Die Bürde des Menschen ist unantastbar
Wir erben die Sorge um die tägliche Existenzsicherung, die noch jedes System zementiert, obgleich sich ein bedingungslosen Grundeinkommen sogar mit dem Grundgesetz begründen lässt
Nicht hungern, nicht frieren, nicht missachtet sein - drei Grundbedürfnisse des Menschen, die vor allen anderen Bedürfnissen und Ansprüchen kommen. Macht hat, wer Nahrung, Wärme und Anerkennung zuteilen oder verweigern kann. Nichts davon ist selbstverständlich, wenn das Mädchen oder der Junge der elterlichen Fürsorge einmal entschlüpft ist und sich (Lohn-)Arbeit suchen muss. "Verdingen" hieß das früher, man macht sich buchstäblich zum Ding - beliebig benutzbar, verwertbar von Anderen. Wer nichts hat, verkauft sich selbst als Ware: seine Arbeitskraft, seinen Körper, seinen Verstand, seine Würde. Die Unsicherheit der Existenz ist die größtmögliche Gefährdung der Menschenwürde.
"Die Würde des Menschen ist unantastbar"
So steht es im Grundgesetz, Artikel 1. Das sei keine Utopie, sondern geltendes Recht, meinen Rechtsexperten. Der bekannteste und vielleicht wichtigste Artikel des Grundgesetzes sagt also, dass kein Mensch Angst um seine Existenz haben solle. Denn die Würde des Menschen liegt in seiner Selbstbestimmung (Pico dell Mirandola), und die verträgt sich schlecht mit Existenzangst und dem Zwang, Bullshit-Jobs anzunehmen oder aber um Hartz-IV-Almosen zu betteln.
Wer in Verhältnissen aufwächst, in denen Miete und Lebensunterhalt das monatliche Einkommen restlos auffressen, der erlebt Selbstbestimmung und Freiheit nur als Ausnahmezustand. Zum Beispiel als Urlaub - Reiseanbieter werben mit Slogans wie "Vergessen Sie einmal die täglichen Sorgen". Doch nach zwei, drei Wochen sind die Sorgen wieder da. Wer nach der Schulzeit Mut und das Glück unterstützender Eltern hat, zieht mit anderen in ein besetztes Haus oder gleich als Backpacker rund um die Welt. Ohne die Sorge um die Monatsmiete schrumpfen die finanziellen Bedürfnisse auf ein Minimum.
Kapitalistisch verwertbar sind solche Aussteiger kaum, für die allermeisten bleibt es auch nur eine Episode, bis sie notgedrungen ins Hamsterrad der Konsumgesellschaft einsteigen müssen. Erst Jahrzehnte später ist man, sofern die Rente reicht und die Wohnung Eigentum und abbezahlt ist, wieder weitgehend frei vom Zwang zu Anpassung und Anschaffung. Mit einer Prise Zynismus darf man auch noch die Obdachlosen zu jenen zählen, die wirklich frei und selbstbestimmt leben - einige sehen sich ja selbst so.
Die Corona-Krise zeigt nun überdeutlich, wie prekär die Lage selbst gutverdienender Lohnabhängiger wirklich ist - von Freiberuflern und Kleinunternehmern ganz zu schweigen. Möglich, dass die Arbeitslosenzahlen auch in Deutschland, wie jetzt schon in den USA, in den nächsten Monaten explodieren. Die politischen Folgen möchte man sich gar nicht vorstellen. Sozialer Abstieg weckt in der Regel nicht die guten Eigenschaften der Menschen. Andauernde Existenzangst macht, wie Angst generell, Menschen schwach, krank und depressiv oder auch aggressiv, egoistisch, anfällig für Missgunst und Schuldzuweisungen an Fremde und Schwächere, macht sie verführbar durch Demagogen und Führer aller Art. Wer Angst hat, lässt sich am Nasenring durch die Manege führen und tanzt noch dabei. Angst essen Seele auf, schrieb Fassbender. Und die Würde zuerst.
Das BGE sichert Würde
Zumeist berührt der Diskurs über das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) nur dessen sozioökonomische Seiten: Ist es finanzierbar, sollen es "Faule" wie "Reiche" gleichermaßen bekommen, nützt oder schadet es der Wirtschaft?
Für viel wichtiger halte ich die Frage, was ein BGE mit den Empfängern macht. "Sie schlafen besser":https://www.deutschlandfunkkultur.de/initiator-ueber-bedingungsloses-grundeinkommen-der-grosse.1008.de.html?dram:article_id=439149:, heißt es z.B. als Resümee eines deutschen Crowd-finanzierten Experiments. So unspektakulär das klingt, ist es doch entscheidend. Der wichtigste Effekt des BGEs liegt nicht in der materiellen Existenzsicherung, sondern in der damit ausgedrückten Wertschätzung der Gesellschaft dem Einzelnen gegenüber.
Das BGE - genau genommen dessen Bedingungslosigkeit - gibt Würde zurück, indem es sagt: Du bist ein Teil von uns, du hast ein Recht auf die Teilhabe am Reichtum, den wir als Gesellschaft geschaffen haben und zukünftig schaffen. Das BGE ist deshalb (auch) ein zutiefst demokratisches Projekt. Aber vor allem ist es emanzipatorisch. Emanzipation bedeutete ursprünglich: Befreiung aus der Sklaverei.
Teilhabe an Wirtschaft genauso wie am Wissen
Auch der Reichtum an Wissen und Kultur ist prinzipiell "für alle" da, und daran stört sich (heute) kaum noch jemand. Im 17. und 18. Jahrhundert, im Zeitalter von Aufklärung und der bürgerlichen Revolutionen, entstanden nicht nur die ersten öffentlichen, allen zugänglichen Bibliotheken, sondern auch die allgemeine und kostenlose Schulpflicht. Das Recht auf (kostenlose) Bildung ist ein Menschenrecht, die Schule in den meisten Ländern sogar Pflicht, und das Weltwissen ist heute, dank Internet und digitaler Medien, sehr vielen Menschen so leicht verfügbar wie die Luft zum Atmen. Und zwar völlig unabhängig davon, wie stark sie selbst zur Vermehrung dieses Wissens-Reichtums beitragen.
Das war nicht immer so, Bildung war lange Zeit ein Privileg von Gelehrten, Klerikern und Adligen, Bücher waren weggeschlossen in Klöstern und Privatgemächern und exklusiven Universitätsbibliotheken. Die ersten Volksbibliotheken wurden von der Obrigkeit noch argwöhnischer beäugt und zensiert als schon die Zeitungen und Druckereien. Die "Druckfreiheit", so mahnte laut der Münchner Allgemeinen Zeitung von 1799 der schwedische König, dürfe keinesfalls dazu genutzt werden, "wider die Regierungsart oder die Moral und guten Sitten irgend einen Versuch zu wagen". Spätere bürgerlich-demokratische Regierungsarten mit größerer Systemresilienz hatten kaum noch Angst vor Kritik - das ändert sich aber gerade wieder.
Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum für die Teilhabe am ökonomischen Reichtum in unserer Überflussgesellschaft nicht Ähnliches gelten soll wie für die Teilhabe am Wissens-Reichtum. Das sehen selbst manche Konzernchefs so. Unterstützung von "der anderen Seite der Barrikade" macht wiederrum misstrauisch: Lauere da nicht die Gefahr, dass das BGE so gestaltet wird, dass es einseitig Konzerninteressen dient? Also Abbau von Tarif- und Mindestlohn, Sozial- und Arbeitslosenversicherung, Arbeitnehmerrechten?
Solche Bedenken sind begründet und müssen beachtet werden, sind aber kein Argument gegen das BGE. Denn das wäre etwa so, als wenn man die allgemeine Schulbildung ablehnte, nur weil sie auch dazu dient, den Kapitalisten nützlichere Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen.
Kein Brot ohne Schweiß?
"Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!" Mit diesen Worten (1 Mose 3) soll der Schöpfer seine nicht so ganz gelungenen Prototypen aus dem Paradies verdammt haben - pikanterweise festgehalten in Schriften aus einer Zeit, wo Sklaverei die gängige Gesellschaftsform und also der Schweiß und das Brot sehr ungleich verteilt waren. An letzterem hat sich nicht viel geändert, und damit das so bleibt, haben die, die ihr Brot ungern teilen, ein weiteres Bibelzitat parat: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." (Allerdings spricht einiges dafür, dass Paulus damit gerade die Reichen meinte, die sich an den von anderen gedeckten Tisch setzten.)
Dieses gegen das BGE gerichtete Gerechtigkeitsargument verkennt unter anderem, dass der heute von Waren überquellende Tisch nicht nur von den heute arbeitenden Menschen gedeckt wird, sondern auch auf der Arbeit früherer Generationen beruht. Vermutlich also auch auf der Arbeit der Mütter, Väter, Großeltern usw. der heute Bedürftigen.
Die heute gebauten Autos beruhen auf Erfindungen, die 100 und mehr Jahre alt sind. Das Rad wurde vor mehr als 5000 Jahren erfunden und seitdem weiterentwickelt. Unsere Straßen verlaufen auf uralten durch die Wildnis geschlagenen Pfaden, unsere Äcker liegen auf vor Jahrhunderten gerodeten Wäldern und trockengelegten Sümpfen. Ein kaum zu bezifferndes ökonomische Erbe ist die Grundlage für die Ökonomie der Gegenwart, für die Löhne der "rechtschaffen" dafür schuftenden Lohnabhängigen, noch mehr aber für die Gewinne der wirklich Reichen.
Beim Argument, ein BGE würde zum Nichtstun verleiten, müsste es eigentlich einen kollektiven Aufschrei der Eliten geben: Die, die ihr ganzes Leben lang mehr als auskömmliche Apanagen, Dividenden, Finanzgewinne oder Mieten vereinnahmen - also praktisch auch ein bedingungs- und oft auch leistungsloses Einkommen -, dürften sich gegen den Vorwurf der Faulheit zu recht verwahren. Aus ihren Reihen kamen und kommen berühmte (und teils berüchtigte) Politiker und Militärs, aber auch Wissenschaftler, Philosophen, Maler, Komponisten und Schriftsteller, die ohne ein wie auch immer genanntes "BGE" ihre Werke nicht hätten schaffen können.
Not macht zwar erfinderisch, aber nur Muße macht kreativ. Und wie viele Genies sind der Welt eigentlich verloren gegangen, weil sie sich um ihren Lebensunterhalt und den der Familie kümmern mussten?
Ausbruch aus dem Teufelskreis
Der Kreislauf von Schweiß und Brot, von Arbeit und Lohn, ist der treibende Motor jeder Warenwirtschaft und reproduziert die Lohnabhängigkeit der Arbeitnehmer so sicher, wie der Kreislauf von Sünde und Vergebung in der katholischen Leid(!)kultur seit 2000 Jahren die Gläubigen in dauerhafter Abhängigkeit von der Kirche hält.
Das BGE wird den Kapitalismus nicht abschaffen, es kann aber dessem Zwang zur Lohnarbeit die Unausweichlichkeit nehmen und gleichzeitig die Arbeitslosen vom Brandmal angeblicher Nutzlosigkeit befreien. Seine Potenz ist, den verunsicherten und von der Wirtschaft immer weniger benötigten Schichten eine neue Würde zu geben, sie von ohnmächtigen Feilbietern ihrer "Ware Arbeitskraft" wieder zu selbstbewusst handelnden Subjekten zu machen. Von da aus ist vieles möglich.
Diese Potenz weckt aber sicherlich auch starke, wiewohl versteckte Abwehrreflexe bei jenen, die von ökonomischer Unfreiheit profitieren. Das BGE hat nicht deshalb wenig Chancen bei den Regierungsparteien, weil es nicht finanzierbar wäre oder zu Wirtschaftsabschwung führen könnte, sondern weil ein Heer von Abhängigen vielen Interessengruppen durchaus willkommen ist. Als "Reservearmee" der Industrie, um Löhne niedrig zu halten, als lenkbare Masse für Stimmungsmache und mediale Hetze, als Wählerpotential für Parteien, die aus Verunsicherung und Enttäuschung politisches Kapital schlagen.
Das Selbstbewusstsein der Massen ist es, was die Mächtigen am meisten fürchten. Deshalb wäre es wichtig, zwischen den Grundeinkommen-Befürwortern erst einmal einen Konsens über dessen Bedingungslosigkeit zu schaffen, bevor über Finanzierung und Ausgestaltung gestritten wird. Damit die entwürdigende Bürde der Existenzangst baldmöglichst der Geschichte angehört.
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