Die Armen in Deutschland - dem Tod so nah

Über den Umgang mit den Besitzlosen in unserer Gesellschaft

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Politik und Gesellschaft begegnen den Gestrauchelten oft voller Abscheu. Jeden Tag frisst sich die Armut ein Stück weiter und tiefer in die Armen und Ärmsten, bis von ihrem Menschsein nur noch ein Stück Elend übrig ist (Selber schuld: Arm, kränker und früher Tod). Und an diesem Stück Elend ergötzen sich dann Teile der Gesellschaft. Sie schütteln und rütteln die Armen und setzen sie einer symbolischen Gewalt aus, die in ihrer Brutalität der Gewalt des Straßenschlägers, der seinem wehrlosen Opfer noch an den Kopf tritt, kaum nachsteht. Seit vielen Jahren findet eine geradezu schizophrene Politik Anwendung, die, bei Lichte betrachtet, Armut zu bekämpfen versucht, indem sie Armut noch weiter verstärkt.

An einem regnerischen Januarabend 2016: Ein Auto fährt auf einer der langen Hauptstraßen stadteinwärts. Im Scheinwerferlicht ist ein Mensch zu erkennen, der rechts auf dem Fahrradweg liegt. Drei Meter hinter ihm ein Fahrrad, ein Meter seitlich davon ein Rucksack. Der Autofahrer fährt langsamer, schaut sich die Szene genauer an und kommt zu dem Schluss: Der Mann mit dem Fahrrad ist gestürzt. Der Autofahrer hält auf Höhe des Mannes an, lässt die Seitenscheibe seines Fahrzeugs runter und fragt: "Alles in Ordnung, brauchen Sie Hilfe?"

Innerhalb von wenigen Sekunden wird klar, was schon auf den ersten Blick aus etwas Entfernung vermutet werden konnte: Der Mann Ende 40, Anfang 50, der mittlerweile auf dem Boden sitzt, dürfte kaum zur Bourgeoisie des Landes gehören. Ein dicker, verwaschener Kapuzenpullover, eine Jeans, die schon lange nicht mehr parketttauglich ist, ein altes Mountainbike, das für die Körpergröße des Mannes eine Nummer zu klein ist und ein Rucksack, der bei genauerer Betrachtung wohl seine eigene Geschichte erzählen würde. "Nein", sagt der Mann. "Alles in Ordnung. Geht schon."

"Was ist los?", fragt der Autofahrer. Gestürzt sei er, antwortet der Mann. Die Kette seines Fahrrads sei beim Schalten übersprungen, dann habe es ihn vom Fahrrad gehauen. Beim Versuch aufzustehen, sei ihm der Kreislauf weggesackt, aber nun gehe es.

"Sind Sie sicher?", fragt der Autofahrer. "Ich brauch noch einen Moment", sagt der Mann. Der Autofahrer fragt, ob er damit einverstanden sei, wenn ein Krankenwagen gerufen werde. Nach anfänglichem Zögern willigt der sichtlich angeschlagene Mann ein. Äußerlich sind keine Verletzungen zu sehen, aber der Sturz hat ihm zugesetzt.

Der Krankenwagen ist gerufen, der Mann richtet sich auf, kommt ans Auto, stützt sich mit seinen Händen auf die Tür der Beifahrerseite und sagt: "Ich bin arbeitslos...Wenn jetzt der Krankenwagen kommt, das kostet auch Geld."

Ein kurzes Gespräch entsteht, doch dem Mann geht es nicht gut. Er setzt sich wieder auf den Boden - sein Kreislauf.

Da sitzt er also nun, dieser Mensch, keine drei Meter entfernt von einer dicken, etwa 1,70 Meter hohen Steinmauer. Direkt dahinter der städtische Friedhof. Hinten die Toten, vorne die, die noch leben - irgendwie.

Was ist das für ein Leben, das dieser Mann führt? Er atmet, er kann sich bewegen, Kennzeichen des Lebens - rein biologisch betrachtet - sind vorhanden. Doch man muss kein Psychologe sein, um zu erkennen, dass hier einer mit einer zentnerschweren Last auf seinen Schultern sitzt. Der Sturz mit dem Fahrrad, ein gesundheitliches Problem und der ein oder andere Schluck Alkohol haben dazu geführt, dass der Mann in diesem Moment nur noch sitzen kann.

Doch wirklich niedergedrückt wird er von einem Leben, das längst kein Leben mehr ist. Wenige Meter sind es bis zu den ersten Gräbern hinter der Friedhofsmauer. Das Leben bedient sich seiner eigenen Bilder, um Realitäten hervorzuheben.

Was muss in einem Mensch vorgehen, der nach einem Unfall einem Helfer als erstes von seiner Arbeitslosigkeit erzählt und sich Sorgen um die Kosten einer Krankenhausfahrt macht?

Knapp sieben Minuten vergehen, bis der Krankenwagen mit Martinshorn und Blaulicht ankommt. Die Türen des Rettungswagens öffnen sich. Das erste was der Rettungssanitäter zu dem Mann sagt: "Haben wir was getrunken?" "Ja, aber nicht viel", antwortet der Mann. Nach einem kurzen Gespräch mit den Sanitätern setzt der Autofahrer seine Fahrt fort. Das Blaulicht verschwindet langsam im Rückspiegel, von rechts fährt ein SUV der Oberklasse auf die zweispurige Straße. Hier geschätzte 70.000 Euro rollend auf Rädern, 500 Meter zurück das Drama der Armut.

Der geneigte Leser mag sich an der Stelle die Frage stellen, was es mit dem Mann, der hier Erwähnung findet, auf sich hat. Warum gehört er zu den Gestrauchelten? Schicksal? Ist er das Opfer seiner Verhältnisse? Hat er selbst seinen Teil dazu beigetragen, dass er zu den "Abgehängten" der Gesellschaft gehört?

Die Fragen können nicht beantwortet werden. Eine weitere Begegnung hat nicht stattgefunden. Die Hintergründe seines Lebens bleiben an dieser Stelle im Dunkeln. Offensichtlich aber ist: In Deutschland gibt es Armut.

Klassistische Ressentiments gegenüber der Armut

Sichtbar wird Armut etwa beim Discounter an den Kassen, wenn wieder einmal ein Mensch von seinem spärlichen Einkauf ein Produkt zurückgehen lassen muss, weil nicht genügend Geld im Portemonnaie ist. Sie findet sich in den Gedanken der Achtjährigen, die mit ihrer Mutter vom Spielplatz am Nachmittag auf dem Weg nach Hause ist und weiß, dass wieder einmal der Strom abgestellt wurde und sie deshalb ihre beste Freundin nicht mit in die Wohnung zum Spielen bringen darf. Sie kommt auch in Familien zum Vorschein, deren einziges Vermögen aus zwei Dutzend Pfandflaschen besteht, die in der Küchenecke auf dem Boden stehen und zum Wochenende abgegeben werden müssen, weil sonst das Geld für den Lebensmitteleinkauf nicht ausreichen würde.

Doch wer nimmt schon die unzähligen großen und kleinen Dramen wahr, die sich Tag für Tag bei den Armen in diesem Land abspielen?

Die Politik? Diese hat im Zuge dessen, was von ihr als "Reformen" bezeichnet wurde, die Armen noch tiefer nach unten gedrückt, als sie es bereits waren.

Die Medien? Diese haben wie von Sinnen mitgemacht, als es darum gegangen ist, die Mär vom zu teuren Sozialstaat zu verbreiten.

Die Intellektuellen, die kulturelle Elite? Diese hat sich gerne vor den Karren von so genannten "Reforminitiativen" spannen lassen und das Liedchen von der Eigenverantwortung der Bürger mitgeträllert.

Das Besitzbürgertum? Mit reichlich Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit verschließen zumindest Teile dieser Klasse die Augen vor dem Not und Elend der Armen im Land.

Ihre Wirklichkeitsvorstellungen im Hinblick auf die Armen sind von klassistischen Ressentiments nur so überfrachtet. Die Armen sind selbst schuld an ihrem Schicksal. Hätten sich halt mehr anstrengen müssen. Faul sind die, die ihre Hände nach oben strecken. Wie die schon aussehen. Dreckig. Ungepflegt. Sollen sich gefälligst mal waschen und rasieren, dann finden sie auch Arbeit. Den ganzen Tag auf der faulen Haut liegen. Wenn man nur schon zuhört, wie die sprechen. Zu blöde, um einen Satz geradeaus zu formulieren. Vom Inhalt des Gesagten mal ganz zu schweigen.

Das Besitzbürgertum, die höheren Klassen und Schichten, vermögen es oft nicht einmal auch nur ansatzweise zu erfühlen, welche Lebenskämpfe die Armen zu bestreiten haben und welche Schicksale die Ausgegrenzten mit sich rumschleppen. Sie verstehen (oder wollen nicht verstehen), warum manche Arme so sind, wie sie sind.

Mit etwas Empathie ließe sich rasch erkennen, dass bestimmte Verhaltens- und Denkweisen, wie sie bei Armen zu beobachten sind und die gesellschaftlich verachtet werden, nicht einfach nur auf "Mängel" am Wesen dieser Menschen oder an ihrem Charakter, ihrer Persönlichkeit festgemacht werden können. Sie sind das Ergebnis einer oftmals grauenvollen Sozialisation, in der die Schläge des Lebens 365 Tage im Jahr auf sie eingewirkt haben - über Jahrzehnte.

Doch weite Teile der Gesellschaft verweigern sich dem genauen Hinschauen, um zu begreifen, welche verheerenden Folgen Armut hat.

Den desolaten Lebensverhältnissen der unteren Schichten, über die die Angehörigen des Besitzstandbürgertums allenfalls hin und wieder einmal beim Flanieren durch die Fußgängerzonen stolpern, wird die eigene Leistungsfähigkeit entgegengehalten. Jene, die von sich glauben, dass sie doch der Motor der Gesellschaft seien, über ein nettes Eigenheim und zwei relativ neue Autos verfügen, einem mehr oder weniger gut dotierten Beruf nachgehen, auch bereits in ihrer Funktion als legitime Erben aufgetreten sind und nicht selten eine beachtliche Summe allein auf ihrem Girokonto geparkt haben, verfügen über das, was sie verfügen, natürlich nur aufgrund ihres eigenen Arbeitseinsatzes und ihrer Fähigkeiten - glauben sie.

Mythos der Leistungseliten

Der Eliteforscher Michael Hartmann hat schon vor Jahren bei seiner Auseinandersetzung mit den oberen Schichten von einem Mythos der Leistungseliten gesprochen.

Der eigene Schweiß, das eigene Talent, die eigenen Leistungen mögen tatsächlich ihren Teil dazu beigetragen haben, auf eine berufliche Ebene zu gelangen, auf der beachtliche finanzielle Mittel erarbeitet werden können. Doch ausgeblendet wird, dass die Menschen dieser Schichten aus einer Struktur heraus an den Start des Lebens gekommen sind, die ihnen in jeder Hinsicht in die Karten spielt. Sie stammen aus einem Milieu - zumindest im Vergleich zu den Armen - in dem ein beachtliches Maß an ökonomischen, sozialen, kulturellen und letztlich symbolischen Kapital vorhanden ist.

Wenn der Startschuss des Lebens fällt, können die einen unbeschwert lossprinten, während die anderen mit zentnerschweren Gewichten an ihrem Körper es kaum von der Startlinie schaffen. Und so sind Gewinner und Verlierer bereits im Vorfeld festgelegt. Die Gewinner berauschen sich am eigenen Erfolg und vergessen, dass sie sich den Sieg in einem unfairen Wettkampf erlaufen haben. Ihre Erkenntnis, dass man es doch "schaffen kann", wenn man sich "nur" anstrengt, verstellt den Blick darauf, dass Menschen in diesem Land von einer Basis aus agieren müssen, die geradezu grundsätzlich jede Anstrengung zunichtemacht.

Ohne Benzin im Tank kann das Auto nicht starten. So einfach ist es. Die Wahrheit ist, was Armut angeht, nicht tiefgründig.

Wer in einem Elternhaus aufwächst, in dem keinerlei finanzielle Reserven vorhanden sind, ein Elternhaus, in dem jeden Tag von der Hand in den Mund gelebt wird, dessen Chancen sind gering, jemals aus diesen Verhältnissen zu entfliehen.

Die Anziehungskräfte der Milieus, aus denen die Gestrandeten unserer Gesellschaft kommen, sind enorm. Tausend Tentakeln wickeln sich um ihre Arme, ihre Beine, ihre Körper und versuchen sie dort zu halten, wo sie sind. Armut, Alkoholismus, Gewalt, Perspektivlosigkeit, Ausgrenzung, Niederlage auf Niederlage, graben sich tief in die Menschen ein.

Bereits in der Kindheit wirken die Begrenzungen der Armut. 6-, 7-, 8-Jährige müssen schon lernen mit Armut umzugehen. Sie müssen lernen, dass sie vieles, was ihre Klassenkameraden haben, nicht haben können, weil ihren Eltern die finanziellen Mittel fehlen. Zu Hause werden sie von ihren Eltern instruiert, wie sie auf diese und jene Situation, in der zum Vorschein kommen könnte, dass sie aus armen Verhältnissen stammen, am besten reagieren sollen, so "dass die Armut nicht auffällt".

Und so bewegen sie sich dann durch die Schule. Während die einen sich aufs Lernen konzentrieren und in der Pause unbeschwert spielen können, tragen die anderen einen Ballast mit sich, der die Funktion eines Bremsklotzes in ihrem Leben übernimmt. Um es abzukürzen: Stück für Stück führt Armut zur Ausgrenzung schon bei Kindern. Das oftmals vorhandenen Defizit an kulturellem Kapital (z.B. restringierter Sprachcode) treibt die Exklusion noch weiter voran.

Negativ prägende Erfahrungen summieren sich und drücken sich im Laufe der Zeit immer tiefer in die Kinder und jungen Menschen. Je nach Lebensentwicklung, wenn nicht an irgendeinem Punkt zumindest ein kleines Wunder eintritt, ist ihr Leben bereits zu Ende bevor es überhaupt richtig anfangen konnte.

Während die einen, gerade 18 geworden, mit einem neuen Polo oder Golf beglückt werden, die Eltern ein Sparbuch mit 40.000 Euro freigeben, das Abitur in greifbarer Reichweite liegt, die Reise nach Asien bereits von der Familie gebucht und der passende Studiengang plus Universität schon ins Auge gefasst sind, hat das Leben die Anderen bereits so oft niedergeknüppelt, dass sie im Alter von 18, 19 mit ihrem Leben weitgehend abgeschlossen haben. Psychisch und emotional sind sie am Ende, der Vorrat, den Menschen an Lebensenergie, an Leistungs- und Begeisterungsfähigkeit mit auf den Weg bekommen haben, ist bei ihnen schon erschöpft.

Der Blick in die Herzen dieser Menschen würde all jene, die meinen, in Deutschland gäbe es keine Armut, allenfalls eine Ungleichverteilung, bis ins Mark erschüttern - sofern sie über so etwas wie Mitgefühl verfügten.

Doch an diesem Blick, der unweigerlich nicht nur in die Abgründe unseres Sozialstaates, sondern auch in die einer Gesellschaft führt, in der Geld und Besitz oft genug über einem Menschenleben stehen, haben gerade diejenigen, die meinen, dass es "uns" doch gut geht, kein Interesse. Laut im Chor stimmen sie das Lied vom Fördern und Fordern an und verkennen völlig, dass die, an die der Slogan gerichtet ist, längst nichts mehr haben, was sie geben können.

Für das, was die Armen in ihrem Leben geleistet haben, haben sie nie etwas erhalten

Man verlangt von ihnen, auf ein Konzept zu reagieren, dass sie längst anders verstehen als diejenigen, die den Slogan lautstark ausrufen. Verkannt wird, dass das Leben von diesen Menschen immer nur gefordert hat. Doch für das, was die Armen "gegeben" haben, haben sie nie etwas erhalten. Das Leben hat von ihnen gefordert, die Ausgrenzung aufgrund ihrer Armut bereits im Schulalter zu ertragen. Das Leben hat von ihnen gefordert, mitansehen zu müssen, wie ihre Eltern unter der Last der Armut zerbrochen und auseinandergebrochen sind. Das Leben hat von ihnen schon früh gefordert, Verhältnisse emotional zu stemmen, die herzzerreißend sind.

Von diesen Menschen wurde immer gefordert, und sie haben alles gegeben, was sie haben. Sie haben Leistung erbracht. Sie haben bei ihrem Gang durch die Hölle der Armut gekämpft, Niederschlag um Niederschlag weggesteckt. Immer wieder haben sie sich aufgerichtet, immer wieder den Kampf aufgenommen, verbunden mit der Hoffnung, die Armut zu überwinden, nur um dann irgendwann festzustellen: Sie können dem Teufelskreislauf des Armseins nicht entfliehen. Doch diese "Lebensleistungen" haben aus Sicht eines neoliberal geprägten Besitzbürgertums keinen Wert, werden weder erkannt noch anerkannt.

Für das, was die Armen in ihrem Leben geleistet haben, haben sie nie etwas erhalten. Keine Trophäe, kein symbolisches Kapital, nicht mal Anerkennung. Vom Staat erhalten sie so viel zum Leben, dass sie noch atmen dürfen, aber es vergeht kein Tag, an dem sie den Strick der Verhältnisse um ihren Hals nicht spüren. Und dafür, dass der Sozialstaat sie so leben lässt, maßt dieser sich an etwas "fordern" zu können.

Wehe den "Transferleistungsempfängern", die nicht bereit sind, zu spuren, die nicht mehr die Kraft haben, etwas "zu leisten": Man kürzt ihnen das Geld und zieht so den Strick um ihren Hals noch ein Stück enger. Die Armen werden noch ärmer, rutschen immer weiter ab. Eine Sozialpolitik kommt zum Vorschein, die Armut bekämpft, indem sie Armut erzeugt.

An dieser Politik erfreuen sich dann Teile der oberen Klassen und Schichten, rufen voller Freude: Recht so! Wer nicht hören will, muss fühlen!

Existenzangst und Überlebenskampf der Armen

Es grenzt an Schizophrenie, dass dieselben Teile der Gesellschaft sich zugleich darüber empören, wenn wieder mal ein Jugendlicher einem auf dem Boden liegenden wehrlosen Opfer an den Kopf tritt. Erschrocken zeigt man sich dann über die brutale Gewalt. Die Gewalt, vor allem die symbolische Gewalt, die "die Empörten" den Armen antun, verkennen sie dabei völlig.

Blenden wir auf: Der Blick fällt auf Frau S. Sie ist 67 Jahre alt, hat zwei Kinder auf die Welt gebracht. Sie durchlebte ein schwieriges Leben mit ein paar Höhen und vielen Tiefen. Armut prägte ihr Leben, Geld war immer knapp - trotz Arbeit. Nun ist sie in Rente. Knapp 700 Euro. Ein Teil geht für die Miete drauf. Zweimal in der Woche geht sie putzen. Mit dem Geld lebt sie, kauft sich Lebensmittel. Sie ist darauf angewiesen.

Dann sind da die Schmerzen in den Armen. Die Sehnen machen sich bemerkbar. Die Ärzte sagen, nur noch eine OP hilft weiter. Sie unterzieht sich der Operation, zunächst nur an einem Arm.

Die OP ist nicht ganz einfach. Die Ärzte geben die Anweisung: Den Arm schonen, nicht belasten. Sie kann 6 Wochen nicht arbeiten. Finanzieller Notstand bricht aus. Keinerlei Reserven stehen zur Verfügung, die Bank hilft auch nicht weiter. Irgendwie kämpft sie sich durch diese Zeit. Den Absturz aus dem Leben jeden Tag vor Augen.

Schließlich geht es wieder einigermaßen mit ihrem Arm, sie rafft sich auf, geht wieder arbeiten. Zum Glück spielt der Körper mit, die Schmerzen gehen zurück. Ein paar Wochen später: Die Kopfdichtung an ihrem Auto will nicht mehr. Dann wird es kritisch: Sie darf das Auto nicht mehr bewegen, ein Motorschaden droht. Fast drei Jahrzehnte ist das Auto alt. Ein Kleinwagen. Gekauft zu einer Zeit, als es einmal finanziell besser ging. Der Wagen ist, trotz des stolzen Alters, noch gut in Schuss. Aber natürlich: Die Unterhaltung eines Autos kostet immer Geld.

Nun also die Kopfdichtung. In der Markenwerkstatt heißt es, die Reparatur koste mit den drumherum anfallenden Arbeiten 1500 Euro. Das ist für sie in etwa so, als würde man einem Besitzstandbürger das Haus vor den Augen sprengen und ihm gleichzeitig mitteilen, dass die Versicherung nicht greift und, by the way, sein gesamtes Sparvermögen verschwunden ist. Der Schiffbruch, da ist er also.

Wenn sie das Geld für die Reparatur nicht hat, kann sie ihr Auto nicht mehr nutzen. Wenn sie ihr Auto nicht mehr nutzen kann, kann sie nicht mehr arbeiten gehen. Beide Arbeitsstellen sind nur mit dem Auto zu erreichen. Was tun? Existenzangst breitet sich aus. Alles scheint zusammenzubrechen.

1500 Euro wird sie nie aufbringen können. Unmöglich. Sie fragt bei anderen Werkstätten nach. Diese machen wesentlich bessere Angebote. 900 Euro ist das Beste. Gut. Zugleich aber auch schlecht. Es ändert nichts an der Situation. Sie hat auch keine 900 Euro. Noch immer ist die Situation bedrohlich. Nach Tagen findet sie eine kleine Werkstatt, die bereit ist, die Reparatur für 650 Euro zu übernehmen. Gut. Sehr gut. Und doch: Auch über diese Summe verfügt sie nicht. Die Realität ist: Auch wenn ihr jemand anbieten würde, die Reparatur für lediglich 100 Euro zu übernehmen, hier und jetzt, per Handschlag vereinbart: sie hätte noch nicht einmal 100 Euro zur Verfügung.

Was tun?

Mit dem Mut der Verzweifelten geht sie wieder auf ihre Bank. Auf die Bank, die ihr vor einigen Wochen, als sie sich der OP unterziehen musste, nicht einmal einen Vorschuss von 50 Euro geben wollte. Wieder tritt sie als Bittstellerin auf. Wieder muss sie erklären, dass es um alles, um ihr Leben, um ihre Existenz geht.

Dieses Mal meint es "das Glück" gut mit ihr. Das Gespräch läuft besser. Die Bank erlaubt ihr, ausnahmsweise, ihr Konto zu überziehen.

Schnell vereinbart sie einen Termin zur Reparatur. Das Auto wird abgegeben, zwei Tage später abgeholt. Sie zahlt die 650 Euro. Das Auto funktioniert wieder. Alles ist wieder gut - bis zum nächsten Drama, das ihre Existenz bedroht.

Andere Szene

Frau O., in Rumänien geboren, seit Jahrzehnten in Deutschland gelebt und gearbeitet, ist 78 Jahre. Auch sie hat nur eine schmale Rente. Ein Nachbarkind begegnet ihr im Treppenhaus. Sie war gerade einkaufen, Lebensmittel. Es ist der Anfang des Monats. Geld ist auf dem Konto eingegangen. Der Junge hilft ihr beim Tragen. Sie lädt ihn auf ein Glas Orangensaft ein. Aus der Tasche nimmt sie eine Flasche Orangensaft mit dem C im Namen. Sie trinke gerne Orangensaft. Gut müsse er aber sein. Deshalb leiste sie sich den "Teuren". Die alte Frau und der Nachbarsjunge unterhalten sich. Der Sommer geht allmählich dem Ende zu, aber es ist noch immer sehr heiß.

Nachdem Frau O. die Lebensmittel ausgepackt hat, geht sie ins Wohnzimmer. Sie schiebt, ihre alte, schwere Couch, die über einen Holzrahmen verfügt, ein Stück nach vorne. Nimmt ihren Geldbeutel in die Hand, öffnet ihn und wirft Münzen hinter die Couch. Sie schiebt die Couch wieder zurück.

Der Junge beobachtet sie von der Küche aus. Schaut verdutzt. Sie kommt auf ihn zu. Lächelt verschmitzt und sagt: Sparkasse.

Sparkasse? Fragt der Junge.

Sie erklärt: Da das Geld jeden Monat knapp ist, wirft sie immer mal wieder eine Hand voll Münzen hinter die Couch. Nur wenn sie gar kein Geld mehr habe, rücke sie die Couch nach vorne, um an die Münzen ranzukommen.

Die alte Frau, die Probleme beim Gehen hat, deren Knie kaputt sind, muss im Alter von 78 Jahren eine schwere Couch nach vorne rücken, sich bücken oder hinknien, um an eine Hand voll Münzen ran zukommen, damit sie sich Lebensmittel kaufen und ihr Leben weiterleben kann.

Jump cut

Ein junger Mann, 18 Jahre alt, läuft an einem Sonntag im Frühling durch die Stadt. Er kommt aus völlig zerrütteten Verhältnissen, ist arbeitslos. Sein Geld vom Amt ist Mitte des Monats verbraucht. Nicht einmal über Lebensmittel verfügt er. Er hat Hunger. Das Amt hilft nicht. Was tun? Suppenküche? Bahnhofsmission? Caritas? Pfarrer?

Da ist er, der Überlebenskampf der Armen.

Der junge Mann trifft auf Freunde. Er schämt sich, lässt durchblicken, dass er "ein Problem" hat. Die Freunde legen rasch zusammen, geben ihm Geld. Organisieren über ihre Eltern Lebensmittel.

Ganze Buchreihen würden nicht ausreichen, um reale Fälle dieser Art (die noch zu den harmloseren zählen), wie sie sich im Leben der Armen immer wieder abspielen, Monat für Monat, Woche für Woche, Tag für Tag, umfassend zu dokumentieren.

Wer einen Zugang zu den Armen findet und ihnen zuhört, wird feststellen, dass Existenzangst, die Angst überhaupt weiterleben zu können, ihr ständiger Begleiter ist. Während sich die Angehörigen des Besitzstandbürgertums darüber Sorgen machen, wie sie den nächsten Schritt auf der Karriereleiter bewerkstelligen können, und verärgert darüber sind, dass der Urlaub um zwei Wochen verschoben werden muss, reiben sich die Armen in einem Überlebenskampf auf. Wieder einmal konnte von der Unterstützungsleistung der Strom nicht gezahlt werden, wieder einmal droht die Sperre, wieder einmal reicht das Geld nicht, um sich ein neues paar Hausschuhe zu kaufen, die längst so zerrissen sind, dass nicht mal ein Hund mit ihnen spielen möchte. Wieder einmal muss der Besuch auf einem Geburtstag abgesagt werden, weil nicht mal eine Handvoll Euro für ein Geschenk vorhanden sind.

Es sind nicht nur die ganz großen, schweren Schicksalsschläge, die die Armen zerreiben. Unzählige Nadelstiche, die in ihre Körper, ihre Seelen, ihre Psyche eindringen, haben dazu geführt, dass sie nicht mehr so funktionieren können, wie die Mitglieder einer Leistungsgesellschaft es erwarten.

Doch das Verständnis für die Armen ist, wie bereits angesprochen, sehr begrenzt: Strom nicht bezahlt? Selbst schuld! Dagegen hilft: weniger fernsehen!! Kaputte Hausschuhe? Dicke Socken helfen weiter! Und Barfußlaufen ist übrigens sehr gesund! Keine fünf oder 10 Euro für ein Geburtstagsgeschenk? Na und? Ein herzlich-warmer Händedruck und der Hinweis, dass man nichts schenken kann, da kein Geld da, tun es doch auch! Schließlich: Wer nichts hat, darf keine Ansprüche stellen!

Teile der Gesellschaft erwarten, dass die Armen sich an ihrem eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Doch das funktioniert nur bei Münchhausen. Wie großartig muss es sich anfühlen, einmal Gott sein zu dürfen? Und wenn schon nicht Gott, dann möchten Teile der gesellschaftlichen Elite zumindest darüber bestimmen dürfen, was in unserer Gesellschaft an Hilfen für die Armen möglich ist und was nicht.

Konservative Revolution: "Ja was heißt sozial gerecht? "

Phoenix-Runde an einem Mittwochabend: "Schäubles volle Kassen - Kommt jetzt die Neid-Debatte?" lautet das Thema. Mit in der Runde: Prof. Michael Hüther (Direktor Institut der Deutschen Wirtschaft Köln).

Moderator: "Herr Hüther, auch wenn man bei Sozialausgaben nicht grenzenlos draufsatteln kann: Sozial gerecht geht es in Deutschland nach wie vor nicht zu."

Hüther: "Ja was heißt sozial gerecht? Bei den Maßstäben, die manche anlegen, wird das nie der Fall sein, weil es immer Situationen gibt ... [Moderator unterbricht mit den Worten] ... aber es könnte ja sozial gerechter (!) zu gehen.

Hüther weiter: "Ja, was heißt gerechter?! Gerechter geht es im Land dann zu, wenn viele Menschen die Chance haben ... sich einzubringen, wenn sie in der Erwerbsmäßigkeit ankommen statt davor zu stehen. Das ist der erste große, wichtige Schritt. Und dort kann man feststellen, dass es in diesem Land in den letzten 10 Jahren deutlich vorangekommen ist. Wir haben so viele Erwerbstätige wie nie zuvor, die Zahl der offenen Stellen ist so hoch wie noch nie zuvor, die registrierten Arbeitslosen niedrig wie selten und wir haben parallel dazu keine versteckten Arbeitslosen irgendwo in aktiven Arbeitsprogrammen. Also insofern kann man sagen, gemessen an einer Situation im Himmel ist das auf Erden ungenügend. Aber natürlich gibt es schwere Lebenssituationen, die wird der Staat sozusagen aber nicht flächendeckend adressieren können. Wichtig ist, vielen Menschen eine Chance zu geben."

An der Reaktion und den Aussagen von Hüther lässt sich sehr gut ablesen, mit welcher Brutalität ein Teil der Elite über Armut in Deutschland hinwegsieht. "Ja, was heißt sozial gerecht?!", fragt der Direktor des Instituts für Deutsche Wirtschaftsforschung und Vorstandsmitglied bei der Atlantik-Brücke in der Rolle des "neoliberalen Wirklichkeitsbestimmers".

Hüther, der als Testimonial für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft aufgetreten ist, einem Thinktank, der durch massive meinungspublizistische Interventionen aufgefallen ist, spricht davon, dass der Staat "schwere Lebenssituationen ... nicht flächendeckend adressieren" kann. Eine erhellende Sprache kommt zum Vorschein. Ein einziger Satz wischt die gesamte Diskussion um die Frage von Armut und einer gerechteren Verteilung hinweg, indem er vorgibt, die Grenzen dessen, was für die Armen in unserem Land unternommen werden kann, um sie aus ihrem Loch rauszuziehen, zu kennen.

Dabei beruhen die Grenzen des Sozialstaats, von denen hier die Rede ist, auf einer Ideologie, die in ihrem Innern von einer tiefen Menschenfeindlichkeit geprägt ist. Eine Ideologie kommt zum Vorschein, die manipuliert, indem sie die Grenzen dessen, was von ihr als machbar betrachtet wird, als eine Art objektive Größe in den öffentlichen Diskurs einspeist. Ihre Vertreter verschleiern jedoch, dass die so erfolgten Grenzziehungen auf einem Bezugssystem beruhen, in dem der ökonomische Faktor über den Wert des Lebens gesetzt wird.

Sie verbergen aber auch, dass ihr Einsatz für "Eigenverantwortung", "Verschlankungen", "Rationalisierung" oder welcher manipulativen Euphemismen sich auch immer bedient wird, auch Kennzeichen eines gesellschaftlichen Kampfs ist, der dazu dient, die Strukturen, die ihre Klasse begünstigen, weiter auszubauen. Der gesamte neoliberale Reformdiskurs kann auch als Instrument zur Sicherung des eigenen Herrschaftsanspruchs verstanden werden. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu, der sich intensiv mit den Verwerfungen des Neoliberalismus auseinandergesetzt hat, schreibt:

Diese konservative Revolution neuen Typs nimmt den Fortschritt, die Vernunft, die Wissenschaft (in diesem Fall die Ökonomie) für sich in Anspruch, um eine Restauration zu rechtfertigen, die umgekehrt das fortschrittliche Denken und Handeln als archaisch erscheinen lässt. Sie macht alle Praktiken zur Norm, zur idealen Regel, die die tatsächlichen Regelmäßigkeiten der ökonomischen Welt ihrer ureigenen Logik überlassen, dem so genannten Gesetz des Marktes, das heißt: dem Recht des Stärkeren. Sie ratifiziert und glorifiziert die Herrschaft dessen, was man heute Finanzmärkte nennt, also die Rückkehr zu einer Art Raubkapitalismus…

Pierre Bourdieu

Diejenigen, die hinter dieser "konservativen Revolution" stehen, gehören auch zu denen, die aufgrund ihrer symbolischen Macht, wie Bourdieu sagt, "die Wahrheit der sozialen Welt" zu bestimmen vermögen.

Doch es sind längst nicht nur die Strukturgestalter auf den oberen Rängen der Gesellschaft allein, die das Leiden der Armen einfach so abtun. Es ist wie so oft: Der Kampf gegen die Schwachen, die Minderheiten ist nur deshalb möglich, weil weite Teile der mittleren Klassen und Schichten ihn mitführen und oft sogar befeuern.

Der Kampf der verunsicherten Mittelklasse

Rückblick: Vor einigen Wochen ist der neue Armutsreport des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes erschienen ("Soziale Ungleichheit wird als Gesellschaftselixier gepriesen"). Ein Spiegel-Redakteur fühlt sich berufen, den Bericht zu kommentieren und über den "Blues vom bitterarmen Deutschland" zu schreiben. Fahrlässig sei es demnach, "den Eindruck zu erwecken, dass es vielen Menschen in Deutschland immer schlechter geht".

Darüber hinaus erfährt der Leser, dass Menschen von den gegenwärtigen "Sozialbezügen" ein würdiges Leben führen können. Die Ansichten, die sich oftmals hinter Aussagen wie diesen verbergen, entspringen aus der Mitte einer Klasse, deren Angehörige, nicht einmal selten, die Armen in diesem Land geradezu verachten. Der Argwohn gegenüber den Armen, der hier sichtbar wird, führt bei genauerer Betrachtung tief in das soziale Sein der mittleren Schichten und Klassen, über das auch die folgenden Ausführungen des Spiegel-Mannes etwas verraten und die ihren eigenen soziologischen Wert haben:

Vor dem Supermarkt, in dem ich meistens einkaufe, steht seit Wochen schon früh morgens ein Bettler, der sich auf eine Krücke stützt. Der Mann sagt freundlich "Guten Tag, mein Herr", wenn ich den Laden betrete, und "Auf Wiedersehen", wenn ich ihn mit einer Tüte voller Lebensmittel wieder verlasse. Der Bettler ist nett zu mir, aber ich gebe zu, dass ich ihm noch nie etwas gegeben habe. Ich weiß nicht, ob mein Verhalten richtig ist. Nach der Lektüre einer Reportage, die meine Kollegin Katrin Kuntz geschrieben hat, ahne ich aber, dass der Mann möglicherweise Mitglied eines rumänischen Bettler-Ringes mit sehr zweifelhaften Methoden sein könnte. Und ich befürchte, dass er dann zu denjenigen gehört, bei denen kaum etwas vom Spendengeld hängenbleibt.

Der Spiegel

Denk- und Verhaltensweisen verdichten sich in diesen Zeilen, die nicht wenige Angehörige des Besitzstandbürgertums prägen: Geiz, fehlende Empathie gegenüber den Armen, ein übertriebenes Misstrauen, wenn es ums Geld geht, verbunden mit einer tiefen Angst vorm Verlust des eigenen Vermögens, die bisweilen so weit geht, dass diese sich selbst im Umgang mit Kleinstbeträgen zeigt.

Was mag in einem erwachsenen Menschen vorgehen, den die Frage, ob er einem Bettler nun hätte etwas geben sollen oder nicht so umtreibt, dass er in einem Editorial eines großen deutschen Nachrichtenmagazins laut darüber nachdenkt?

Eine derartige Frage wäre, so darf man es sehen, von einem Kind zu erwarten, das bei der Internalisierung grundlegender Verhaltensweisen in der direkten Interaktion mit Anderen noch an Reife bedarf.

Besonders grotesk werden die Ausführungen des Redakteurs, wenn man sich die Höhe der Geldbeträge" vor Augen hält, die Menschen Bettlern in den Hut werfen (oftmals geht es nur um Centbeträge). Welche Antriebe wirken da also, wenn Angehörige der mittleren Klassen und Schichten den Armen mit tiefen Misstrauen entgegentreten, wenn sie Hilfen - vor allem finanzieller Art - kritisch gegenüberstehen, und meinen, den Armen ginge es doch gut genug.

Hier kommt sie zum Vorschein, eine Wahrnehmung, die auf den Antrieben eines Prätentionshabitus beruht. Das heißt: Eine innere Haltung, die auf einem Leben wurzelt, in dem aus, wie Bourdieu sagt, Haben noch nicht Sein geworden ist.

Die wirklich Reichen können selbst größere Verluste aufgrund ihrer Vermögenswerte ausgleichen. Ihr Reichtum wurde meist über Generationen vererbt. Sie haben nicht nur, sie sind. Die Angehörigen der mittleren Klassen hingegen bewegen sich auf einem Eis, das zwar dick genug ist, um Freudensprünge vor den Armen aufführen zu können, aber zugleich noch zu dünn ist, um mit einem neuen Porsche Panamera, der sich auch unter großer Anstrengung nicht so einfach anschaffen lässt, darüber zu gleiten.

Das schafft Frustration. Eigentlich geht es den Angehörigen der mittleren Schichten finanziell nicht schlecht bis gut. Doch ihnen ist bewusst, dass sie "nur" in der Mitte der gesellschaftlichen Klassen stehen und ihre Lebensstruktur ihnen auch Grenzen setzt.

Hinzu kommt: Sie wissen sehr wohl darum, dass der erworbene Wohlstand nur dann erhalten werden kann, wenn ihr Einkommen mindestens gleich bleibt. Ein Arbeitsplatzverlust würde auch sie treffen.

Und mit diesem Bewusstsein fällt der Blick auf die Armen, die "da unten" stehen, die "haben wollen", vom Staat, von der Gesellschaft und dann entstehen Verachtung und Frust. Schließlich: Warum fließt "so viel" Geld in den Sozialstaat hinab zu den "Taugenichtsen", wenn diese Gelder doch auch den Angehörigen der Mittelschicht zuteil werden könnte, um sie bei ihrem Bestreben, den eigenen Wohlstand zu mehren, zu unterstützen.

Was sind schon 80.000 gesparte Euro auf dem Konto, wenn erstmal das Dach am Haus neu gedeckt und eine neue Heizung her muss? Und der BMW vorm Haus ist schließlich auch "schon" fünf Jahre alt, und 50.000 Euro für einen neuen lassen sich nicht so einfach aus dem Ärmel schütteln. Aus dieser Perspektive lässt sich besser verstehen, warum weite Teile der meinungsführenden Presse den Umbau des Sozialstaates, wie er vom ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder vorgenommen wurde, publizistisch unterstützt haben und noch immer unterstützen. Aus dieser Perspektive lässt sich auch erklären, warum die Kämpfe der Armen in unserer Gesellschaft vonseiten der Medien für die Augen der Öffentlichkeit nicht transparent genug gemacht werden. Denn auch viele Journalisten entstammen, wie es diverse Studien darlegen, aus den mittleren Schichten.

Nicht wenige von ihnen blicken, auch wenn durchaus auch immer wieder einmal differenziertere Berichte in den Medien zu finden sind, mit denselben Vorurteilen, mit den selben "klassenrassistischen" (klassistischen) Ressentiments auf die Armen, wie viele andere Angehörige der mittleren Schichten und Klassen.

Journalistenpreis für Vorurteile gegenüber Armen

So verwundert es dann auch nicht, dass die Jury des Deutschen Journalistenpreises ein Interview gewürdigt hat, dessen Überschrift "Trösten und Triezen" in verdichteter Form einen ganzen Komplex an negativ konnotierten Wirklichkeitsvorstellungen beinhaltet, die die Vorurteile gegenüber den Armen zum Ausdruck bringt.

"Die Hartz-Reformen waren ein Erfolg, wenn man sie so umsetzt wie Hermann Genz - kompromisslos und herzlich zugleich", schreibt der Preisträger im Vorspann seines Interviews mit dem Direktor eines Jobcenters.

In einer Pressemitteilung des "Deutschen Journalistenpreises" heißt es: "Die Jury war insbesondere beeindruckt vom prägnanten journalistischen Stil, wechselnd zwischen sehr lebendigen Interviewpassagen und vertiefenden Hintergrundinformationen unter der Überschrift "Trösten und Triezen". Der Protagonist komme dem Leser sehr nahe, so dass man ihn am liebsten selbst kennenlernen möchte."

Die Bewertung der Jury klingt wunderbar. Nur: Hätte sie nicht über das Wort "Triezen" stolpern müssen? Synonyme für Triezen sind quälen, beanspruchen, ärgern und bei einem erweiterten Begriffsverständnis lassen sich Worte wie drangsalieren, malträtieren, strapazieren oder die Hölle heiß machen anführen.

Selbst in seiner sanftesten Wortbedeutung ("beanspruchen") lässt der Begriff Triezen im Kontext des Interviews noch eben jenen Widerhall erkennen, der den Ton vom arbeitsscheuen Hilfeempfänger trägt. Zum Vorschein kommt in der Überschrift das "klassenrassistische" Bild vom Armen, der den ganzen Tag in seiner Komfortzone herumlungert, der keine Lust zum Arbeiten hat und den es gefälligst zu "beanspruchen" ("die Hölle heiß machen") gilt.

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, auf das Interview näher einzugehen. Angemerkt werden soll nur: Wenn der Interviewte etwa mit geradezu hörbaren Stolz davon spricht, dass man Hilfebezieher, die zu einem Jobinterview müssten, Leihräder bereitstelle, da man "kein Fahrgeld in Bar" auszahle ("mit dem unseren Kunden machen könnten, was ihnen beliebt"), im süffisanten Ton anmerkt, wie viele "Spontanheilungen" es im Haus schon gegeben habe, in Momenten, als man Leistungsbezieher zum Amtsarzt habe begleiten wollen, oder Leistungsbezieher mit Drogensüchtigen vergleicht, die aufs Amt kommen, um ihren "Stoff", sprich: Geld abzuholen, wird deutlich: Ein Journalismus kommt zum Vorschein, der den Argwohn und die boshaften Unterstellungen, die immer wieder den Armen aus der Mitte der Gesellschaft entgegengebracht werden, nicht nur nicht hinterfragt, sondern durch das Auslassen der Kritik an den Äußerungen des Interviewten beides noch forciert.

Eine ideologische Komplizenschaft zwischen Journalist, Interviewtem und Jury bahnt sich ihren Weg, die keinen Spielraum für eine differenziertere Betrachtung zulässt.

Wer bereit ist, sich auf die Rolle des teilnehmenden Beobachters einzulassen und die Lebensverhältnisse der Armen zu studieren, der kann nur zu einem Schluss kommen: Von den Armen wird, bildlich gesprochen, erwartet, dass sie auch unter einer schweren Sauerstoffunterversorgung Leistungen bringen wie diejenigen, denen genügend Sauerstoff zur Verfügung steht.

Wer alleine schon mit gesundem Menschenverstand der Frage nachgeht, wie es möglich ist, dass Armut sich quasi "vererbt" und auf eine Sozialhilfegeneration die nächste folgt, muss zu der Ansicht kommen: Der erste und wichtigste Schritt zur Armutsbekämpfung ist, ein System aufzubauen, in dem Arme so viele Mittel zur Verfügung gestellt werden, dass sie in die Lage versetzt werden, ihre "innere Infrastruktur" (von der nach Jahren in Armut oft nur noch Ruinen oder gar nichts mehr übrig ist) nachhaltig wieder aufzubauen.

Erst dann, wenn auf eine Infrastruktur zugegriffen werden kann, die es den Armen erlaubt, ihren eigenen Handlungsradius zu erweitern, besteht die realistische Möglichkeit, dass Körper und Psyche sich regenerieren, sie nach und nach mit neuer Lebenskraft und Energie zurück in die "normalen Strukturen" des Lebens zurückfinden können. Eine expansive Sozialpolitik heißt aber vor allem auch: Den Teufelskreislauf der Armut an der Stelle aufzubrechen, an der er zu den nachfolgenden Generationen, die in armen Verhältnisse geboren werden, übergeht.

Den Armen von heute so zu helfen, dass sie nicht mehr in Armut leben müssen, heißt die beste Prävention zu betreiben, die möglich ist, um die nachfolgenden Generationen der Armen vor Armut zu schützen. Langfristig gedacht, würde die gesamte Gesellschaft von Verhältnissen profitieren, in der Armut ausgerottet ist.

Bitter: Klassismus, Neid und eine Politik, die vor allem die Interessen der höheren Schichten bedient, verhindern mit aller Macht eine echte Bekämpfung von Armut.