"Die Abwärtsspirale muss unbedingt gestoppt werden"
Die Bundestagsabgeordnete Beate Müller-Gemmeke, Sprecherin für Arbeitnehmerrechte bei den Grünen, über Leiharbeit, Werkverträge und sozialversicherungspflichtige Jobs ab dem ersten Euro
Der Anstieg sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse und ein deutlicher Rückgang der Arbeitslosigkeit sollten Anzeichen für positive Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt sein. Doch in Deutschland gibt es bekanntlich eine Schattenseite, die immer größeren Raum beansprucht. Mit den Flexibilisierungsmaßnahmen, die vor zehn Jahren beschlossen wurden, erreichen prekäre Beschäftigungsverhältnisse aller Art eine neue Dimension - Dumpinglöhne und moderne Formen der Ausbeutung inklusive.
Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen wollte nun von der schwarz-gelben Regierung wissen, in welchem Umfang die Bundesagentur für Arbeit Jobsuchende in Leiharbeit vermittelt und inwiefern dabei Aspekte der Nachhaltigkeit eine Rolle spielen. Telepolis sprach mit der Bundestagsabgeordneten Beate Müller-Gemmeke, die sich bei den Bündnisgrünen mit Fragen der Arbeitnehmerrechte beschäftigt, über die ernüchternden Ergebnisse.
Frau Müller-Gemmeke, Sie haben von der Bundesregierung erfahren, dass 34 Prozent der bei der Bundesagentur im Jahr 2012 gemeldeten Stellen aus der Leiharbeit stammten. Zwischen 2006 und 2012 stieg ihr Anteil um 9 Prozent. Wie bewerten Sie diese Zahlen?
Beate Müller-Gemmeke: Ich kann mich nicht darüber beschweren, dass Leiharbeitsfirmen offene Stellen melden. Die hohe Zahl ist allerdings ebenso besorgniserregend wie der durch mehrere Studien belegte Umstand, dass über 50 Prozent der Leiharbeitsverhältnisse auf maximal drei Monate befristet sind. Ich sehe da keine Nachhaltigkeit und befürchte, dass es die Bundesagentur vor allem auf eine gute Vermittlungsquote abgesehen hat.
Aufschlussreich waren die regionalen Aspekte der jüngsten Auswertung. Demnach lag der Anteil der neu gemeldeten Stellen aus der Leiharbeit in einer Krisenregion wie Berlin-Brandenburg im Jahr 2012 bei 26,8 Prozent. Baden-Württemberg, das vermeintliche Vorzeigeland in wirtschaftlicher Hinsicht, kam auf 38,5 Prozent.
Beate Müller-Gemmeke: Diese Ergebnisse haben mich auch erstaunt. Eine Erklärung ist wohl in den unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen zu finden. In Baden-Württemberg gibt es die klassische produzierende und verarbeitende Industrie, Berlin-Brandenburg hat einen Schwerpunkt im Dienstleistungsbereich, in dem das Lohnniveau ohnehin niedriger ist. Hier lohnt sich der Umweg über die Leiharbeit offenbar nicht so sehr.
Die Zahl der Aufstocker in der Leiharbeit ist ebenfalls deutlich gestiegen, obwohl 86 Prozent von ihnen Vollzeit arbeiten. Hier sparen Unternehmen augenscheinlich gezielt auf Kosten des Staates beziehungsweise der Sozialkassen.
Beate Müller-Gemmeke: Die Bundesregierung argumentiert, man müsse die jeweiligen Beschäftigungsverhältnisse und die Motivation der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter sehr differenziert betrachten. Das sehe ich auch so, allerdings zeigen mir die Zahlen zwei eindeutige Sachverhalte: Erstens ist das Lohnniveau in der Leiharbeit deutlich zu niedrig, zweitens ist das Risiko, am Ende des Monats aufstocken zu müssen, in der Leiharbeit besonders hoch.
Aber es gibt doch seit Januar 2012 einen Mindestlohn für die Zeitarbeitsbranche, der aktuell bei 7,50 Euro (Ostdeutschland) und 8,19 Euro (Westdeutschland) liegt. Die Zahlen, die Sie bekommen haben, stammen aus dem Jahr 2012. Bringt der Mindestlohn nichts – oder noch nichts?
Beate Müller-Gemmeke: Doch, durchaus. Die Beschäftigten, für die von christlichen Gewerkschaften niedrige Tariflöhne ausgehandelt wurden, haben klare Vorteile durch den Mindestlohn. Das gilt, um ein weiteres Bespiel zu nennen, auch für Beschäftigte, die aus dem Ausland versendet wurden. Die bisherigen Regelungen gehen aber nicht weit genug. Leiharbeiter müssen genauso viel verdienen wie die festangestellten Mitarbeiter eines Unternehmens, die in einer vergleichbaren Position beschäftigt sind. Und das vom ersten Tag an.
Offenkundig weichen immer mehr Arbeitgeber, die ihre Lohnkosten drücken wollen, auf Werkverträge aus (Ingenieure als Leiharbeiter). Die Bundesregierung will diese Entwicklung "im Auge behalten".
Beate Müller-Gemmeke: Wie soll man denn etwas im Auge behalten, wenn keine konkreten Zahlen vorliegen? Wir brauchen erst einmal eine verlässliche Datenbasis.
Wir wollen Leiharbeit und Werkverträge deutlich voneinander abgrenzen
Die könnte schon in Arbeit sein. Die Linkspartei hat in den Bundestag einen Antrag eingebracht, um eine gesetzliche Meldepflicht für Werkverträge, Leiharbeitsbeschäftigte und Honorarverträge zu erreichen. Der Antrag wurde von CDU und FDP bereits abgelehnt. Die SPD hat sich enthalten. Ihre Partei allerdings auch.
Beate Müller-Gemmeke: Das stimmt, das liegt aber daran, dass wir nicht über das Ziel hinausschießen wollen. Es kann nicht darum gehen, Werkverträge unter Generalverdacht zu stellen, für jeden einzelnen Vertrag eine Meldepflicht einzuführen und damit kleinen und mittleren Unternehmen das Leben schwer zu machen.
Es ist niemandem geholfen, wenn wir von der Deregulierung des Arbeitsmarkts wieder ins andere Extrem fallen. Wir wollen den Missbrauch bekämpfen und brauchen deshalb Rahmendaten, die Entwicklungen und Tendenzen erkennen lassen.
Wie viel Zeit würde eine Analyse in Anspruch nehmen?
Beate Müller-Gemmeke: Das kann zwei, drei Jahre dauern.
Darauf können Sie nicht warten. Schon gar nicht, wenn Sie im September die Wahl gewinnen wollen.
Beate Müller-Gemmeke: Darauf werden wir auch nicht warten. Deshalb haben wir eine Reihe von Vorschlägen erarbeitet, die sofort umgesetzt werden können. Wir wollen Leiharbeit und Werkverträge deutlich voneinander abgrenzen und auch Änderungen im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vornehmen. Im Grunde lässt sich relativ schnell definieren, wann ein Werkvertrag regulär durchgeführt wird.
Nehmen Sie einen ganz einfachen Fragenkatalog: Handelt es sich tatsächlich um ein "Werk"? Wer trägt das unternehmerische Risiko? Sind die Arbeiter auf dem Gelände des Unternehmens beschäftigt, das den Werkvertrag bestellt hat? Und führen sie dort vielleicht sogar dieselben Tätigkeiten aus wie die regulär Beschäftigten?
Wenn an diesen Stellschrauben gesetzliche Schlupflöcher geschlossen werden, sind wir der Lösung des Problems schon ein Stück näher.
Aber Sie rechnen nicht ernsthaft damit, dass findigen Arbeit- und Auftraggebern keine Alternativen mehr einfallen? Im Grunde müssten Sie doch jetzt schon antizipieren, was als nächstes kommt.
Beate Müller-Gemmeke: Zugegeben, die Politik läuft der Entwicklung viel zu oft hinterher. Es ist allerdings auch extrem schwierig, die Bildung von Schlupflöchern und Grauzonen vorauszusehen und Gesetze können nicht jeden Einzelfall regeln.
Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass viel mehr getan werden muss und auch viel mehr getan werden kann, um die Situation für Geringverdiener, Minijobber oder Zeitarbeiter zu verbessern. Wir können zunächst die bestehenden Gesetze nachschärfen und spürbarere Sanktionen verhängen. Wir plädieren außerdem für einen gesetzlichen Mindestlohn – von zunächst 8,50 Euro pro Stunde – und wollen die Tarifparteien ermuntern, sich darüber hinaus auf weitere branchenspezifische Mindestlöhne zu einigen, wenn die Tarifbindung an sich immer schwächer wird.
Wenn wir endlich allgemeinverbindliche Löhne für alle Branchen haben, dann ist es nicht mehr interessant für Arbeitgeber, Schlupflöcher zum Senken der Lohnkosten in geltenden Gesetzen zu suchen.
Bei der Deregulierung des Arbeitsmarkts wurden Fehler gemacht
Ihre Partei war in der Regierungsverantwortung, als die Agenda 2010 und eine umfassende Deregulierung des deutschen Arbeitsmarkts beschlossen wurden. Die SPD wird in der Öffentlichkeit in erster Linie verantwortlich gemacht, aber …
Beate Müller-Gemmeke: … uns fällt die Agenda 2010 ebenfalls auf die Füße. Das merke ich bei vielen Veranstaltungen und Diskussionsrunden.
Und wie gehen Sie damit um? Was ist denn die wahltaktisch klügste Argumentation?
Beate Müller-Gemmeke: Wir kommen nicht um die Feststellung herum, dass bei der Deregulierung des Arbeitsmarkts Fehler gemacht wurden, die dringend korrigiert werden müssen. Man kann ja immer darauf hinweisen, dass vor zehn Jahren eine ganz andere Situation herrschte und Deutschland immerhin fünf Millionen Arbeitslose hatte. Das ändert aber nichts daran, dass die Folgen politischer Entscheidungen regelmäßig überprüft werden müssen und man zu der Feststellung gelangt, dass etwas schiefgelaufen ist und wir umsteuern müssen.
Nehmen wir das Problem der sachgrundlosen Befristung: Wenn eine solche Möglichkeit von Firmen wie amazon schamlos ausgenutzt wird, muss eine neue Regelung her. Insofern plädiere ich dafür, die Entwicklung der letzten zehn Jahre genau zu analysieren und Fehlentwicklungen offen anzusprechen. Ich denke, damit können die Wählerinnen und Wähler sehr gut umgehen.
Sie haben sich für den Fall der Regierungsübernahme auf eine Koalition mit der SPD und ihrem Spitzenkandidaten Peer Steinbrück festgelegt. Ist das nicht die denkbar unglücklichste Wahl, wenn man einen Neuanfang in der Arbeitsmarktpolitik glaubwürdig vertreten will?
Beate Müller-Gemmeke: Darüber habe ich mit Herrn Steinbrück noch nicht gesprochen. Ich kenne aber die Positionen und Konzepte der SPD. Sie sind nicht in allen Details deckungsgleich mit unseren Überlegungen, wir liegen aber sehr nahe beieinander. Der Rest ist Sache von Koalitionsverhandlungen. Ich glaube schon, dass wir in der Arbeitsmarktpolitik eine gute gemeinsame Linie finden werden.
Rund 7,5 Millionen Menschen arbeiten als "geringfügig entlohnte Beschäftigte" - ein beträchtlicher Teil nicht unbedingt freiwillig. Ist das Ideal von guter und gut bezahlter Arbeit zur Illusion geworden?
Beate Müller-Gemmeke: Ich bin nicht blauäugig. Die Arbeitswelt hat sich in den letzten 20 Jahren dramatisch verändert. Trotzdem werden wir das Ziel, dass Menschen am Ende von ihrer Arbeit leben können, nicht aufgeben. Wir brauchen wieder soziale Leitplanken auf dem Arbeitsmarkt – und dafür haben wir klare Konzepte. Bezüglich der Minijobs befinden sich die Grünen noch in einem intensiven Diskussionsprozess.
Ich bin dafür, dass jeder Job ab dem ersten Euro sozialversicherungspflichtig ist. Die Abwärtsspirale muss unbedingt gestoppt werden. Die Arbeitsbedingungen haben schließlich auch viel mit der Würde eines Menschen zu tun.