Deutschland ist nicht Amerika
Kultur und Zivilisation oder Geist und Körper: die Erfindung der USA
Die deutsche Soziologie um 1900 erfindet sich das Amerika, das es braucht, um die deutsche Kultur so profilieren zu können, wie sie diese mag, zeigt Georg Kamphausens Studie "Die Erfindung Amerikas in der Kulturkritik der Generation von 1890" (Velbrück Wissenschaft 2002). Die Klischees, die dabei entstehen, halten Jahrhunderte - unabhängig von den sich ändernden amerikanischen Verhältnissen.
Eine Reise nach Amerika
Im Herbst des Jahres 1904 folgt die Crême der deutschen Kulturwissenschaftler einer Einladung eines Kollegen von der Harvard University in die USA. Max Weber, Ferdinand Tönnies, Werner Sombart zählen zu dieser Gruppe, aus der die bedeutendsten Arbeiten über die Moderne, den Kapitalismus, die Industrialisierung und Säkularisierung hervorgehen werden.
Folgt man der Rekonstruktion Kamphausens, dann haben sich offenbar sehr schnell zwei Perspektiven auf Amerika herausgebildet. Entweder begrüßt man begeistert die unverbauten Möglichkeiten, die "Vitalität und Entschlossenheit der wirtschaftlichen und politischen Aktivitäten", die in "scharfem Kontrast" zur Kristallisation und Stagnation des wilhelminischen Reichs erscheinen. Oder man lehnt diesen stürmischen Aktivismus auf Seiten der Wirtschaftsführung und der Industrialisierung als puren Materialismus ab, um die USA zum "materialisierten Prinzip des zivilisatorischen Fortschritts" zu erklären, der jeden Schritt mit einer weiteren Entfernung von der "europäischen Kultur" erkauft. Ob man es nun begrüßen oder kritisieren mag, alle folgen derselben Formel:
"Europa und Amerika verhalten sich zueinander wie Körper und Geist oder Kultur und Zivilisation".
Dass die amerikanischen Intellektuellen dies seit langem ganz anders sehen: nämlich umgekehrt, nehmen die deutschen Soziologen nicht zur Kenntnis. Herman Melville hatte bereits 1851 in "Moby Dick" die These aufgestellt, dass die Vereinigten Staaten der preiswerten Muskelkraft der Welt das Gehirn zur Verfügung stellen, etwa so, wie ein Kapitän eine multinationale Mannschaft zum höheren Wohle der amerikanischen Aktionäre lenkt. Amerikanische Selbstbeschreibungen werden aber kaum zur Kenntnis genommen. Ein Pastor, der in den USA Weber und Troetsch umfassendes Material über den Zusammenhang von Kirche und Wirtschaft zusammengestellt hat, berichtet, dass sich seine Besucher weder für ihn noch sein Material interessiert haben. Er hatte den Eindruck, "that the professors knew all that could be known without having to weigh empirical evidence."
Die deutsche Reisegruppe hochkarätiger Wissenschaftler, so fasst Kamphausen das Ergebnis der Forschungsreise zusammen, "entdeckt" Amerika nicht, sie "erfindet" es. Oder anders formuliert: Sie wissen schon alles über Amerika, bevor sie es besuchen, und berücksichtigen nur, was zu ihren Konstruktionsregeln passt. Ein gewichtiger Grund für diesen "Konstruktivismus" liegt in der Geschichte der deutschen Kulturwissenschaften: Alle lesen Hegel.
Hegels geopolitische Weltgeschichte
"Die Welt wird in die Alte und Neue geteilt", leitet Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte den kurzen, aber ungeheuer wirkungsmächtigen Abschnitt ein, der Amerika gewidmet ist. Der Kontinent steht der Eroberung und Kolonisierung völlig offen, denn was es dort auch immer an autochthoner "Kultur" gegeben haben mag, "musste untergehen, sowie der Geist sich ihr näherte".
Zugrundegegangen an der eigenen "Inferiorität", stehe die "ursprüngliche Nation" Amerikas einer Besiedlung nicht im Wege. Amerika ist mithin Raum ohne Volk - und so "kommt die wirksame Bevölkerung meist aus Europa her", das seinen "Überfluss" hinüber werfe. Die neue Welt habe vor der alten den einen Vorzug der Gestaltbarkeit. Die "Auswandernden haben vieles abgestreift, was ihnen in der Heimat beengend sein konnte, und bringen den Schatz des europäischen Selbstgefühles und der Geschicklichkeiten mit". Geist und Technik entfalten sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Zumal Nordamerika verhalte sich nun zu Europa wie einst Hamburg zu Altona oder Nürnberg zu Fürth. Denn auch dort seinen aus den "versteinerten" Verhältnissen der alten Reichsstädte "viele" in Neugründungen geflohen, die "solchen Zwang nicht hatten". Doch der amerikanische Vorzug der Weite schlägt um in ein Problem, wenn sich die Bevölkerung im Raum verliert, statt sich in einem "wirklichen Staat" zusammenzuschließen.
Der fast vergessene Hegelianer und Gehlen-Schüler Gotthard Günther hat vor fünfzig Jahren die These vertreten, dass die Kolonisierung Nordamerikas nicht nur einen neuen Menschentypus schaffe, sondern eine völlig neue Form der Einbindung des Menschen in seine Welt. Die Neue Welt assimiliere die alteuropäischen Siedler. In einer unerhörten Geschwindigkeit lösten sich die ideologischen, kulturellen und psychischen "Differenzen" der französischen, deutschen, englischen, irischen, russischen oder italienischen Einwanderer in der Weite des Raums auf zugunsten einer "seelischen Uniformität" des american way of life. Jene "Spannungen", lautet Hegels Vorlage, die in Europa aus den Differenzen der Nationen, Stände und Weltanschauungen entstehen, verströmen in den USA einfach in den "Ebenen des Mississippi".
Die Kolonisten, so zieht Günther in "Die amerikanische Apokalypse" die Folgerung, "entfremdeten sich der Alten Welt immer mehr", aber nicht um in der Neuen Welt zu verwurzeln und etwa einen spezifisch texanischen oder kalifornischen Kulturtypus zu entwickeln, sondern um in Amerika ein völlig neues Verhältnis zum Raum zu entwickeln, für das als Schlagwort "the frontier" stehen kann. Der Geist der Frontier löst die Einbindung des europäischen Menschen in regionale Hochkulturen und ihre Geschichte ab durch einen gleichsam in Echtzeit operierenden Pragmatismus in "Weltdimension", der überall, aber immer nur vorläufig - so lange es sich lohnt - zu Hause ist. Dieser Pragmatismus sei vollkommen unhistorisch deswegen, weil er sich nicht für die Geschichte eines Problems interessiere, sondern allein für den cash value einer Idee oder die Anwendbarkeit einer These hier und jetzt. Daher könne Amerika, so Günther, "ignorieren, dass der Mensch in früheren Kulturen schon gedacht hat", und ohne Scheuklappen kultureller Traditionen überall tun, was getan werden kann.
Der hier von Günther mobilisierte Gegensatz von regional verbundener Kultur und globaler Zivilisation ist ein uraltes Stereotyp deutscher Geistesgeschichte, das mitsamt einer ganzen Galaxie von weiteren Distinktionen jederzeit reaktualisiert werden kann. Nur allzu plausibel wirkt das reflexhafte Ressentiment nach den Anschlägen vom 11. September 2001, allein Amerika könne sich über diesen islamistischen Terrorismus wundern, denn es habe in all der unbekümmerten Kurzfristigkeit seines politischen Pragmatismus nie zu sehen gelernt, welche historischen Feinde es sich in der Vergangenheit geschaffen habe. Man könne eben uralte Kulturen nicht behandeln wie den unzivilisierten Raum des wilden Westen - wie ein Sheriff.
All dies ist Hegel, also typisch deutsch, ja preußisch. Die nur rudimentäre Staatlichkeit, die Hegel in den "nordamerikanischen Freistaaten" entdecken kann, diene allein dem "Schutz des Eigentums", was der gesamten "Richtung des Privatmannes" entspreche, sich ganz "Erwerb und Gewinn" zu widmen, wozu seine "protestantische Gesinnung" vorzüglich passe, da auch sie die Religion weitgehend privatisiere und die Kirche entsprechend in "Sekten" zerfalle. Darf man sagen, dass Max Webers These von der Geburt des Kapitalismus aus der protestantischen Ethik nur noch aus diesen Zeilen Hegels herausgelesen werden muss? Der Yankee macht also aus seinem Profit eine Religion, und der Staat schützt laut Hegel jenes nur "formelle Recht", in dessen Deckung "die amerikanischen Kaufleute" die übrige Welt zu "betrügen" suchen. Kein Geringerer als der große Historiker Theodor Mommsen wird 1898 anlässlich des spanisch-amerikanischen Kriegs anmerken:
"Die heulerische Humanität, die Vergewaltigung des Schwächeren, die Kriegsführung zum Zweck der Spekulation und Agiotage drücken diesem amerikanischen Unternehmen ein Gepräge auf, welches noch nichtswürdiger ist, als das der schlimmsten sogenannten Kabinettskriege."
Thomas Mann zitiert diese Passage in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen, die er im Verlaufe des ersten Weltkriegs anstellt, um deutschen Geist und deutsche Kultur der "doktrinären Verlogenheit" des Yankeetums entgegenzustellen. Hegel spricht vom Betrug, Mommsen von der Heuchelei, Mann entdeckt überall nur den angelsächsischen cant, den Betrug in der Maske des Rechts. Carl Schmitt braucht sich hier nur zu bedienen, wenn er auf dem Höhepunkt der Machtentfaltung des Dritten Reiches ausgerechnet in den USA eine Weltmacht sieht, die es versteht, ihren bedrohlichen Einfluss hinter Interventionsverträgen und humanitärem Universalismus zu verstecken und im Schutz eines formellen Rechts eine "in alles sich einmischende Welt- und Weltkriegspolitik" zu betreiben. Carl Schmitts Amerikabild kann, so Kamphausen, auf einer längst etablierten "Plausibilisierung" seiner Begriffe und Unterscheidungen aufbauen, die er der "intellektuellen Elite" seit Hegel, vor allem aber der "Generation von 1890" zu verdanken hat. Noch die Kritik an der "Kalifornischen Ideologie" erbt hier ihre Unterscheidungen.
Das Land der Zukunft - kommt in der Gegenwart an
Zum Abschluss seiner kurzen Passage schenkt Hegel den Kulturtheorien und Ideologien der kommenden Jahrhunderte noch die äußerst zitable Behauptung, Amerika sei "weltgeschichtlich" das "Land der Zukunft" und der "Sehnsucht für alle die, welche die historische Rüstkammer des alten Europas langweilt."
Uns mag dies vermutlich an die Phrase erinnern, was in den USA heute schon gängig sei, stehe uns unweigerlich morgen bevor - doch tatsächlich hat Hegel mit dieser Formel, das stellt Georg Kamphausen klar, Amerika aus der weltgeschichtlichen Gegenwart erst einmal herausgerechnet. Nichts werde passieren, solange Nordamerika nur seinen schier "unermesslichen Raum" auffülle, statt Differenzen in Ordnungen zu überführen oder im Kampf auszutragen. Seine Geschichte beginne erst in der Zukunft, vorerst, so Kamphausen, sei es "Natur" ohne Geist und Kultur, das "Land der Bedürfnisse und Interessen". Bei allem "technischen und materiellem Forschritt" seien die USA "die immer nur modern gewesene ungeschichtliche Nation par excellence".
Kamphausen verweist auf Werner Sombart, der in seinem einflussreichen Buch über den Bourgois (1913) festhält, es gebe für den Kolonisten keine Vergangenheit, sondern "nur eine Zukunft". Gotthard Günther hat dies fünfzig Jahre später nur anders formuliert, wenn er die USA unhistorisch und pragmatisch nannte. Die Meinung kursiert noch heute. Aber wann, die Frage liegt nahe, schlägt dann die Stunde Amerikas? Kamphausen zeigt, dass Hegel hier eine im Kern geopolitische Antwort gibt.
"Zu einer geschichtlichen Macht", fasst Kamphausen Hegel zusammen, "könne Amerika erst dann werden, wenn es keine freien Räume mehr gibt und die Menschen in beengten Verhältnissen leben. Denn die Geschichte ist abhängig von der Bevölkerungsdichte. Die Menschen müssen sich in kompakten Verhältnissen gegenüberstehen, um sich aneinander reiben zu können, erst dann entsteht Geist."
Die geringe amerikanische Bevölkerungsdichte steht für Hegel erst einmal dem Kampf und also dem Geist entgegen. Vorerst müssten die Freistaaten ohne "Nachbarstaat" auskommen, gegen den sie ein "stehendes Heer zu halten hätten", verdeutlicht Hegel die bellizistische Pointe seiner Thesen, deren Klartext für Kamphausen lautet, dass Europa deshalb alleiniger Schauplatz der Weltgeschichte sei, weil nur die Staaten des eng besiedelten Europa im Kampf der Ideen und Weltanschauungen gegeneinander Krieg führen müssen, weil sie nicht einfach in den Raum ausweichen können. Die "französische Revolution", behauptet Hegel, wäre niemals "ins Leben getreten", wenn die unendlichen "Wälder Germaniens noch existiert hätten". Amerika hat die frontier oder den trek, Europa muss kämpfen. Dafür hat Europa Staaten mit Geschichte, Amerika dagegen nur einen nur lose gekoppelten Bund von "Freistaaten".
Geist und Krieg
An dieser Stelle ist es interessant zu bemerken, dass wiederum auch der Umkehrschluss zu gelten scheint: Ohne Krieg stagniert, erschlafft, vergreist Europa. "Sobald der Lebensgenuß zum obersten Gesetz einer Gesellschaft geworden ist", setzt die Erschlaffung ein, führt Kamphausen den französischen Theoretiker der Gewalt: George Sorel an, weshalb der Mensch des Kampfes, ja Krieges bedürfe. In Frankreich hänge eine "feige Bourgeoisie dem Trugbild des sozialen Friedens" nach, während umgekehrt die Amerikaner im Begriff seien, "Eroberer, eine Raubrasse" zu werden. Und Thomas Mann ist mitten im Krieg überzeugt, dass die Welt "im Argen lag vor dem Kriege", weil sie versunken gewesen sei in "sinnlose Wohlstandsanbetung", während die Völker nun endlich wieder zu einem elementaren Ringen angetreten seien, aus dem "unser Europa" geläutert und gereinigt hervorgehen werde.
Der alles reglementierende, bis in den letzten Winkel sorgende und bevormundende Sozial- und Wohlstandsstaat, dessen einzige Entwicklungschance die "Kristallisation" (Arnold Gehlen) sei, müsse sich nun einem Krieg stellen, der nicht auf Seiten der Sekurität, der privaten Egoismen, Interessen und Bedürfnisse geführt werde, sondern Volk gegen Volk in einen Kampf ums Dasein zwinge und ihr historisches Schicksal entscheide.
Kein Wunder, dass im Sommer 1914 nicht nur die Massen, sondern auch die Soziologen, Kulturtheoretiker und Intellektuellen den Kriegsausbruch begeistert begrüßen. Deutschland wähnt sich im "Kulturkrieg", so Kamphausen, gegen jene Mächte der Nivellierung, die bereits die einst so divergenten europäischen Einwanderer in amerikanische Kapitalisten verwandelt hat. Soweit der moderne Kapitalismus im Zuge von Rationalisierung, Industrialisierung, Bürokratisierung, Säkularisierung sich in Deutschland durchgesetzt hat, um jede kulturelle Tradition, jeden Wert zugunsten momentanen pragmatischen Nutzens zu entwerten, geht die Generation von 1890 von einer drohenden Amerikanisierung aus. Man könnte sagen, dass all das, was diese Form der "Zivilisationskritik" an der deutschen Entwicklung zum "Industrie- und Machtstaat" beobachtet und ablehnt, Amerika gleichsam in Reinform zugesprochen wird.
Thomas Mann zitiert diesen Topos der "Amerikanisierung" Deutschlands und verbindet mit ihm die "Verwandlung des deutschen Bürgers, seine Entmenschlichung und Entseelung, seine Verhärtung zum kapitalistisch-imperialistischen Bourgeois", kurz: zum Yankee. Sein Zentrum ist Berlin: eine "preußisch-amerikanische Weltstadt". Europa ist Amerika, und braucht folglich, nach Hegels Formel, einen Krieg, um wieder es selbst zu werden. Bereits Nietzsche behauptete, das "jetzige Europa" bedürfe "der größten und furchtbarsten Kriege", um nicht seine "Kultur" und sein "Dasein" einzubüßen.
Europa kämpft also gewissermaßen in einem furchtbaren Bürgerkrieg gegen seine Amerikanisierung. Europa hielt es, so Thomas Mann, im "bürgerlichen Sicherheits- und Regenschirmstaat auf die Dauer nicht aus", weshalb "Alle den Krieg gewollt haben". Seit Hegel gilt der deutschen Kulturgeschichte der Krieg als jene frische Brise, welche die Menschheit vor der Kristallisation bewahrt. Diese fatale Sicht der Dinge lässt sich durch kein Ereignis korrigieren. Jorge Luis Borges kann sie noch in seiner kurzen Erzählung "Deutsches Requiem" voraussetzen, in der er einen als typisch gezeichneten deutschen Bildungsbürger und SS-Führer nach verlorenem Krieg bekunden lässt:
"Viele Dinge müssen zerstört werden, um die neue Ordnung aufzurichten; heute wissen wir, dass eins dieser Dinge Deutschland gewesen ist. Was macht es aus, dass England der Hammer ist und wir der Amboss? Wichtig ist allein, dass die Gewalt frohlockt."
Das Dritte Reich habe also die Welt vor der Erschlaffung gerettet! Alexander von Schönburg hat 1999 im Adlon von der "Wohlstandsverwahrlosung" einer ganzen Generation gesprochen, die von "von vorne bis hinten entertained" werde. Unserem Europa fehle jede "Spannung". Wie Generationen von Kulturkritikern vor ihm hält er den Krieg für einen möglichen Ausweg.
"Unsere einzige Rettung wäre eine Art Somme-Offensive", schlägt Schönburg vor. "Wäre das hier Cambridge und nicht Berlin, und wäre es jetzt der Herbst des Jahres 1914 und nicht der Frühling des Jahres 1999, wären wir die ersten, die sich freiwillig meldeten."
Auch wenn Schönburg sich hier in eine britische Tradition einzuschreiben sucht, sein Argument ist durch und durch deutsch. Selbst Hinweise auf Kristallisation und Amerikanisierung fehlen nicht, die hier ganz im angelsächsischen Neudeutsch als "Recycling", "Entertainment" und "Relaunch" firmieren. Die Thesen gehören hundertprozentig nach Berlin, nicht nach Cambridge, und die Generation Berlin beerbt nicht die generation lost, sondern den Berliner Philosophen schlechthin und seine soziologischen Schüler.
Man könnte aus der skizzierten weltgeschichtlichen wie geopolitischen Einordnung der USA durch Hegel folgern, dass diese Nation der Zukunft dann in die Gegenwart eintrete, wenn ihre Dispersion im Raum abgeschlossen ist und sie beginnen muss, gegen ihre Nachbarn Krieg zu führen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts haben die Vereinigten Staaten damit begonnen, in stets erfolgreichen Feldzügen ihr Territorium auf Kosten ihrer Nachbarn zu erweitern und gegen den Widerstand der alten europäischen Mächte ihre Einflusszone auf den gesamten Kontinent auszudehnen. Die USA wären also nicht nur längst weltgeschichtlich angekommen, sondern hätten mit ihrer Durchdringung des pazifischen Raums bereits einen weltpolitischen Platz ersten Ranges eingenommen - doch die deutsche Kulturtheorie der "Generation von 1890", wie Kamphausen sie nennt, begnügt sich weiterhin damit, Amerika allein aus der "Gegenüberstellung zu Europa" zu entwerfen, es "ex negativo" zu konstruieren.
Diese "ideenpolitische" Konstruktion benötigt dazu weniger Kenntnisse über die USA als eine kulturtheoretische Meinung über Europa, denn die USA werden unter verblüffender Missachtung aller Empirie schlicht als das Andere Europas entworfen. Den Leitfaden für die Konstruktion dieser Klischees liefert wiederum Hegel, dessen Textstrategie solch untersterbliche Unterscheidungen nutzt wie die von "Kultur und Zivilisation, Geist und Körper, Ordnung und Chaos, Staat und Gesellschaft" oder auch Raum und Geschichte oder partikularer Egoismus und Allgemeinwohl.
Diese Stereotypen haben nichts von ihrem suggestiven Potential verloren, denn sie schaffen einfache Evidenzen in einer komplizierten Welt. Die Legende vom Durchschnittsburgerkonsumenten, der nicht einmal weiß, wo Afghanistan liegt, ist symptomatisch für die Aktualität des Jahrhundert alten Paradigmas der "Erfindung Amerikas".