, in Marokko selbst "über die Ruhe zu wachen" und "bei allen Verwaltungs-, Wirtschafts-, Finanz- und Militärreformen Beistand zu leisten". Die Großmächte versicherten einander zugleich, den politischen Status der jeweiligen Kolonie nicht zu verändern und die Interessen des Vertragspartners in der Kolonie zu beachten. Zudem sicherten sie einander den freien Verkehr durch den Suezkanal sowie durch die Straße von Gibraltar zu. Nach einer geheimen Abmachung, die erst 1911 bekannt gegeben wurde, gingen die Vereinbarungen allerdings noch deutlich weiter. Demnach sollte u.a. Spanien ein Teil von Marokko angeboten werden. Frankreich begann daraufhin, den Maghrebstaat systematisch unter seine Kontrolle zu bringen.
Die politische Lage hatte sich dadurch mit einem Schlag verändert. Die beiden westlichen Mächte Europas hatten sich die Hand gereicht und der für Deutschlands außenpolitische Ambitionen stets günstige Umstand des englisch-französischen Gegensatzes war verschwunden.
Für die politischen und geostrategischen Ambitionen Berlins bedeuteten die französisch-britischen Vereinbarungen einen herben Rückschlag, konterkarierten sie doch das Ziel der deutschen Außenpolitik, den – vor allem hinsichtlich des Flottenausbaus – als bedrohlich empfundenen Rivalen Großbritannien zu isolieren. In der Annäherung der beiden Mächte sah die deutsche Führung nun im Gegenteil eine für sich selbst gefährliche und isolierende Konstellation, weshalb sie nach neuen europäischen Bündnispartnern suchte. Mehrfach bemühte sich die Reichsregierung daher, Russland, das sich im Krieg mit Japan befand, zur Errichtung eines Kontinentalbündnisses zu gewinnen – allerdings ohne Erfolg. Russland war bereits durch den "Zweibund" vertragliche Verpflichtungen mit Frankreich eingegangen, die in Verbindung mit dem britisch-französischen Ausgleich aus Sicht der deutschen Führung faktisch auf eine "Einkreisung" des Deutschlands hinausliefen.
Inzwischen begannen die Franzosen, ihre Vereinbarungen mit den Briten in die Tat umzusetzen und in Marokko eine Politik der stillen Aneignung durchzuführen, die man in der Sprache der Diplomatie als "friedliche Durchdringung" bezeichnet. Am 3. Oktober 1904 erreichten sie eine Vereinbarung mit Spanien, dem der Hauptsache nach der Küstenstreifen im Norden Marokkos mit Ausnahme von Fez zugesprochen wurde.
Dieses Vorgehen allerdings stand ebenso wie der Geheimvertrag zwischen London und Paris im Widerspruch zu der Madrider Konvention vom 3. Juli 1880. In der zwischen dem Sultan von Marokko mit dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn, Großbritannien, Belgien, Dänemark, Schweden, Frankreich, Italien, Spanien, der Niederlande und den USA getroffenen Vereinbarung waren die Unabhängigkeit und der Besitzstand des Maghrebstaates sowie die Rechte der dort lebenden Ausländer festgelegt worden. Zur gleichen Zeit hatten Deutschland und Marokko ein Handelsabkommen geschlossen. Zu den in Madrid getroffenen Abmachungen gehörte insbesondere, dass kein einzelnes Land ohne die Zustimmung der übrigen die internationalen Verträge brechen dürfe. In Berlin fühlte man sich vom Verhalten Frankreichs übergangen, das mit dem Beistand Großbritanniens seinen Einfluss offenbar nach Belieben ausdehnte.
Provokative Geste
Die deutsche Führung ging nun dazu über, unmittelbaren Druck auf Frankreich auszuüben, indem sie auf die Einhaltung des Madrider Abkommens pochte sowie die Sicherung deutscher Wirtschaftsinteressen hinsichtlich der Eisenerzgebiete Südmarokkos verlangte. Ziel dieser Politik war es, Frankreich aus dem Bündnis mit Großbritannien zu lösen. Die Marokko-Frage sollte nach dem Willen Berlins auf einer einzuberufenden internationalen Konferenz geregelt werden.
Gleichzeitig entschloss man sich zu einer weithin sichtbaren – und durchaus provokativ gemeinten – Geste des Protestes: Nach anfänglicher Weigerung gab Kaiser Wilhelm II. Ende März 1905 dem Drängen von Reichskanzler Fürst von Bülow nach und stattete anlässlich einer Reise ins Mittelmeer dem Sultan von Marokko einen Staatsbesuch ab, der diesen diplomatisch aufwerten und die Unabhängigkeit Marokkos unterstreichen sollte. Am 31. März traf der Kaiser mit dem Dampfer "Hamburg" in Tanger ein. Der würdevoll empfangene Monarch sagte mit deutlicher Spitze gegen Frankreich, er hoffe, dass unter der Herrschaft des Sultans "ein freies, souveränes Marokko der friedlichen Konkurrenz aller Mächte geöffnet" werde. Öffentlich brachte er außerdem den Wunsch nach "Handel auf dem Boden der Gleichberechtigung" zum Ausdruck. Damit demonstrierte Wilhelm II., dass Frankreich nur mit Einbindung des deutschen Kaiserreichs seine Interessen in Nordafrika verfolgen könne.
Deutschlands Niederlage in Algeciras
Das brüskierte Frankreich bot den Deutschen daraufhin im Mai 1905 eine bilaterale Beilegung der kolonialen Streitigkeiten nach dem Muster der "Entente Cordiale" an. Berlin hielt aber starrsinnig an seiner Forderung nach der Einberufung einer internationalen Konferenz zur Marokko-Frage fest, die schließlich im Januar 1906 im spanischen Algeciras unter Beteiligung der Vertragsstaaten der Madrider Konvention sowie Russland stattfand. Die Reichsführung hatte allerdings den britisch-französischen Zusammenhalt und den großen Einfluss beider Länder auf die anderen Konferenzteilnehmer unterschätzt. Nur Deutschland, Österreich-Ungarn und Marokko selbst forderten eine vollständige Internationalisierung Marokkos. Ergebnis der langwierigen Verhandlungen war die am 7. April 1906 unterzeichnete "Algeciras-Akte".
Sie garantierte zwar Handelsfreiheit die formelle Souveränität Marokkos, sah aber die Schaffung internationaler Institutionen zur Kontrolle Marokkos vor, in denen Frankreich – sehr zum Verdruss Deutschlands – besonders stark repräsentiert war. Frankreich konnte u.a. durchsetzen, durch, dass die Polizei in den marokkanischen Häfen französischen und spanischen Offizieren unterstellt wurde und dass Paris auch das Bankwesen gemeinsam mit Spanien verwalten durfte. Die neutrale Schweiz erhielt das Mandat, den Generalinspektor der marokkanischen Polizei zu bestellen sowie durch das Schweizerische Bundesgericht gewisse Rechtsfälle beurteilen zu lassen.
Alles in allem hatte Frankreich somit sein Hauptziel erreicht, während das Deutsche Reich immer mehr an Reputation verlor und zusehends in die außenpolitische Isolierung trieb. Aber auch für die sich konstituierende marokkanische Unabhängigkeitsbewegung bedeutete der Ausgang der Konferenz zweifellos eine Niederlage.
Auf dem Weg in die zweite Marokkokrise
Ihre diplomatisches Scheitern in Algeciras hatte die deutsche Führung durch ihr aggressives Vorgehen allerdings selbst verschuldet. Weil Berlin im Lauf der Krise auch mit Krieg gedroht hatte, hatten das Vereinigte Königreich und Frankreich noch engere politische und militärische Bande geknüpft.
"Ich bin Ihnen zuliebe, und weil es das Vaterland erheischte, gelandet [...] auf ein fremdes Pferd trotz meiner durch den verkrüppelten linken Arm behinderten Reitfähigkeit gestiegen, und das Pferd hätte mich um ein Haar ums Leben gebracht [...] Ich ritt mitten zwischen den spanischen Anarchisten durch, zwischen Gaunern und Abenteurern, weil Sie es wollten, und Ihre Politik davon profitierte sollte", warf Kaiser Wilhelm II. seinem Reichskanzler Fürst von Bülow später vor.
Tatsächlich hat das Deutsche Reich von dem kaiserlichen Landgang in Tanger keineswegs profitiert, im Gegenteil, der deutsche Monarch erschien damals wie heute allen als Provokateur und Friedensstörer. Dennoch war das internationale Recht in diesem Fall der Form nach auf deutscher Seite. Frankreich hatte sich in Geheimabsprachen und vertragswidrig bei Spanien, England und Italien freie Hand zur "friedlichen Durchdringung" in Marokko gesichert. Ein "Reformprogramm" für den Staat des Sultans Abdel Azis verschaffte Paris den Zugang. Deutschland sah sich ausgegrenzt und seine Interessen – und diese "sind erheblich" (von Bülow) – verletzt.
Frankreich gelang es nach und nach, Marokko als Kolonie zu gewinnen. Als 1911 innere Unruhen in Marokko ausbrachen, besetzten französische Truppen die marokkanische Hauptstadt Fez. In der Folge kam es zur 2. Marokkokrise3.
Als Ausgleich für die Einverleibung des Maghrebstaates durch Frankreich forderte Deutschland das französische Kongogebiet. Um seiner Forderung militärischen Nachdruck zu verschaffen, entsandte Kaiser Wilhelm II. das Kanonenboot "Panther" nach Agadir. Am Ende musste das Deutsche Reich auf Druck von Großbritannien hin Frankreichs Herrschaft über Marokko anerkennen, Deutschland bekam als Gegenleistung ein unbedeutendes Stück von Französisch-Kongo sowie Gebiete, die an die Kolonie Togo angeschlossen wurden.
Die Marokkokrisen haben nicht nur zu Deutschlands weltpolitischer Isolation beigetragen, sie haben auch Frankreich und England zusammengeschmiedet und die Spannungen zwischen dem Deutschen Reich und seinen Rivalen verschärft, die letztlich direkt in den imperialistischen Krieg führen sollten.