Die Arbeit der Wahrnehmung
Seite 4: Wahrnehmungsarbeit
Die Aufgaben, die von Psychologen entwickelt wurden, um die visuelle Wahrnehmung des Menschen zu testen, wurden zu wirklichen Aufgaben, denen sich die Bediener von Mensch-Maschine-Systeme stellen mußten. Wie bei einem Wahrnehmungsexperiment muß der Beobachter eines Radargerätes den Bildschirm nach einem kaum bemerkbaren Lichtpunkt absuchen. Wie die Versuchsperson bei einem Experiment zur Identifizierung muß er raten, ob dieser Punkt derselbe ist oder sich von einem anderen unterscheidet, den er zuvor als einem freundlichen Flugzeug zugehörig erkannt hatte. Ein Luftabwehrschütze ist einem Experiment zur Wiedererkennung unterworfen, wenn er versucht, ein Flugzeug an seiner Form zu identifizieren. Und alle, besonders natürlich der Pilot, sind in ein Experiment über Reaktionszeiten verwickelt.
Der Aufbau der psychophysikalischen Experimente des 19.Jahrhunderts wurde somit zur Grundlage der militärischen und bald auch zivilen Arbeitsplätze der postindustriellen Gesellschaft. Dann ging es wieder von dort zurück in die Laboratorien und führte zu derart engen Verknüpfungen zwischen der Grundlagenforschung der Experimentalpsychologie und ihren praktischen Anwendungen, daß sie nicht mehr voneinander abtrennbar waren.
1947 beschreibt beispielsweise ein Artikel im "American Psychologist" die an drei Bereichen ausgerichtete Arbeit des Naval Research Laboratory: "dem Design von Geschützfeuer- und Raketenabschußinstrumenten aus der Perspektive einer leichten und effizienten Bedienung, dem Design und der Bewertung von synthetischen Geschütz- und Raketenabschußplätzen für die Ausbildung und der psychologischen Grundlagenforschung."
Aber was bedeutet hier Grundlagenforschung? "Die ganze Grundlagenforschung", so kann man lesen,"richtet sich auf das Problem der Hand-Auge-Koordination bei der Zielverfolgung." Das ist nur ein Beispiel für militärisch definierte Aufgaben, die in das psychologische Laboratorium gelangten und schrittweise zu einem Standardexperiment der Psychophysik wurde.
Die Begriffe angewandte Experimentalpsychologie, Human Engineering und Mensch-Maschine-Technik werden heute durch einen anderen Begriff ersetzt - durch den menschlichen Faktor.
Der Radarbeobachter, der in den 40er und 50er Jahren als prototypisches Beispiel für ein Mensch-Maschine-System galt, wurde in den 80er Jahren vom Computerbenutzer abgelöst.
Die Orientierung an Mensch-Maschine-Systemen wurde von der an Mensch-Computer-Systemen abgelöst. Derselbe Aufwand an intellektueller Energie und an Forschung, der in der Mitte des Jahrhunderts für die theoretische Erfassung der Leistung eines Radarbeobachters und der wechselseitigen Anpassung des Beobachters und des Radargerätes aufgebracht wurde, geht heute in die Untersuchung über Computer-Schnittstellen. Aus der Retrospektive sollten wir den Radarbeobachter als zentrale Figur an den Anfängen der postindustriellen Gesellschaft erkennen, mit der die neuen Disziplinen der mentalen Effizienzsteigerung in Gang kamen: die Technifizierung der Psychologie, der menschlichen Informationsverarbeitung und der Kognitionswissenschaft.
Wenn der Radarschirm der 40er Jahre die erste moderne Mensch-Maschine-Schnittstelle war, so ist die VR-Technologie die jüngste.
Obgleich VR normalerweise mit Realitätsflucht, mit freiem Spiel und freier Phantasie assoziiert wird, so ist sie doch nur beine andere Entwicklung in der Geschichte des Human Engineering. Die Steuerung wurde von den Spezialisten für den menschlichen Faktor, den direkten Nachkommen der Spezialisten für Human Engineering der 40er Jahre, konstruiert. Dazu setzten sie all das Wissen ein, das die Psychologie über die menschliche visuelle Wahrnehmung erworben hat, um es möglichst effizient zu gebrauchen. Bei der VR-Technologie sehen wir das letzte Überbleibsel aus dem Zeitalter der Handarbeit - einen Arm in einem Datenhandschuh. Er wird bald verschwinden, da der Benutzer durch Blickverfolgung das System steuern kann, indem nur auf bestimmte Punkte schaut. Perzeptuelle Arbeit wurde zur Grundlage für Spiel und Arbeit.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer