Deutschlands politische Klasse ist am Ende
Unter Deutschlands Politikern denkt kaum einer weiter als bis zum Ende der nächsten Legislatur
Mitte Juni wurden tausend Menschen im Auftrag des Spiegel von TNS Forschung gefragt: "Wer ist eine moralische Instanz für Deutschland?" Anfang Juli folgte dann: "Wer verkörpert ein Deutschland, wie Sie es sich wünschen?" Die zweite Rangliste führt Günther Jauch an (84 Prozent), Joachim Löw ist dritter (82 Prozent) und Bastian Schweinsteiger vierter (77 Prozent). In der ersten Rangliste rangiert Günther Jauch (50 Prozent) auf Platz 8, knapp hinter Papst Benedikt XVI. (51 Prozent) und vor Margot Käßmann (49 Prozent), Günter Grass (44 Prozent) und Marcel Reich-Ranicki (43 Prozent). Ach, Politiker tauchen auch auf - ihre Riege wird in beiden Listen angeführt von … Helmut Schmidt (in der ersten 74 Prozent, in der zweiten 83 Prozent). Was sagt uns das über die politische Klasse Deutschlands?
Was erregte sich der Blätterwald, als Landesväter und Bundeslandesväter die Brocken hinwarfen. Mal lange vorbereitet, mal kurz entschlossen, mal nachvollziehbar, mal unerklärlich, mal fluchtartig, mal wohlüberlegt. Die Namen bedürfen keiner Aufzählung, sie sind bekannt. Wie immer die Vorgänge in der veröffentlichten Meinung auch bewertet wurden, in einem gingen all die Bekundungen einig: Sie betrachteten die Abgänge als Ausnahme, als Sonderheit. Ganz gleich, ob dies beispielsweise in einem Pro-Contra-Kommentar im "Handelsblatt" als "Rückzug aus freien Stücken" (Matthias Krupa) oder "Mangel an Verantwortungsbewusstsein" (Miriam Lau) bewertet wird – solcher Blick verengt über Gebühr und verkennt die drängende Problematik.
Gehen wir der Sache auf den Grund. Von den Gemeindevertretungen, den Bezirksvertretungen größerer Städte, den Stadt- und Kreisräten, den Landtagen bis zu Bundestag und Bundesversammlung - genau 288.648 Menschen sind gewählt, in der repräsentativen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland "das Volk" zu vertreten. Schon das ist eine beachtliche Zahl, aber natürlich sind im Politikbetrieb weit mehr Personen tätig. Berücksichtigt man alle bis zu den Politjournalisten und Lobbyisten, kommt man in Deutschland auf 479.972 Köpfe. Einzelheiten auch zu Österreich sowie der EU liefert diese Übersicht des Buchautors Hans-Peter Martin, der als unabhängiger, kritischer EU-Abgeordneter den dortigen Betrieb aufzumischen versucht:
Diese rein zahlenmäßige Bestandsaufnahme ergibt zunächst eine beträchtliche Gesamtgrößenordnung, so dass es durchaus berechtigt ist, von der Politik als "Branche" zu reden. Ungeachtet der Ergebnisse, die sie hervorbringt, ist die Politik ein Arbeitsplatzbeschaffer und Wirtschaftsfaktor von Stellenwert, wenn auch kaum bezifferbaren Umsätzen. Aber das nur nebenbei.
Nutzen wir das Zahlenwerk, um einen rein rechnerischen Durchschnittswert zu bilden, wie viele Bürger jeglichen Alters auf einen Abgeordneten entfallen, ergibt sich: Jeweils 284 Bürger/innen vom Baby bis zum Greis werden durch einen Abgeordneten in den politischen Entscheidungsprozessen vertreten. Eigentlich eine überschaubare, fast noch dem Nahbereich zuzurechnende Konstellation. Es nimmt sich aus, als wirke jede Nachbarschaft, jeder Straßenzug, jedes Quartier, jede Siedlung durch "ihren" Vertreter mit. Bei näherer Betrachtung trifft das sogar zu – jedoch nur auf lokalen Ebenen. In Gemeinden und Stadtbezirken, in Städten und Kreisen ist diese Nähe vorhanden, jedenfalls für den, der aufgeschlossen ist für sie oder sie sucht, und sei es auch nur für die Durchsetzung eigener Partikularinteressen.
Wenn wir den derart umrissenen Politikbetrieb bildlich als Eisberg nehmen und genauer betrachten, schwimmt der überwiegende Teil der ehren- und halbamtlich tätigen Volksvertreter im Wasser der Normalbürger. Lediglich der quantitativ kleinere Teil ragt über uns hinaus – und das sowohl faktisch als auch im übertragenen Sinn. Die auf Landes- und Bundesebene angesiedelte Spitze des Eisberges beherrscht der Typus "Berufspolitiker", also der Typus derjenigen Menschen, die vielleicht einen Beruf erlernt haben, aber ihren Lebensunterhalt mit und von der Abgeordnetenexistenz bestreiten. Dementsprechend geben im aktuellen Bundestag 350 von 622 Abgeordneten als Beruf (!) "Mandatsträger" an. Schon diese Tatsache erweckt den oft vorgebrachten Anwurf der "Abgehobenheit". Er gründet auf der Mutmaßung, die von den Wohnorten in die Metropolen verlagerte Existenz als Mandatsträger enthebe aller Fährnisse des "normalen Lebens". Eine wenig haltbare Vereinfachung, denn Berufspolitiker gewärtigen zwar andere, aber vergleichbare Fährnisse – Wieder-Nominierung, Wieder-Wahl, Berücksichtigung für Posten und Ämter stellen durchaus existenzielle Risiken dar.
Einer fundierteren These zufolge haben die Parteien und ihre hauptamtlichen Agenten den Staat zur alleinigen Beute genommen, obgleich sie laut Grundgesetz an der politischen Willensbildung des Volkes lediglich "mitwirken" sollen. Im "Parteienstaat" agiere die politische Klasse nicht nur innerhalb des Systems - und das oft genug zum eigenen Nutzen - , sondern forme das gesamte System nach ihren Bedürfnissen um. So viele Gründe diese Sicht für sich ins Feld führen kann, so sehr verfällt auch sie in eine Verengung der Perspektive. Denn selbst eine politische Klasse, die den "Parteienstaat" schafft und beherrscht, könnte in der Lage sein, größere als die gewöhnlichen Herausforderungen anzunehmen und zu meistern. Ja, sie müsste eigentlich sogar ein Interesse haben, ihre "Sore" zu bewahren, lebens- und womöglich auch zukunftsfähig zu erhalten.
Für keinen wesentlichen Bereich der Ökonomie haben Politiker substanzielle Gedanken
Schauen wir auf die Herausforderungen, vor denen das Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland derzeit steht, entdecken wir die tieferen Gründe für berechtigte Kritik an der politischen Klasse. Viele drängende Probleme sind lange bekannt, tausendmal analysiert und diskutiert, zigmal wurden sie mit Reförmchen angegangen, zigmal sind diese in Flickschusterei versandet: Keines der Systeme der sozialen Sicherung ruht auf einer gefestigten Perspektive; das Bildungswesen unterbietet anhaltend und systematisch seine Möglichkeiten, weder erfüllt es derzeitige, geschweige denn kommende Anforderungen; die Veränderungen der Altersstruktur der Bevölkerung werden nahezu tatenlos beobachtet; gleiches gilt für die Wandlungen in sozialer und räumlicher Struktur, von der Kleinkind- bis zur Altenbetreuung, vom Wuchern der Ballungsräume bis zum Sterben von Dörfern und Landstrichen; die Umgestaltung unserer Energieversorgung verkommt zum Spielball von Wirtschaftsinteressen; der Digitalisierung hechelt die Politik atem- und kopflos hinterher; die eigentlich auf der Hand liegende Ausrichtung der gesellschaftlichen Entwicklung an ökologischen Belangen erfolgt bestenfalls halbherzig, in jedem Fall ziellos. Und dann ist da noch das, was früher als "materielle Basis" einer Gesellschaft bezeichnet wurde.
Auch wenn viele Zeitgenossen diese simple Einsicht nicht (mehr) kennen oder anerkennen (wollen): Alle Antworten auf all die aufgeführten Fragen hängen entscheidend davon ab, wie es der Wirtschaft ergeht. Seit anderthalb Jahrhunderten hat sich die Wirtschaft der jeweiligen Deutschländer nicht nur behauptet, sie hat sich im Weltmaßstab besondere Positionen erarbeitet. Wir heutigen Bürger sind ohne Ausnahme Nutznießer dieser spezifischen Konstellation - und hoffen stillschweigend, es zu bleiben. Zumal gilt dies für Parteien wie "Die Linke", deren gesamtes Politikkonzept darauf gründet, dass andere erwirtschaften, was Lafontaine, Gysi & Co dann großzügig zu verteilen gedenken.
Von daher müsste es eigentlich gerade diese Partei sein, die die fundamentale Tätigkeitsverweigerung der derzeitigen politischen Klasse anprangert und zu beheben versucht: Für keinen wesentlichen Bereich der Ökonomie, geschweige denn für die Gesamtrichtung der Wirtschaft (wie der Gesellschaft) haben Politiker substanzielle Gedanken, Ideen, Vorstellungen erarbeitet. Alles, was ihnen einfällt, ist die gebetsmühlenhafte Beschwörung von Wirtschaftswachstum als Allheilmittel. Kaum dass einmal tatsächlich nennenswerte Wachstumsraten verkündet werden, fällt keiner einzigen Partei Anderes ein, als augenblicklich Wohltaten für ihre jeweilige Klientel zu verlangen.
Es muss beileibe kein fertiges Modell sein, es muss keine Megavision sein, es muss kein kühner Traum sein. Aber eine grobe Richtung, ein ungefährer Pfad mit Etappenzielen, wenigstens eine konkretisierte Ahnung, wie Deutschland in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren aussehen, agieren und funktionieren kann und vielleicht sollte - die Erarbeitung einer derartigen Wegweisung ist das Mindeste, was Bürger von ihrer politischen Klasse erwarten können. Das Erfolgskriterium ist selbsterklärend: Sich beliebige Teilbereiche herauszugreifen und deren bisherige Entwicklung zu extrapolieren, diese beliebte und als Gestaltung verkaufte Methode verdient die Note "ungenügend" mit der Anweisung "setzen". Gerade die sinnvolle und perspektivische Verknüpfung der Teilbereiche ist das Entscheidende.
So windig Frankreichs Hansdampf auch agiert, in dieser einen Hinsicht ist Nicolas Sarkozy tatkräftiger als alle deutschen Politiker: Seine Strategie setzt darauf, die Staatskontrolle über möglichst viele wichtige Unternehmen zu erlangen und knallhart einzusetzen. Zwar weicht er damit von der auch von Frankreich mit beschlossenen EU-Politik ab, der Staat solle sich auf die Regulierung der Wirtschaft beschränken. Aber seine Erwartung geht dahin, dass die solcherart gelenkte Industrie Frankreichs Gesamtinteresse, das selbstverständlich Sarkozy persönlich zu bestimmen vorhat, dient. Wenn alle Fäden an einer Stelle zusammenlaufen, eröffnet sich immerhin die Möglichkeit, eine übergeordnete Strategie verfolgen zu können.
Wirklich nachahmenswert ist dieses übersteigerte Zentralismuskonzept nicht – aber ohnehin denkt unter Deutschlands Politikern kaum einer weiter als bis zum Ende der nächsten Legislatur … Noch nicht einmal die Sicherung des personellen Nachwuchses für Deutschlands Motor für Innovationen und Export, den Maschinen- und Anlagenbau, bringt die politische Klasse zuwege. Im Jahr 2014 werden dort etwa 220.000 Fachkräfte fehlen, bei heute einer Million Beschäftigten – die Folgen sind unabsehbar. Statt dessen stehen Selbstbespiegelung und Selbstbeschäftigung obenan, als seien die Parteien und ihr Verhältnis zueinander die dringlichste Thematik dieser Gesellschaft. Noch die belanglosesten Fragen werden monatelang ernsthaft erörtert, völlig willkürlich aus dem Hut gezauberte Vorschläge für steuerliche Be- oder Entlastungen, für "Reformen", tauchen im Stundentakt auf und verschwinden ebenso unvermittelt wieder.
Die politische Klasse will verwalten statt gestalten
Welches sind die Ursachen, dass die politische Klasse noch nicht einmal schafft, zumindest tragende Elemente eines Konzeptes zu erarbeiten? Oder wenigstens verschiedene Vorschläge dafür? Das Durchschnittsalter der Abgeordneten liegt knapp unter 50 Jahren, sie sind also zumeist nach 1960 geboren – in die prägende Erfahrung hinein, dass alles vorhanden ist, dass alles funktioniert, dass man nichts wirklich selber erschaffen, sondern höchstens hinzufügen muss, dass alles "einfach" zu kaufen ist, und, vor allem, dass alles sowieso immer so bleibt, wie es ist (dies ist ein sozialpsychologischer Grund dafür, dass die deutsch-deutsche Neuvereinigung im Westen als bloße Erweiterung der alten Bundesrepublik empfunden wurde). Alles Nährboden dafür, dass Denken wie Agieren im Gespinst des Status quo und dessen Fortsetzung befangen sind und bleiben – das vorherrschende Charakteristikum bei unseren Mandatsträgern.
Die politische Klasse lebt diese Befangenheit in Reinkultur – sie will verwalten statt gestalten, sie will erhalten statt erschaffen, sie will ihre Positionen sichern statt gefährden, sie will Risiken umgehen statt eingehen. Das Große und Ganze? Die Gesamtgesellschaft? Ein Thema nur für Fensterreden. Soll sich doch wer anders konkreter damit befassen … So ergibt sich eine verheerende Diagnose: Unsere politische Klasse setzt das, für dessen Schaffung und Weiterentwicklung sie qua Amt zuständig und verantwortlich ist, als gegeben voraus. Bei ernsthafter Beschäftigung mit den großen Herausforderungen müsste man hart arbeiten, intensiv diskutieren, angestrengt denken und Farbe bekennen, man könnte vieles, auch alles verlieren, es ließe sich nicht mehr lavieren und alles offenhalten.
Wenn Oskar Negt im Spiegel konstatiert "Im Inneren dieser Gesellschaft brodelt es", dann ist das eine treffende Diagnose (siehe auch meinen TP-Artikel Stolz auf Stabilitätskultur). Es brodelt nicht nur wegen der enormen Wandlungen und Erschütterungen, die unser aller Leben prägen, es brodelt auch wegen der Weigerung der politischen Klasse, die Verantwortung, in die sie hineingewählt und -delegiert wurde, tatsächlich an- und wahrzunehmen. Allein verzweifelte Kraftakte zur Rettung einiger ökonomischer Zentralsäulen unserer Gesellschaft bringen ihre Hauptakteure noch zuwege, indes Kraftakte, die lediglich Zeit kaufen.
Nicht ein paar Rücktritte, nicht Abgehobenheit, nicht Parteienstaat - dies ist die Misere. Und die Bilanz fällt düster aus: Diese politische Klasse ist am Ende. Am Ende nicht nur ihres Wollens und Könnens, sondern am Ende ihrer Daseinsberechtigung. Von ihr ist kein nennenswerter Beitrag zur Entwicklung unseres Gemeinwesens zu erwarten. Allein deshalb ist es der 91jährige Helmut Schmidt, der das höchste Ansehen wie Vertrauen genießt.
Wir Bürgerinnen und Bürger nehmen unser individuelles wie gemeinsames Schicksal doch besser in die eigenen Hände.