"Die AfD stellt vor allem das Deutsch-Sein in den Mittelpunkt"

Seite 2: "Deutsch-Sein wird als Anerkennungsressource aktiviert"

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Sie haben über "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" geforscht. Was verstehen Sie darunter?

Wilhelm Heitmeyer: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit passt genau in das Zielbild der AfD. Mit diesem Begriff, den wir 2002 eingeführt haben, wurde auch eine rechtspopulistische Einstellung in der Bevölkerung untersucht. Damals gab es schon 20 Prozent Zustimmung. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit heißt, dass Menschen allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit und unabhängig von ihrem individuellen Verhalten in die Abwertung, Diskriminierung und insbesondere in Ostdeutschland in die Gewalt hineingeraten. Das sind in der Regel vermeintlich schwache Gruppen. Das können Juden, Muslime, Flüchtlinge, Obdachlose und Homosexuellen sein.

Die sind in dieser Sicht aus sozialen Gründen nicht nützlich für den Erfolg der Volkswirtschaft. Auf der anderen Seite bedrohen sie das Deutsch-Sein - sie bedrohen unsere nationale Identität. Deshalb tönt vor allem die AfD mit diesen ganzen Schlagworten: Wir holen uns unser Land zurück, Deutschland zuerst und so weiter. Das Deutsch-Sein in Deutschland wird sehr hoch gepuscht und das führt bei Teilen der Bevölkerung zu diesem Wahlvotum.

Wie äußert sich die gesellschaftliche Desintegration und die sinkende Bedeutung der Demokratie?

Wilhelm Heitmeyer: Es läuft seit vielen Jahren etwas ab, was ich Demokratie-Entleerung genannt habe. Das heißt der Apparat läuft wie geschmiert, aber das Vertrauen von Teilen der Bevölkerung in die Lösung bestimmter Probleme hat abgenommen.

Jetzt muss man sagen, dass ja gerade bei den letzten Landtagswahlen und bei der Bundestagswahl die Wahlbeteiligung wieder angezogen hat. Das hängt meines Erachtens mit dieser hochgradigen Emotionalisierung innerhalb des Wahlkampfes zusammen. Auf der anderen Seite gibt es so etwas wie gesellschaftliche Desintegration für bestimmte Gruppen. Sie haben kein Vertrauen mehr in die Demokratie und merken, dass bestimmte Zugänge zu Systemen wie Arbeit - oder nehmen Sie in den größeren Städte den zum Wohnungsmarkt - nicht mehr möglich sind. Diese gesellschaftliche Desintegration führt dazu, dass Menschen sich nicht anerkannt fühlen. Diese Anerkennungsdefizite tragen enorm dazu bei, dass plötzlich diese kulturelle Karte gezogen wird. Deutsch-Sein wird als Anerkennungsressource aktiviert.

Die AfD verspricht ein autoritäres Kontroll-Regime

Viele sprechen bei der AfD von rechtspopulistisch und manche sogar von rechtsextrem. Wie ist Ihre Definition?

Wilhelm Heitmeyer: Die AfD in der heutigen Form kann man nicht mehr als rechtspopulistisch ansehen. Das wäre eine totale Verharmlosung. Auf der anderen Seite muss man vorsichtig sein mit der Einordnung als rechtsextrem oder gar neonazistisch, denn diese beiden Varianten operieren ja oft mit Gewalt. Das ist bei der AfD nicht zu beobachten. Es geht hoch aggressiv zu, aber nicht mit physischer Gewalt.

Für mich ist die AfD der Ausdruck eines autoritären Nationalradikalismus und das ist ein neuer Typus. Das Autoritäre kommt aus dem ganzen Bereich der Kontrolle. An vielen Stellen ist es so, dass Menschen den Eindruck haben, sie hätten einen Kontrollverlust erlitten. Kontrollverlust über ihre eigene Biografie, über ihre sozialen Verhältnisse, aber auch einen Kontrollverlust bei der Zuwanderung. Die AfD verspricht ein autoritäres Kontroll-Regime, um das wieder in eine neue Ordnung zu bringen. Das ist der eine Punkt - das Autoritäre.

Der zweite Punkt ist das Nationale - also Deutschland zuerst und koste es, was es wolle. Das dritte ist der Radikalismus mit einem hochgradig emotionalisierten und Grenzen überschreitenden Mobilisierungsstil.

Man muss vorsichtig sein mit Etiketten wie Rechtsextreme und Neonazis. Daraus zieht die AfD ihren Opferstatus und das hat sich als hoch erfolgreich herausgestellt. Im letzten Wahlkampf und auch bei den aktuellen Vorfällen rund um die Frankfurter Buchmesse.

Die Digitalisierung wird die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt radikal verändern. Die Politik hat darauf bisher keine wirklichen Antworten geliefert. Bei vielen Teilen der Bevölkerung wird das die Angst vor dem sozialen Abstieg verstärken, was nicht nur für die gering qualifizierten Menschen gilt. Wird das den Trend zu völkischen und rechten Parteien weiter stärken?

Wilhelm Heitmeyer: Seit langem fegt die Globalisierung durch unsere Gesellschaften und hinterlässt ja zum Teil soziale Verwüstungen. Bei der Digitalisierung scheint es so zu sein, dass Teile der Politik schon jetzt wissen: "Alles wird gut." Seriöse Industriesoziologen können da überhaupt keine Prognosen abgeben und daraus entstehen ja wieder Unsicherheiten. Das führt wieder zu der Frage eines möglichen sozialen Abstiegs.

Ich bin der Überzeugung, dass wir dieses autoritäre Muster in Europa vorläufig nicht wieder los werden. Das kann man auch an der autoritären Einfärbung in ganz Europa sehen - nur in Spanien und Großbritannien haben wir keine rechtspopulistische Bewegung oder vergleichbare Parteien. Besonders schlimm sieht es in Polen und Ungarn aus, wo diese Leute schon autoritäre Regime errichtet haben. Ich habe 2001 einen Artikel geschrieben über den autoritären Kapitalismus, die Demokratie-Entleerung und den Rechtspopulismus. Die These war, dass dann, wenn es so weiterläuft, der große Gewinner dieser Entwicklung ein rabiater Rechtspopulismus sein wird. Offensichtlich war diese These nicht so ganz falsch und wir müssen uns darauf einstellen, dass das auf längere Sicht so bleibt, angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen - also des autoritären Kapitalismus - der immer mehr Landnahme durchführt und Gesellschaften durcheinanderwirbelt.

"Wir brauchen einen innerstädtischen Lastenausgleich"

Was ist zu tun?

Wilhelm Heitmeyer: Zunächst ist das natürlich eine Hundertausend-Dollarfrage, die ich im Grunde gar nicht beantworten kann. Im Kleinen geht es darum, dass die Politik nicht anfangen kann zu sagen: Ja, wir müssen euch ernst nehmen, wir nehmen euch ernst, aber wir machen weiter wie bisher. Die Bundeskanzlerin hat gesagt: "Sie wisse gar nicht, was sie hätte anders machen sollen." Das sind keine guten Zukunftsaussichten.

Es müssen sichtbare Veränderungen gerade in den Stadtvierteln von Gelsenkirchen, von Duisburg oder dem Essener Norden erkennbar sein. Das müssen deutliche Investitionen, wie die Sanierung von Schulen und dergleichen mehr sein. Es muss sichtbar sein und darf nicht einfach in irgendwelchen nebulösen Versprechungen enden. Die Stadtteile müssen entlastet werden, in denen vor allem viele Flüchtlinge angesiedelt wurden. Die unteren sozialen Schichten tragen die besonderen Lasten der Flüchtlingsbewegung, während die gut gestellten Stadtteile davon verschont geblieben sind. Man verrät ja kein Geheimnis, dass in gut betuchten Stadtteilen auch viele Lokalpolitiker und andere Politiker wohnen. Wir brauchen einen innerstädtischen Lastenausgleich. Nur so wird gesehen, dass die Sorgen der Menschen in diesem belasteten Stadtteil ernst genommen werden. Ich muss allerdings gestehen, dass ich da wenig Hoffnung habe.

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