"Die Arbeitsmärkte waren in Deutschland noch nie in einem so schlechten Zustand"
- "Die Arbeitsmärkte waren in Deutschland noch nie in einem so schlechten Zustand"
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Der Ökonom Heinz-Josef Bontrup über geschönte Arbeitslosenzahlen, die Folgen der Digitalisierung und ein bedingungsloses Grundeinkommen
Herr Bontrup, "Es läuft - Deutschland nähert sich der Vollbeschäftigung" textete die Frankfurter Allgemeine noch im Juni 2018. Und Sie werden seit Jahren nicht müde, von Massenarbeitslosigkeit zu sprechen. Können Sie diesen Widerspruch aufklären?
Heinz-Josef Bontrup: Nur Demagogen und Populisten reden von einer fast erreichten Vollbeschäftigung. Mit der Realität hat das leider nichts zu tun. Wir haben weiter Massenarbeitslosigkeit im Land und ich gehe noch weiter: Die Arbeitsmärkte waren in Deutschland, zählt man das gesamte Prekariat der Teilzeit- und geringfügig Beschäftigten, die befristet Beschäftigten, die Praktikantenverträge und die Leiharbeiter dazu, noch nie in einem so schlechten Zustand.
Die registrierten Arbeitslosenzahlen sind zwar zurückgegangen und die Erwerbsarbeit hat zugelegt. Immer liegt aber die registrierte Arbeitslosenzahl noch bei gut 2 Millionen Menschen. Hinzu kommt fast eine Million statistisch wegdefinierte Arbeitslosigkeit. Die Bundesagentur für Arbeit spricht hier mystifizierend von einer Unterbeschäftigung. Menschen, die sich als Arbeitslose krank gemeldet haben oder sich als Arbeitslose in Weiterbildungsmaßnahmen befinden oder Ein-Euro-Jobber und andere, tauchen in Folge bei den registrierten Arbeitslosen nicht auf. Es hat von der Politik seit Mitte der 1980er Jahre 17 gesetzliche Definitionsveränderungen im Hinblick auf Arbeitslosigkeit gegeben. Immer ging es der Politik dabei nur um Schönrechnerei, um die Arbeitslosenzahlen künstlich klein zu rechnen.
Die digitale Revolution liefert aktuell eine Disruption nach der anderen. Spätestens seit dem Oxford-Paper "The Future of Employment: How Susceptible are Jobs to Computerisation?" von Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne aus dem Jahr 2013 verlagert sich die Debatte um die Digitale Revolution hin zu einer erwarteten massiven Arbeitsplatzvernichtung. Diese Debatte wird zudem nicht unwesentlich aus dem Silicon Valley angetrieben. Es wird - als Segen und Fluch - prophezeit, dass Robotik, Automatisierung und künstliche Intelligenz vielen Erwerbstätigkeiten den Garaus machen werden, dass unangenehme, z.B. körperlich schwere Arbeiten, automatisiert, aber auch dass viele Kopfarbeitstätigkeiten mit Routinen wie z.B. Steuerberatung der Automatisierung sowie einer entsprechenden Künstlichen Intelligenz (KI) zum Opfer fallen werden.
Heinz-Josef Bontrup: Für Karl Marx ist in keiner anderen Ordnung der technische Fortschritt so stark ausgeprägt worden wie im Kapitalismus. Er erwähnt dabei auch die historischen Leistungen der Erfinder, aber natürlich auch die "Sucht nach steigendem Profit" als das bewegende kapitalistisch inhärente Motiv.
Jetzt stehen wir vor der vierten technischen Revolution, einer zunehmenden Digitalisierung. Natürlich wird auch sie, wie alle anderen zuvor, die Arbeitswelt insgesamt massiv verändern. Ob es im Saldo, und nur der ist entscheidend, zu einer gravierenden Arbeitsplatzvernichtung kommt, kann ich nicht sagen. Und denen, die das angeblich können, spreche ich jede Seriosität ab.
Was bei der ganzen Debatte aber viel wichtiger ist, darüber schweigt man sich weitgehend aus. Nämlich, wer erhält die aus der Digitalisierung mit Sicherheit erwachsenen Produktivitätsgewinne? Wenn diese überwiegend bei den Kapitaleignern landen, dann wird es ökonomisch und in Folge gesellschaftlich-politisch mehr als problematisch. Kommt es dagegen einigermaßen zu einer Gleichverteilung der Digitalisierungsdividenden zwischen Kapital und Arbeit, dann sehe ich mehr Vorteile als Nachteile. Was nicht heißt, dass damit mehr oder weniger starke friktionelle Anpassungsprobleme verbunden sein werden.
"Kein Mangel an Fachkräften, sondern an Zahlungsbereitschaft"
Parallel zur Vollbeschäftigung wird vieler Orten und in einigen Branchen von Fachkräftemangel gesprochen.
Heinz-Josef Bontrup: Einen flächendeckenden Fachkräftemangel gibt es in Deutschland nicht. Das auf Teilarbeitsmärkten oder auch auf regionalen Arbeitsmärkten Verknappungen auftreten können, ist eine ökonomisch allenfalls triviale Feststellung. So kann es beispielsweise auf dem Teilarbeitsmarkt der Chirurgen zu wenige Ärzte geben und gleichzeitig gibt es zu viele HNO-Ärzte. Verknappungen auf Teilarbeitsmärkten widersprechen auch keiner insgesamt in einer Volkswirtschaft vorliegenden Massenarbeitslosigkeit.
Eine jüngst veröffentlichte Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) kommt zu dem Befund, dass insbesondere die Klagen der Unternehmerverbände widersprüchlich und deutlich überhöht sind. Die Klagen sind mehr Ausdruck eines Bestrebens, die Arbeitseinkommen niedrig zu halten. "Ursächlich ist also kein Mangel an Fachkräften, sondern an Zahlungsbereitschaft." Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaft, Paul Krugman, hat US-amerikanischen Unternehmern bezüglich ihres Jammerns für fehlende Arbeitskräfte geantwortet: "Zahlen Sie anständig, dann werden Sie auch schnell ihre benötigten Arbeitskräfte finden."
Die Bundesregierung hat am 19. Dezember ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz auf den Weg gebracht. Wie bewerten Sie das Abwerben von Fachkräften im Ausland vor dem Hintergrund der innerhalb und außerhalb der EU immer wieder beschworenen Solidarität unter Nationalstaaten als Partnern? Führt sich hier nicht die Funktionslogik des Konstrukts Nationalstaat selbst ad absurdum? Unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten, welche möglichen Auswege sehen Sie?
Heinz-Josef Bontrup: Hochqualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland abzuwerben, führt zu einer Fehlallokation und entspricht in der Tat einem egoistischen nationalstaatlichen Denken. Denn, die Fachkräfte werden vielmehr zum Aufbau in ihren Herkunftsländern gebraucht. Wenn sie dann noch in das Land des Exportweltmeisters Deutschland gelockt werden, ist dies besonders verwerflich und gleichzeitig ökonomisch völlig irrational.
Wer bitteschön soll nämlich, bei immer mehr sich in Deutschland verschuldenden Ländern, aus denen die Fachkräfte überwiegend kommen, die deutschen Exporte noch nachfragen bzw. bezahlen? Gleichzeitig geben wir Entwicklungshilfe in die ökonomisch schwachen und ausgebeuteten Länder. Mehr Widerspruch geht nicht.
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