Deutschland steuert nicht in eine nationale Katastrophe

Seite 2: Die Politik muss sich schleunigst neu orientieren

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Es ist unübersehbar: Wirtschaftlich schwache Zufluchtsstaaten wie Libanon, Jordanien, Irak und Türkei sind mit der Versorgung von Millionen entwurzelter Menschen hoffnungslos überfordert. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die verzweifelten Flüchtlinge nach Europa aufgebrochen sind. Der Wunsch zu überleben, ist ihre Triebfeder.

Das war voraussehbar. Die jahrelange Tatenlosigkeit angesichts der zu erwartenden Völkerwanderungsströme offenbart das Totalversagen der europäischen und der nationalen Politik. Phantasielos begnügte man sich mit der Bekämpfung von Schleppern und der Sicherung der EU-Außengrenzen durch die Grenzsicherungsagentur "Frontex". Gleichzeitig wurde die humanitäre italienische Seenotrettungsaktion "Mare Nostrum", die innerhalb eines Jahres 140.00 Flüchtlinge aus Seenot gerettet hatte, finanziell ausgeblutet. Europa war bis vor wenigen Tagen stur auf Abwehr programmiert.

Man fragt sich, weshalb europäische Gipfelgespräche, wie sie bei Banken-, Währungs- und Griechenlandkrise an der Tagesordnung waren, mit Blick auf die Flüchtlingswelle versäumt wurden. Das erweckt den bösen Anschein, dass Geld wichtiger war als die Rettung von Menschenleben. Was ist das Gebot der Stunde? Die Politik muss sich schleunigst neu orientieren. Es genügt nicht, die Symptome der Völkerwanderungen zu bearbeiten. So wichtig Grenzsicherung, Registrierung, Verteilung, Transport, Unterbringung und Finanzierung auch sein mögen, all das löst das Problem des Flüchtlingszustroms nicht an der Wurzel.

Die Aktivitäten von Merkel, Gabriel, de Maizière & Co erinnern an einen kopflosen Hausbewohner, der bei einem Wasserrohrbruch im Keller nur damit beschäftigt ist, die Einrichtungsgegenstände aus dem Erdgeschoss in den ersten Stock zu schleppen, anstatt die Quelle des Übels, die Bruchstelle, zu reparieren. Wer so verfährt, ruiniert zunächst das Haus und später die Möbel dazu. Auf das Flüchtlingsproblem übertragen, bedeutet das die sofortige Bekämpfung der Fluchtursachen.

Hauptursache des Flüchtlingsstroms aus dem Nahen und Mittleren Osten (Syrien, Irak, Libyen und Irak) sind die von der westlichen Militärallianz verursachten Kriege. Sie haben die ganze Region destabilisiert und die Menschen ihrer Lebensgrundlage beraubt. Wer das verstanden hat, weiß wo er anzusetzen hat. Dies erfordert zunächst den Mut, die Fehler der Vergangenheit einzugestehen. Hieran fehlt es bisher.

Wem vermeintliche Bündnisverpflichtungen sowie rechtlich höchst fragwürdige "Koalitionen der Willigen" wichtiger sind als eine gerechte Friedenspolitik, der muss mit den Flüchtlingsströmen leben - und zwar auf lange Zeit. Gleiches gilt für eine Politik, die glaubt, die Wohlstandsvermehrung im eigenen Land sei wichtiger als eine sozial ausgleichende Entwicklungspolitik in afrikanischen und asiatischen Staaten. Die Konsequenzen aus dieser Einsicht mögen unbequem sein, aber sie sind, um Merkel s Lieblingswort zu gebrauchen, alternativlos.

Bei aller historischen Verbundenheit mit den USA: Europa muss den Mut finden, ureigene Bedürfnisse zu artikulieren. Dies gilt umso mehr, als die Verwerfungen einer falschen Politik allein Europa treffen.

Das Gebot der Stunde ist, die Lage für das leidgeplagte syrische Volk zu verbessern

Konkret heißt das mit Blick auf Syrien: Oberstes Ziel kann nicht sein, den syrischen Staatschef Baschar al-Assad zu vertreiben. Weder sein menschenverachtendes Militärregime noch seine Nähe zu Russland und zum Iran sind ein hinreichender Grund, ihn von der Lösungssuche auszuschließen. Es geht nämlich nicht primär darum, US-Interessenpolitik zu fördern. Das Gebot der Stunde ist vielmehr, die Lage für das leidgeplagte Volk zu verbessern und dadurch den Flüchtlingsstrom an der Quelle zu stoppen. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre geht das aber nicht gegen, sondern nur mit Assad.

Nahziel muss somit sein, den ungeliebten syrischen Machthaber, die wichtigen Regionalmächte (zumindest Türkei, Iran, Saudi-Arabien), die syrische Schutzmacht Russland, die UN und sinnvollerweise auch die EU als Hauptbetroffene des Flüchtlingsdramas schnellstmöglich an den Verhandlungstisch zu bringen. Bekanntlich muss man in Krisenzeiten nicht nur mit Freunden, sondern - vor allem - mit Gegnern reden. Ein in eine Friedenslösung eingebundener Assad ist für das geschundene Land immer noch besser als ein totales Machtvakuum ohne ihn oder gar ein Land unter IS-Terror. Irak und Libyen stehen mahnend vor der Welt: Diktator getötet, mission accomplished, Anarchie, Blutströme, Bürgerkriege, Massenelend.

Die hier geforderte Konferenz für den Mittleren und Nahen Osten (KMNO) gehörte bisher in das Reich der Utopie. Mit Assad reden? Niemals! Mit Putin? Auch nicht, wegen der Krim! Also weitere Waffenlieferungen für die Aufständischen (mittelbar für den IS). Das alles ist das Gegenteil von Politik, es ist ihr Ende.

Doch das war gestern. Unter dem Eindruck der sich entfaltenden Völkerwanderungen und der Erfahrung, dass Europa das Wasser bis zum Hals steht, scheint der Realitätssinn zu wachsen. Es wächst die Bereitschaft, selbst mit dem Teufel zu reden, wenn dadurch die Flüchtlingsströme versiegen. Ziel einer KMNO wäre u.a. eine Allianz gegen das die ganze Region bedrohende IS-Regime. Auch damit könnte eine wichtige Fluchtursache beseitigt werden.

Doch gemach, Verhandlungserfolge benötigen Zeit. Bis dahin wird Europa mit der Massenzuwanderung leben müssen, ob wir es wollen oder nicht. Stacheldrahtzäune und Zugsperren lösen das Problem nicht, sie verlagern es nur nach außen.

Liebe deutsche Landsleute, üben wir uns in Verständnis, Mitmenschlichkeit und Geduld! Wir werden es noch eine Weile brauchen.

Und den Flüchtlingen, die auf Dauer bleiben wollen, sei zugerufen: Wir verstehen eure Not. Wir wollen euch helfen. Erweist euch als gute Gäste, achtet unsere Rechtsordnung und unsere Sitten, erlernt - so schnell wie ihr könnt - die deutsche Sprache, bringt euch mit euren Fähigkeiten ein und fühlt euch dann als willkommene Teile der deutschen Gesellschaft!

Peter Vonnahme, Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof i.R., ehem. Mitglied im Bundesvorstand der Neuen Richtervereinigung.