Die Beirutisierung Bagdads
Erneuter Autobombenanschlag im Irak; Schiitenführer proklamiert eigene Regierung
CIA-Agenten, Vertreter der amerikanischen Administration und Mitglieder des irakischen Regierungsrates gehören zu den Gästen des Hotels Bagdad im Zentrum der irakischen Hauptstadt. Am gestrigen Sonntag explodierte dort eine Autobombe. Mindestens sechs Menschen kamen bei dem Anschlag ums Leben, über 30 wurden verletzt, zum Teil schwer. Zu den Leichtverletzten gehört auch ein Mitglied des irakischen Regierungsrates (IGC).
Schon vor sechs Wochen hat die Polizei an derselben Stelle einen Attentäter mit einer Autobombe gestoppt, wird berichtet. Jetzt spekuliert man, wem der gestrige Anschlag galt: dem amerikanischen Geheimdienst, den Vertretern der Bremer-Administration, oder den irakischen Regierungsratsmitgliedern - im letzten Monat erlag Aqila al-Hashimi, übrigens die einzige Ministerin aus dem Regierungsrat, die schon in Saddam Husseins Kabinett saß, einem Anschlag - oder eben allen zusammen.
Ganz sicher sind der junge Schiitenführer Muqtada as-Sadr und seine Anhänger nicht die einzigen Iraker, welche US-Besatzer und Mitglieder des Regierungsrates über einen groben Kamm scheren; nur macht as-Sadr keinen Hehl aus seiner unerbittlichen Gegnerschaft zur amerikanischen Verwaltung des Irak: Seine Opposition ist laut, vehement und so nuanciert wie ein Schlag mit dem Hammer. Für ihn gilt eindeutig: Wer ein Muslim ist, darf nicht mit den Amerikanern zusammen arbeiten (vgl. Der Punk unter den irakischen Schiitenführern). Das Iraqi Governing Council (IGC) ist für ihn eine Marionettenregierung und gehört mithin zum gegnerischen Lager. Bislang wurde er allerdings von den Amerikanern nicht allzu ernst genommen, frei nach dem Motto "bellende Hunde beißen nicht". Möglich, dass sich dies in nächster Zeit ändert.
Wenn er dumme Statements abgeben will, ist das eine Sache. Wenn er aber Gesetz und Ordnung direkt herausfordert, müssen wir reagieren. Und die irakische Polizei, das weiß ich, wird reagieren wollen
anonymer Offizieller der alliierten Streitkräfte in der New York Times
Noch kein Alarm also, aber eine deutliche Drohung in Richtung des populären Schiitenführers, der in seiner letzten Freitagspredigt eine eigene Regierung im Irak mit "einigen Ministerien" ausgerufen und ein paar Hundert Demonstranten auf die Straße geschickt hat. Was die US-Behörden allerdings weniger beunruhigend finden als as-Sadrs Hausmacht in "Sadr-City", benannt nach dem Onkel Muqtadas, einem hoch angesehenen Kleriker der irakischen Schiiten - wahrscheinlich von Saddams Schergen ermordet.
Unter den 4 Millionen Einwohnern des schiitischen Armenviertels von Bagdad hat Muqtada seine größte Anhängerschaft. Dort kam es in letzter Zeit öfter zu blutigen Anschlägen und Gefechten zwischen Sadr-Milizen und US-Soldaten. Am Donnerstag starben bei einem Gefecht zwischen mutmaßlichen Mitgliedern der al-mahdi-Armee von as-Sadr und US-Soldaten zwei amerikanische Soldaten. Stunden zuvor waren bei einem Anschlag auf ein Polizeirevier in Sadr-City neun Menschen ums Leben gekommen.
Laut al-Dschasira könnte der Ort der Anschläge ein deutliches Zeichen dafür sein, dass die schiitischen Muslime ihre zurückhaltende, nicht aggressive Haltung gegenüber den Besatzungsmächten aufgeben:
Man kann nicht behaupten, dass sich jetzt alle Schiiten gegen die Amerikaner erheben; aber die Bewohner von as-Sadr-City - die beeinflusst sind vom islamischen Kleriker Muqtada as-Sadr - sind sehr wütend auf die Besatzungsmächte. Es sind sehr arme Leute und die Auswirkungen der Besatzung treffen sie besonders hart. Bislang haben die Amerikaner große Anstrengungen gemacht, die Schiiten nicht zu provozieren, aber es kann gut sein, dass die Sache jetzt entzwei geht
Achmed Schuruf, Al-Dschasira