Die Arbeit der Wahrnehmung
Seite 3: Human Engineering
Die schrittweise Ausbreitung der praktischen Anwendungen der Experimentalpsychologie ergibt eine präzise Karte von den neuen Berufen und Bedingungen moderner Erfahrng, die perzeptuelle Fähigkeiten verlangen.
Während des 1.Weltkrieges setzten England, Deutschland und Frankreich Experimentalpsychologen ein, um Tests für Piloten, Aeronauten und Flugzeugbeobachter, für Überwacher des Hydrophons und Unterwasser-'Lauscher" von Funkmitteilungen entwickelten und auswerteten. In der Friedenszeit veröffentlichte eine Reihe von Forschern Untersuchungen über die Lesbarkeit von geschriebenem Text und Autobahnzeichen sowie über die Sichtbarkeit von Lichtern auf dem Meer. Gleichwohl waren in der industriellen Welt, in der der Arbeiter als ein menschlicher Motor verstanden wurde und in der man vorwiegend mit Handarbeit sich befaßte, solche Studien eher eine Ausnahme als die Regel.
Erst im 2.Weltkrieg kam das Wissen der Experimentalpsychologen zum Einsatz. Das erste Buch über angewandte Experimentalpsychologie beginnt damit, die jüngsten Bereiche des Feldes zu beschreiben:
"Über Jahre hinweg haben Experimentalpsychologen fleißig in akademischen Laboratorien gearbeitet und die menschlichen Fähigkeiten des Wahrnehmens, Arbeitens und Lernens untersucht. Nur sehr langsam wurden jedoch die gesammelten Fakten und Methoden im Alltagsleben angewandt. Ein besonders großer Mangel in der modernen industriellen und militärischen Technologie entsteht durch das Fehlen des Human Engineering - der Gestaltung der Maschinen für den menschlichen Gebrauch und der Gestaltung menschlicher Aufgaben beim Bedienen von Maschinen. Ingenieure für Bewegung und Zeit haben über viele dieser Probleme gearbeitet, aber man braucht auch den Experimentalpsychologen mit seinem fundamentalen Wissen von den menschlichen Fähigkeiten und mit seinen Methoden, die menschliche Leistung zu messen.
Der letzte Weltkrieg stellte schlagartig diesen Mangel heraus. Im Krieg wurden viele komplexe Maschinen benötigt und produziert. Er nahm die Ressourcen sowohl des Designers als auch des Bedieners stark in Anspruch, die Maschinen für den menschlichen Gebrauch geeignet zu machen. Der Krieg brachte auch Psychologen, Physiologem, Physiker, Designingenieure und Ingenieure für Bewegung und Zeit zusammen, um einige der Probleme zu lösen. Aber der Großteil ihrer Arbeit begann zu spät, um positive Auswirkungen zu haben.
Heute sind viele Gruppen mit der Untersuchung von Mensch-Maschine-Problemen beschäftigt. Sie verwenden verschiedene Bezeichnungen, um ihre Arbeit in den unterschiedlichen Bereichen zu beschreiben: Biotechnologie, Biomechanik, Psychoakustik, Human Engineering und Systemforschung. Auch andere Namen können verwendet werden oder in der Zukunft auftauchen. Während der Suche nach einem Titel für dieses Buch versuchten wir eine Bezeichnung auszuwählen, das den Gegenstand ohne die restriktiven Konnotationen beschreibt, die einigen der oben erwähnten Bezeichnungen eigen sind. Angewandte Experimentalpsychologie scheint am besten diese Anforderungen zu erfüllen, weil die traditionellen Daten und der Gegenstand der Experimentalpsychologie für diesen Bereich fundamental sind."
Schon vor dem Krieg halfen Experimentalpsychologen, das militärische Personal für die Aufgaben eines Piloten oder eines Flugzeugbeobachters durch die Auswertung von besonderen Eignungstests auszuwählen. Während des Krieges wurde eine viel größere Zahl von Piloten, Radarbeobachtern und anderes Personal in diesem Bereich benötigt. Der Schwerpunkt verlagerte sich deshalb von der Auswahl des Personals mit besonders guten perzeptuellen und motorischen Fähigkeiten auf das Design der Ausrüstung (Kontrollanzeigen, Radarschirme, Warnlichter, Zifferblätter), um diese den sensorischen Fähigkeiten einer Durchschnittsperson anzupassen. Und es war die Experimentalpsychologie , die das Wissen über die sensorischen Fähigkeiten einer statistischen Durchschnittsperson besaß: Wie Erkennbarkeit und Schärfe sich während Tag und Nacht verändern; wie die Unterscheidung von Farben und Helligkeit im Verhältnis zur Beleuchtung und zur Entfernung schwankt; welche kleinste Lichtmenge ausreicht, um verläßlich bemerkt zu werden usw. Diese Ergebnisse wurden jetzt dafür eingesetzt, um bessere Informationsoberflächen und Kontrollanzeigen für die ersten modernen Mensch-Maschine-Systeme wie Düsenflugzeuge oder Radaranlagen zu gestalten.
Die Entwicklung der Mensch-Maschine-Systeme während des 2.Weltkrieges zeigte die Grenzen der perzeptuellen und mentalen Leistung beim Menschen. Das war ein zweiter Grund, warum Experimentalpsychologen hinzugezogen wurden. Die Leistung eines Mensch-Maschine-Systems wurde von der Kapazität des Menschen beschränkt, Informationen zu verarbeiten.
Wir können eine Maschine bauen, die fast alles tun kann, wenn wir über genügend Zeit und Ingenieure verfügen. Aber der Mensch setzt solchen Entwicklungen Grenzen, zumindest so weit wir das beurteilen können. Wenn man daran denkt, wieviel ein Radargerät im Bruchteil einer Sekunde ausführen kann, und dann im Vergleich erkennt, daß selbst die einfachste Reaktion eines Menschen ungefähr eine fünftel Sekunde erfordert, dann sieht man, womit wir zu tun haben ... Das volle Potential eines Radargerätes bleibt weit hinter den möglichen physikalischen Entwicklungen zurück, weil das Bedienungspersonal die komplexen Operationen dieses Maschinensystems nicht beherrschen kann. Wir mußten uns etwa mit einer neuen Art eines visuellen Signals herumplagen - sehr klein und nicht sehr hell.
Alphonse Chapanies, Wendell R.Garner, Clifford T.Morgan
Wenn man bedenkt, daß die Autoren die Arbeit der an Zeit- und Bewegungsstudien orientierten Ingenieure direkt in die Experimentalpsychologie übergehen sehen, dann läßt sich diese Rhetorik erwarten. Taylor war ungehalten über die Beschränkungen des Körpers. Nun gab es eine ähnliche Unzufriedenheit mit den Grenzen der menschlichen Informationsverarbeitung. Bei Taylor handelte es sich um die Frage nach der Geschwindigkeit von Muskelbewegungen, jetzt wurde sie zu einer nach der Raktionszeit: der minimalen Zeit, gemessen in Millisekunden, die ein Bediener benötogt, um ein Signal zu entdecken, es zu identifizieren und einen Knopf zu drücken.
Um die normalen Kapazitäten der menschlichen Wahrnehmung zu messen, haben die Experimentalpsychologen die Versuchspersonen immer Grenzsituationen ausgesetzt. Sie haben Wahrnehmungsschwellen wie die geringste, noch bemerkbare Lichtintensität gemessen. Sie haben gerade noch bemerkbare Unterschiede (j.n.d. - just noticeable differences) gemessen, den kleinsten Unterschied zwischen zwei Reizen, den man noch feststellen kann. Schließlich haben sie Reaktionszeiten gemessen, ein Maß, das zum hauptsächlicen Werkzeug wurde, um die von verschiedenen mentalen Prozessen benötigte Zeit herauszufinden.
Um diese Eigenschaften zu messen, wurden eine Reihe von Standardexperimenten entwickelt, die weitgehend unverändert seit der Zeit von Weber, Fechner und Wundt blieben. In einem Wahrnehmungsexperiment muß ein Beobachter die Anwesenheit eines kaum sichtbaren Reizes feststellen, beispielsweise ein schwaches Licht, das kurz in der Dunkelheit aufleuchtet (Habe ich etwas gesehen?). In einem Experiment zur Identifizierung geht es darum, einen von verschiedenen möglichen Reizen zu identifizieren, beispielsweise welche von zwei Farben (Welche habe ich gesehen?). In einem Experiment zur Wiedererkennung muß man nicht nur etwas bemerken, sondern auch erkennen, was es ist, beispielsweise die Form eines Reizes, der kurz aufleuchtete (Was habe ich gesehen?)
Während es 2.Weltkrieges befand sich der Luftabwehrschütze, der Beobachter eines Radarschirmes oder der Pilot in derselben Situation, in die die Psychologen des 19.Jahrhunderts ihre Versuchspersonen gestellt hatten. Die Struktur der psychophysikalischen Experimente wurden mit allen Details zu den Rahmenbedingungen der militärischen Tätigkeit.