Deutschland und sein "Impfdebakel"

Seite 2: Der Brexit und die Schlacht um den Impfstoff

Die verzögerte Auslieferung von 50 Millionen Impfdosen – irgendwo hakt es mit der Produktion – durch den schwedisch-britischen Konzern AstraZeneca schärft die giftige Unzufriedenheit mit dem europäischen Führungspersonal, die sich in dieser scharfsinnigen Ex-post-Logik ergeht.

Den vereinigten Nationalisten Europas ist vollkommen klar, dass hier die erste "Post-Brexit-Schlacht" (SZ, 28.1.21) zwischen EU und Großbritannien geschlagen wird: Impfstoff – entweder für die Briten oder für uns!

Und in dieser gemütlichen Stimmungslage hat sich die EU-Kommission, die sich auch nicht so gerne Unfähigkeit im Gebrauch europäischer Macht nachsagen lässt, zu bewähren. Jedenfalls verschärft sie ihrerseits den Tonfall, mit dem sie erstens AstraZeneca und zweitens der britischen Regierung klarmacht, dass sie sich die Verkürzung europäischer Vorrechte auf Impfstoff nicht bieten lässt.

An der Veröffentlichung geschwärzter Vertragsseiten und dem weiteren Verlauf der Affäre könnten sich die aufgeregten Massen dann allerdings über die Rolle belehren lassen, die für sie in diesem Impftheater reserviert ist: Der wirkliche politökonomische Gehalt der Rechte und Verträge mit dem Multi, wie ihn die Kommission mit ihrem Kontrahenten dann letztlich aushandelt, ist die Sache von politischen und kapitalistischen Funktionären und geht das einfache Volk praktisch nichts an.

An jeder nachverhandelten Impf-Charge dürfen sich die Menschen aber Rechenschaft darüber ablegen, ob ihr ideelles Recht auf eine zupackende europäische Führung, welche "uns" nützt und die Briten und ihren Johnson Mores lehrt, von Kyriakides und von der Leyen redlich bedient wird.

Ansonsten können sich die aufgewiegelten Bürger beim Warten auf die Impfung ihre Zeit mit dem Austausch patriotischer Gehässigkeiten vertreiben. Und da bleibt es ganz dem individuellen Geschmack überlassen, ob man die Häme der Briten über das deutsche "Impfdesaster" ("Diesen Sommer keine deutschen Handtücher! Mallorca gehört uns!", Bild, 8.2.21) als weiteren Beleg für die Unfähigkeit des eigenen Führungspersonals nimmt oder postwendend an die Briten zurückreicht, wenn man sie an ihre hohen Opferzahlen und ihre innere Zerstrittenheit zwischen Londoner Zentrale und schottischen Separatisten als ihre drohende zukünftige Schwäche genussvoll erinnert.

Der etwas gehobenere Geschmack darf sich die Räsonnements volkswirtschaftlicher Experten zu Gemüte führen, die auf ihre Art ganz zwanglos darauf zurückkommen, dass das Impfen der Menschheit eine Frage von Geld und Gewalt ist.

Auch wenn sich die wirklich Zuständigen letztlich darauf geeinigt haben, dass die jetzt verfügbare Impfstoffmenge an den beschränkten Produktionskapazitäten hängt, werfen einige VWL-Professoren noch lange nicht ihre Dogmen über den Haufen und plädieren auf "marktbasierte Anreize".

Der Weg in die Corona-Kriegswirtschaft

Gesundheit, die man wie das Leben natürlich nicht mit Geld aufwiegen kann, hat ihre letzte Rechtfertigung im damit verdienten Geld. Anderen Ökonomen fällt zur Impfstoffknappheit das "Modell einer Corona-'Kriegswirtschaft'" ein, in der zeitweise die Patentrechte der Konzerne außer Kraft gesetzt werden könnten: Was sie sonst als marktfremden und eigentumsschädlichen Eingriff einer rohen staatlichen Zwangsgewalt geißeln, avanciert nun zur vorsorgenden Maßnahme einer umsichtig planenden Staatsmacht.

Die Kanzlerin selbst als die zweite Zielscheibe der Kritik lässt aus dem eifersüchtigen Gezeter um "unseren" Impfstoff zunächst etwas die Luft raus, indem sie die Sache demokratisch sauber in eine Demonstration ihrer Führung übersetzt und das Problem mit einer Einladung zu einem nationalen Impfgipfel grundsätzlich anerkennt.

Dort gibt sie ihren Wutbürgern in deren nationalistischer Erregung etwas recht – "Das wurmt einen natürlich", räumt sie ein, wenn andere Nationen beim Impfen schneller sind als "wir" –, um dann fröhlich darauf zu bestehen, "dass im Großen und Ganzen alles gut gelaufen ist": Kritik in der Sache weist sie kategorisch zurück.

Merkel stellt damit klar, dass mit dem "europäischen Weg", den sie eingeschlagen hat, gerade Deutschlands Interesse und die Sorgen seiner Bevölkerung bei ihr, der Kanzlerin, und der EU ganz in den richtigen Händen sind. In diesem Sinne erneuert sie noch ihr "Impfversprechen", dass bis 21. September dieses Jahres jedem Bürger ein Impfangebot gemacht wird, und hebt damit ihr herrschaftliches Verhältnis auf die Ebene eines persönlichen Vertrauensverhältnisses.

Selbstkritik angesichts des Getöbers gibt es aus der Regierung an der demokratischen Methode der manipulativen Vereinnahmung der Regierten, am "Erwartungsmanagement" (Bundesgesundheitsminister jens Spahn (CDU), berlin direkt, 31.01.21): Haben wir der Bevölkerung bei der Selbstinszenierung unserer Politik vielleicht doch zu viel vorgemacht?

Etliche Zeitgenossen in Deutschland können mit dem Europa- und Merkel-Bashing resp. "primitiven" Nationalismus nicht allzu viel anfangen. Die täglich veröffentlichten Impfstatistiken halten sie in gebotener Distanz für einen etwas albernen "Medaillenspiegel des globalen Impf-Olympias", das britische Triumphgeheul "ist ein geradezu kindisches Gebaren einer Nation, die sich eingeredet hat, dass sie ihr Schicksal auf der Welt alleine bestimmen kann", was "natürlich kurzsichtig" ist, wie die Parole "Britain first!" "die Parole der Gestrigen" (SZ, 03.02.21).

Da steht man drüber, angesichts der Maßstäbe, die man selber an sich und die Nation anlegt. Sie erinnern Regierung und Nation an ihre Selbstverpflichtung auf Multilateralismus, deuten im Tonfall der Ermahnung darauf, dass "sich tatsächlich die Welt in der Impf-Frage in reichere und ärmere Länder aufspaltet, (...) dass von Afrika kaum mehr jemand redet" und von Covax, der von der WHO geführten Allianz, "bis heute keine einzige Dosis ausgeliefert ist" (SZ, 06./07.02.21).

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