Grundeinkommen überwindet mit der Lohnarbeit den Kern der kapitalistischen Vergesellschaftung

Kommt mit der Corona-Krise das Bedingungslose Grundeinkommen?

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Die gesamte Welt steht vor ungeheuren Umwälzungen. Durch den Corona-Virus ist das Wirtschaftsleben in weiten Teilen der Welt zum Erliegen gekommen. Die Staaten müssen mit gigantischen Alimentierungsmaßnahmen ihren Bevölkerungen aushelfen. Manche sprechen bereits vom Ende des Kapitalismus.

Karl Reitter war langjähriger Lektor an den Universitäten Wien und Klagenfurt, Privatdozent für Philosophie und ist Ehrenmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen der Partei Die Linke. Er war Mitherausgeber der Zeitschrift "Grundrisse" und ist Redaktionsmitglied der österreichischen Monatszeitung "Volksstimme". Seit vielen Jahrzehnten beschäftigt er sich wissenschaftlich mit der Frage des Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE). Die Möglichkeit oder sogar Notwendigkeit von Grundeinkommensmodellen ist nun durch Corona in kaum vorhersehbarerweise aktuell geworden.

Herr Reitter, wie geht es Ihnen und wie kommen Sie mit der aktuellen Isolation durch die Einschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zurecht?

Karl Reitter: Ehrlich gesagt nicht so gut. Wirtschaftlich mangelt es mir an nichts, als Pensionist beziehe ich ja de facto ein Grundeinkommen. Soziale Kontakte fehlen mir aber sehr. Unser gesellschaftliches, kulturelles und politisches Leben lässt sich nicht ins Internet verlagern, das ist eine Illusion, oder wenn man so will eine Lüge. Wir haben nun schon seit Jahrzehnten ein ausgebautes Internet. Trotzdem boomen Live-Events und -Veranstaltungen wie nie zuvor. Als soziale Wesen ist der unmittelbare Kontakt nicht zu ersetzen.

In den USA schickt der Finanzminister Steven Mnuchin jetzt Schecks an die Bevölkerung. Ist dies bereits ein Bedingungsloses Grundeinkommen oder entspricht dies eher dem Plan von Friedrich August von Hayek, der sich eine administrativ möglichst simple Sozialhilfe wünschte nach dem Motto: Gebt den Leuten was zu essen und überlasst sie ihrem Schicksal?

Karl Reitter: Stellen wir vorweg klar, was das Grundeinkommen eigentlich bezwecken will. Wir Befürworter wollen eine Gesellschaft, die jedem Individuum, egal, was es tut oder lässt, lebenslang die materielle Grundversorgung garantiert. Die Gesellschaft soll sich auf dieses Grundrecht verpflichten. Wir meinen auch, dass die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen dafür gegeben sind.

Sowohl für Friedrich August von Hayek als auch für den immer wieder genannten Milton Friedman wäre ein derartiges Ziel absurd, wirtschaftlich schädlich und ihrem Konzept von Freiheit entgegengesetzt. Friedman ging es in einem Buch "Kapitalismus und Freiheit" um eine ganz minimale Absicherung, nach heutiger Kaufkraft schlug er eine negative Steuer von maximal 214 $ im Monat vor. Wenn die materielle Existenz des Individuums als Grundrecht von der Gesellschaft gesichert wird, kann niemand davon ausgeschlossen werden. Wer also die Frage stellt, warum sollen Millionäre es auch bekommen, will das Konzept nicht verstehen.

Seltsamerweise fürchten sich auch konservative Regierungen nicht vor dem Staatsbankrott, wenn jetzt Hilfspakte aufgelegt werden, die alle bisherigen Verschuldungsrahmen sprengen. Ist das Austeritätsdiktat dadurch in seiner Falschheit entlarvt und beweist dies, dass das Geld für (ungleich günstigere) Maßnahmen wie das BGE immer dagewesen wäre?

Karl Reitter: Die derzeitig beschlossen Hilfspakete haben zwar eine beeindruckende Größe, sind aber doch nur als Einmalzahlung konzipiert. Dass die herrschenden neoliberalen Kreise jederzeit bereit sind, ihr Dogma von der schwarzen Null in der Budgetierung aufzugeben, haben sie schon in der Bankenkrise von 2008 bewiesen.

Ein auf Dauer gestelltes Grundeinkommen benötigt einen Finanzrahmen von 25% bis 35% des Bruttoinlandsprodukts. Ein echtes Grundeinkommen kann nur über massive Erhöhung der Steuern auf hohes Einkommen und großen Besitz finanziert werden. Deswegen schrieben sogar Kritiker wie Alex Gourevitch und Lucas Stanczyk "recently even billionaires have been paying lip service to the idea", halten aber fest: "It should be clear that the business class will not willingly agree to expropriate itself."

Was verstehen Sie genau unter einem echten BGE und wieso ist dies keine Form der Sozialhilfe, wie das Grundsicherungsmodell der österreichischen Grünen, das immer noch die "Arbeitswilligkeit" überprüfen wollte?

Karl Reitter: Ein echtes Grundeinkommen kann durch vier Kriterien definiert werden: Es muss existenzsichernd sein, es ist individuell auszuzahlen, es muss für alle sein, egal ob Staatsbürger oder nicht, und vor allem ist es bedingungslos. Es ist vor allem nicht an die Bereitschaft gebunden, eine Lohn- und Erwerbsarbeit aufzunehmen, ebenso wird möglicher Besitz oder Einkommen welcher Art auch immer nicht berücksichtigt.

Was nun das Grüne Sozialmodell betrifft: Die gesamte wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema verweist auf die Transformation des ursprünglichen welfare state zum neoliberalen workfare state. Ursprünglich in der Phase des Nachkriegsbooms und der Vollbeschäftigung für Männer als Absicherung gegen Risiken des Erwerbslebens konzipiert, sind Sozialtransfers für Erwerbsarbeitslose und Bedürftige weitgehend zum Mittel der Disziplinierung und Indoktrinierung geworden. Michael Hirsch spricht daher zu Recht vom "punitiven Paternalismus" des Sozialstaates. Die Grüne Mindestsicherung plädiert zwar für mildere Sanktionen, verbleibt aber im Paradigma des workfare states.

"Das Grundeinkommen depotenziert die Basisinstitution des Kapitalismus, den Zwang zur Lohnarbeit"

In der Corona-Krise zeigt sich, dass die neoliberale Umgestaltung des Gesundheitswesens tödliche Folgen hat, wenn beispielsweise mächtige Pharmakonzerne überteuerte Produkte verkaufen und ihre Patente schützen, statt zu helfen. Demgegenüber scheint es der "starke Staat" zu sein, der nun Menschenleben rettet. Wenn sich somit in vielen Bereichen der Kapitalismus überlebt zu haben scheint, warum ihn dann noch mit dem BGE retten, statt jetzt dezidiert nach einem sozialistischen Umbau des Staates zu streben?

Karl Reitter: Danke für diese wichtige Frage. Das Grundeinkommen depotenziert die Basisinstitution des Kapitalismus, den Zwang zur Lohnarbeit. Für Marx ist die Lohnarbeit der Kern der kapitalistischen Vergesellschaftung, die weiten historischen Formen der kapitalistischen Ökonomie - also das Arbeitsprodukt wird zur Ware, die Produktionsmittel und der Grund und Boden zum Privateigentum - sind ihre unmittelbare Folge. "Arbeitslohn ist eine unmittelbare Folge der entfremdeten Arbeit, und die entfremdete Arbeit ist die unmittelbare Ursache des Privateigentums." (MEW 40; 521)

Wir haben also drei elementare Formen der kapitalistischen Vergesellschaftung zu überwinden: Lohnarbeit, Warenstatus des Arbeitsproduktes und das Privateigentum an Produktionsmitteln und an Grund und Boden. Eine sozialistische und kommunistische Gesellschaft muss daher auch das Grundeinkommen verwirklicht haben.

Ihrer Konzeption liegt ein anspruchsvoller Freiheitsbegriff zu Grunde, es geht Ihnen offenbar, kantianisch gesagt, weniger um eine "Freiheit von", als um eine "Freiheit zu". Was bedeutet durch ein Grundeinkommen gewonnene Freiheit?

Karl Reitter: Es bedeutet in Freiheit tätig zu sein. Als Marxist vertrete ich einen empathischen Arbeitsbegriff. Erst als freie Tätigkeit kann Arbeit zu dem werden, was sie eigentlich sein kann: "das erste Lebensbedürfnis" (MEW 19; 21) des Menschen. Viele Kritiker betreiben hier Etikettenschwindel. Sie sprechen von Vollbeschäftigung statt Lohnarbeit und unterschlagen die massive Kritik von Marx. Die Vorstellung, Lohnarbeit könne tatsächlich jene freie Tätigkeit sein, die Marx als Ziel der Überwindung des Kapitalismus anvisiert, ist aus Marxscher Perspektive absurd.

Bereits Marx erkannte das Problem, dass nachkapitalistische Wirtschaften in Zahlen darstellbare Maße haben muss, um Verteilungsgerechtigkeit zu erreichen. Hier gibt es zwei Probleme: Erstens, wie kann der gesellschaftliche Nutzen gemessen werden der nicht produzierenden Arbeit, sei es jene des Hausmanns oder der Schauspielerin? Zweitens, wie kann eine feste Rechengröße eingeführt werden, bei der dem Quantum geleisteter Arbeit ein Lohn entspricht? Von Lenin über Trotzki bis zu Pannekoek wurden keine befriedigenden Lösungen für diese Probleme gefunden. Der russische Dichter Welimir Chlebnikow hatte übrigens eine (wenig beachtete) Lösung: Der Lohn soll nach der Anzahl der erbrachten Herzschläge bestimmt werden, was zur Folge gehabt hätte, dass Verliebte besonders gut verdienen. Lässt sich unterm Strich sagen, dass die sozialistischen Staatsversuche des letzten Jahrhunderts am Problem der "Stundenzettel" gescheitert sind, weil die wechselnde Wertbestimmung durch die Despotie des Planes ersetzt wurde?

Karl Reitter: Für Marx ist der Begriff der Gerechtigkeit keine Leitidee. Die kapitalistische Ökonomie lässt die Verhältnisse anders erscheinen, als sie sind. Insbesondere ist die wissenschaftliche Tatsache der Ausbeutung nicht ersichtlich. Marx nennt den Grund: "Man begreift daher die entscheidende Wichtigkeit der Verwandlung von Wert und Preis der Arbeitskraft in die Form des Arbeitslohns oder in Wert und Preis der Arbeit selbst. Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt, berührt alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie." (MEW 23; 562) Und wir müssen hinzufügen, auch viele Vorstellungen von Gerechtigkeit. Ausbeutung wird von einer analytischen Kategorie zur moralischen Anschauung. Der Kommunismus will nicht Gerechtigkeit verwirklichen, sondern die Freiheit, sich mit selbstbestimmte Tätigkeit mit anderen zu verbinden.

Was nun das Konzept der Stundenzettel betrifft, das Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms entwirft: Im sogenannten Realen Sozialismus wurde nobel dazu geschwiegen, bloß die von Ihnen angesprochen Gruppe der Internationalen Kommunisten unter Mitarbeit von Anton Pannekoek sah darin eine ökonomische Alternative zur Stalinistischen Kommandowirtschaft.

Ich halte das Marxsche Konzept der Stundenzettel für unausgegoren. Es lässt zu viele Fragen offen: Wer bestimmt was Arbeit überhaupt ist, wer arbeitet, und wie ist Arbeit zu messen? Aber die grundlegende Intuition von Marx ist korrekt. Eine Gesellschaft im Übergang zum Kommunismus kann nicht grenzenlosen Konsum ermöglichen. Dieser muss erstmals limitiert werden. Was spricht eigentlich dagegen, das gesellschaftlich produzierte Gesamtprodukt weitestgehend egalitär auf alle aufzuteilen? Ein notwendig mächtiger Staatsapparat, der über Arbeit und ihr Ausmaß entscheidet, wäre dann überflüssig,

Wie kann nun das BGE diese Schwierigkeit lösen und uns näher an ein Wirtschaften führen des "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen"?

Karl Reitter: Marx hat bewusst keine Blaupause für den Übergang zum Kommunismus verfasst. Marxistisch denken bedeutet, die objektiven Möglichkeiten, die in verhüllter Form im Kapitalismus existieren, zu erkennen und zu versuchen, diese politisch zu nutzen. Diese sind vor allem durch die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit gegeben. Auch das Konzept des Grundeinkommens ist kein umfassendes Rezept für den Übergang. Es depotenziert bloß die Grundinstitution der kapitalistischen Gesellschaft, die Lohn- und Erwerbsarbeit. Es skizziert zugleich ein mögliches Distributionsprinzip einer freien Gesellschaft.

"Lohnarbeit als Modus der sozialen Integration ist nicht die Lösung, sondern das Problem"

Wenn es letztlich um die Durchsetzung der Persönlichkeit geht, die eben das kapitalistische Wirtschaften und Konsumieren verhindert, dann muss der Begriff der Arbeit problematisiert werden. Schließlich kann die allgemeine gesellschaftliche Existenz des Menschen wohl nur gewürdigt werden, wenn der verkürzende Begriff der Arbeit überwunden wird. Wie kann das BGE hierbei helfen?

Karl Reitter: Das gesellschaftlich hegemoniale Verständnis von Arbeit setzt diese mit Lohn- und Erwerbsarbeit gleich. Haus- und Pflegearbeit, Arbeit in gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und künstlerischen Kontexten wird nicht als Arbeit anerkannt und abgewertet. Mit dieser völlig verkürzten Sichtweise von Arbeit korrespondiert die Vorstellung, unsere Gesellschaft zerfalle in eine produzierende Sphäre, das wäre die kapitalistische Ökonomie, und in eine bloß konsumierende Sphäre, das wären alle anderen gesellschaftlichen Bereiche. Daraus wird der Vorwurf gestrickt, das Grundeinkommen würde nicht für Lohn Arbeitende alimentieren.

Diese Entgegensetzung ist zutiefst ideologisch. Es genügt, sich die Faktoren für die Produktivkraft der Arbeit vor Augen zu halten. Diese beruhen, wie Marx zeigt, auf allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen, die nicht zuordenbar oder lokalisierbar sind. Der Kapitalismus beruht auf Bedingungen, die er weder erzeugen noch reproduzieren kann, die er aber unabdingbar für seine Existenz benötigt.

Er ist eine substanziell parasitäre Wirtschaftsordnung. Für sich alleine kann er nicht existieren. Dieses Faktum formuliert der renommierte marxistische Ökonom Michael Krätke folgendermaßen: "Das ist aus systematischen Gründen nicht der Fall, der Kapitalismus ist nur als 'offenes' System zu denken. Das heißt als ein System, das einige wesentliche Voraussetzung für seine Existenz und Entwicklung eben nicht vollständig 'aus sich selbst heraus' mit eigenen Mitteln produzieren kann. Eine privatkapitalistische Produktion von Lohnarbeitern oder von natürlichen Ressourcen ist nicht denkbar und existiert nicht."

Gerade von sozialdemokratischer Seite ist zu hören: Wer die Arbeit als Grundlage der Gesellschaft nicht anerkenne, betreibe abgehobene, illusionäre Weltverbesserung, wie sie nur zynischen Intellektuellen einfallen kann. Was entgegnet ein Befürworter des BGE dem Argument, die Menschen wollen schließlich einfach nur Arbeit und einzig diese würde sie emanzipieren?

Karl Reitter: Die Position, dass die Lohn- und Erwerbsarbeit für das ökonomische, soziale und kulturelle Leben des Individuums von höchster Relevanz ist und deshalb Lohnarbeit eine entscheidende Dimension unseres gesellschaftlichen Lebens darstellt, ist nichts als eine gigantische Tautologie. So ist es in der Tat. Und nicht nur für das Individuum selbst, ebenso für dessen Anverwandte, Kinder und Enkel, für Freunde und sogar für Bekannte.

Doch Lohnarbeit als Modus der sozialen Integration ist nicht die Lösung, sondern das Problem. Lohnarbeit ist unabdingbar hierarchisch, ob ich als Stapelfahrer oder als Ärztin tätig bin, ist der Unterschied ums Ganze. Dass neoliberale Ideologen behaupten, in der Lohn- und Erwerbsarbeit könne sich das Individuum entfalten, überrascht nicht, dass dies von den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie geteilt wird, schon eher. Arbeitstätigkeit bloße als Gebrauchswertproduktion betrachtet, erfordert und fördert je nach Tätigkeit Kompetenzen und Fähigkeiten des Individuums, als Verwertungsprozess unterliegt sie aber den Gesetzen der Profitproduktion und Profitmaximierung.

Die Rede von der sozialen Integration durch Lohnarbeit hat etwas Zynisches. Dass Marginalisierung und soziale Ausgrenzung auch in und durch die Lohnarbeit stattfindet, ist eine Tatsache. Die migrantische Hausangestellte ist ausgegrenzt, sie ist marginalisiert. Ebenso die aus Rumänien oder Bulgarien stammenden Arbeiter in der deutschen Fleischindustrie. Werden sie als Teil der Deutschen Gesellschaft wahrgenommen? Werden sie überhaupt wahrgenommen, wenn sie hie und da ihre Elendsquartiere verlassen?

Schon Marx meinte: "Sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, [wird] die Arbeit als eine Pest geflohen." Besteht nicht die Gefahr, dass zahlreiche unbeliebte, aber gesellschaftlich wichtige Aufgaben nicht mehr übernommen werden, wenn einmal das BGE eingeführt wurde?

Karl Reitter: Wenn man mit Menschen spricht, die solche Tätigkeiten ausüben, so sehen sie das Problem weniger in der eigentlichen Arbeit selbst, sondern in den Umständen, unter denen sie auszuüben ist. Sind die Bedingungen gut, wird die Arbeit durchaus geschätzt. In Wien sind Jobs in der Müllabfuhr nach wie vor begehrt. Ein Grundeinkommen erlaubt es, "Nein" zu sagen. Fällt der Zwang, so müssen sogenannte unliebsame Arbeiten eben besser bezahlt, und/oder die Arbeitsverhältnisse müssen verbessert werden, Stichwort Mobbing.

Dem BGE steht heute ein Klima der Überwachung und des Angstschüren vor Faulenzern gegenüber. Zeigt dies nicht, dass Arbeit hier als meist unnütze Plage und Strafe verstanden wird. Das Grundgefühl des "Ich hasse meinen Bullshit-Job", wie dies jüngst David Graeber beschrieben hat, wird dabei allgemein vorausgesetzt. Umgekehrt wirkt die Kritik beinahe absurd, denn warum sollte jemand lediglich sein Grundeinkommen einstreifen, ohne zu versuchen seine Ideen und Arbeitskraft dafür zu nutzen, das eigene Leben oder auch das seiner Mitmenschen zu verbessern?

Karl Reitter: Die Forderung nach dem Grundeinkommen beruht auf der Annahme, dass der Mensch ein nach Tätigkeit strebendes Wesen ist. Auf Dauer zu Untätigkeit verurteilt zu sein, ist psychisch und physisch kaum auszuhalten. Schon jetzt sind Menschen in den verschiedensten Bereichen aktiv. Ein Grundeinkommen würde es ermöglichen, ohne Sorge um die Existenz tatsächlich für die Gemeinschaft tätig zu sein, ohne dass das Arbeitsprodukt Warencharakter annehmen muss.

"Das Grundeinkommen überwindet an sich überhaupt keine Form sozialer Herrschaft"

Das BGE versucht eine Art Gebrauchswertökonomie zu erreichen. Können Sie darlegen, inwieweit dies feministische oder ökologische Ziele unterstützen würde?

Karl Reitter: Das Grundeinkommen muss nicht bloß zu einer reinen Gebrauchswertökonomie führen. Schon jetzt fordern Kunstschaffende, in der Wissenschaft tätige, aber auch kleine Selbständige ein Grundeinkommen. Natürlich wollen sie von ihrer Arbeit leben, aber oft ist dies nicht oder nur zeitweise möglich. Ein Grundeinkommen würde materielle Sicherheit bewirken und die Angst, bei Wegfall von Aufträgen ohne Einkommen dazustehen, wäre beseitigt.

Was nun den Einwand betrifft, ein Grundeinkommen würde die Frau zurück an den Herd drängen, so ist folgendes dazu zu sagen: Bei einem Grundeinkommen hat auch die Hausfrau ein eigenes Einkommen und ist nicht mehr völlig vom Einkommen des Mannes abhängig. Dies wird vor allem bei Scheidungen relevant, die Frauen oft in materielle Not stürzen.

Die allgemeine Kritik, das Grundeinkommen würde keineswegs automatisch die Herrschaft des Mannes über die Frau aufheben, ist völlig korrekt. Das Grundeinkommen überwindet an sich überhaupt keine Form sozialer Herrschaft. Es verhindert weder einen autoritären Überwachungsstaat, noch lässt es Rassismus oder Antisemitismus schwinden. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass jede Form sozialer Herrschaft und sozialer Diskriminierung durch das herrschende Wirtschaftssystem ökonomisiert wird. Das heißt, Männer verdienen und besitzen mehr als Frauen, Einheimische mehr als Migranten, Legale mehr als Illegale. Ein Grundeinkommen relativiert den materiellen Ausdruck sozialer Herrschaftsformen.

Die Erfahrung zeigt, dass ein höherer Frauenanteil in der Erwerbsarbeit keineswegs zu einer gesellschaftlichen Besserstellung von Frauen geführt hat. Patriarchale Strukturen wirken nämlich innerhalb der Erwerbsarbeit ebenso wie im privaten Bereich. Das wollen unsere Kritiker nicht wahrhaben. Die erwerbstätige Frau wird in eine gesellschaftliche Hierarchie eingefügt und ihre Diskriminierung zusätzlich ökonomisiert. Sie erfährt nun auch am Lohnzettel, dass sie weniger wert ist als der Mann.

Das Herdprämienargument spiegelt das fundamentale Misstrauen vieler Kritiker des BGE gegen das Individuum. Ein Grundeinkommen würde neue Möglichkeiten der Emanzipation eröffnen, ob sie tatsächlich ergriffen werden, steht auf einem anderen Blatt. Es gibt überdies keine ökonomische Maßnahme, die automatische Emanzipation bewirken kann. Weswegen sonst dafür plädieren, dass die Frau gezwungen sein soll, Lohnarbeit um jeden Preis anzunehmen?

Der Neoliberalismus hat den fordistischen Familienlohn beseitigt. Kaum ein Mann kann heute mit seinem Einkommen problemlos die gesamte Familie ernähren. Und das Ergebnis? Eine Doppel- und Dreifachbelastung für die Frau. Eine Gesellschaft, die auf dem festen Fundament eines Grundeinkommens ruht, relativiert die Bedeutung der Lohn- und Erwerbsarbeit. Alle Geschlechter können dadurch gleichermaßen zwischen Lohnarbeit und Nichtlohnarbeit pendeln.

Und wie steht es um den Zusammenhang von BGE und einem ökologischeren Wirtschaften?

Karl Reitter: Das Grundeinkommen hat tatsächlich auch eine ökologische Dimension. Dass auf dem Altar der Lohnarbeit auch Natur und Umwelt geopfert werden, ist evident. Mit dem Argument Arbeitsplätze zu schaffen, greift das Kapital nicht nur in öffentliche Steuertöpfe, es unterläuft auch Umweltauflagen und ökologische Standards.

Schon längst gibt es den Brückenschlag zwischen der Bewegung für das Grundeinkommen und der degrowth-Szene. Der Begriff degrowth kann mit Wachstumskritik übersetzt werden. Die Grundidee ist einfach und einleuchtend. Ein weiteres lineares Wachstum hält der Planet Erde eben so wenig aus, wie ein Anheben des Ressourcenverbrauchs weltweit auf das Niveau des globalen Nordens.

Da die kapitalistische Ökonomie, angetrieben durch die Akkumulationsspirale Geld - Ware - mehr Geld, unabdingbar ein Mehr an "allem" verlangt, besitzt die degrowth- Bewegung, die sich als Antwort auf die sich abzeichnende ökologische Katastrophe versteht, zweifellos eine antikapitalistische Orientierung. Ein Grundeinkommen würde den rastlosen Zwang nach mehr Arbeitsplätzen, mehr Produktion, mehr Wirtschaftswachstum, mehr Ressourcenverbrauch zumindest relativieren.

Wie sind die Versuche der Einführung eines Grundeinkommens, beispielsweise in Finnland, zu beurteilen?

Karl Reitter: Über das Experiment in Finnland wurde viel Unsinniges geschrieben. Eine konservative Regierung und ein Grundeinkommen von 560 Euro, und fertig war das Urteil, hier würde der Neoliberalismus die Zerschlagung des Sozialstaates proben. Kein Wort zum sehr komplizierten Finnischen Sozialsystem.

Wer dort erwerbsarbeitslos ist, bekommt für 500 Tage Unterstützung in ansehnlicher Höhe, ist danach aber auf ein ganzes Bündel unterschiedlichster Sozialhilfen angewiesen. Es wurde garantiert, dass die 2000 ausgewählten Probanden keinerlei finanzielle Einbußen erlitten, alle ausgewählten Personen waren mit diesem Grundeinkommen finanziell besser gestellt als ohne. Das Experiment wurde auch nicht abgebrochen, wie behauptet, sondern so wie geplant zu Ende geführt.

Das Ergebnis: Diese Personengruppe fand auch nicht rascher Arbeit als andere Erwerbslose, gab aber an, zufriedener und gesünder als vorher gewesen zu sein. So, und was folgt nun daraus? Dass es Menschen besser geht, wenn ihre Sorgen um das alltägliche Dasein gemildert oder gar überwunden sind, überrascht nicht. Ein sehr ähnliches Ergebnis lieferte ein Experiment im österreichischen Waldviertel mit 44 Arbeitslosen. In den USA und in Kanada gab es um 1968 einige Grundeinkommensexperimente mit sehr kleinen Gruppen. Auch hier wurde größere Zufriedenheit, bessere Gesundheit und bessere Schulerfolge der Kinder festgestellt. Ebenso positiv verlief ein Experiment in einem kleinen Dorf in Namibia, das auch einigen wirtschaftlichen Aufschwung bewirkte.

Trotzdem stehe ich diesen Experimenten eher reserviert gegenüber. Gesamtgesellschaftliche Veränderungen lassen sich nicht im Kleinen erproben. Ein Grundeinkommen dürfte die dominierende Kultur der Lohnarbeit wohl depotenzieren, es dürfte zu neuen Lebensperspektiven, zu einem anderen Umgang mit Bildung führen - dürfte, ich bin bei Prognosen was die Zukunft betrifft eher vorsichtig.

Es gibt zahlreiche Forderungen nach einem BGE als Top-down-Initiativen. Meist klingt es so, als würden die Konzernchefs bei ihren Grundeinkommensforderungen nach Wegen suchen, wie sie weniger Löhne zahlen müssen und trotzdem zahlungsfähige Konsumenten behalten. Wie kann die nötige Abgrenzung gegen diese Grundeinkommenskonzepte erreicht werden.

Karl Reitter: Ein beliebter Vorwurf gegen das Grundeinkommen besteht in der Behauptung, es würde de facto Lohnsubventionen bedeuten. Gewerkschaften wären ausgehebelt, dank BGE könnten sehr niedrige Löhne bezahlt werden. Tatsächlich geht die Entwicklung ganz ohne BGE genau in diese prophezeite Richtung, die Lohnquote sinkt, die Arbeitsverhältnisse werden zunehmend prekarisiert. Das Grundeinkommen nimmt die Tatsache zur Kenntnis, dass die traditionelle gewerkschaftliche Perspektive immer weniger greift.

Was in fordistischen Mittel- und Großbetrieben funktioniert hat, scheitert angesichts prekärer und zersplitterter Arbeitsverhältnissen. Erst unlängst gelang es in Österreich einen Kollektivvertrag für Fahrradzusteller zu erkämpfen. Doch dieser Erfolg zeigt auch, dass die Instrumente der Arbeitskämpfe von einst heute nur noch eine beschränkte Wirkung haben. Zu viele Kollegen sind schlichtweg als freie Dienstnehmer und Scheinselbständige beschäftigt.

Das Grundeinkommen hebt die Auseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital von Haus aus auf eine gesamtgesellschaftliche Ebene, über jene des Betriebes und der Branchen. Es entspricht wechselnden Lebenslagen und gebrochenen Biographien. Es ermöglicht nicht nur, "Nein" zum Job zu sagen, sondern ermutigt auch zum Widerstand, auch zum gewerkschaftlich organisierten, da der Drohung mit der Entlassung der Stachel gezogen ist. Es ist zu vermuten, dass das Grundeinkommen gegenläufige Auswirkungen hat. Manche werden - so wie jetzt! - bereit sein, für wenig oder gar kein Geld zu arbeiten, ich denke jetzt an schlecht entlohnte Praktika. Aber für manche Jobs werden wohl angemessene Löhne bezahlt werden müssen. Ob bei einem europa- oder gar weltweitem Grundeinkommen Migranten weiter bereit sein werden, zu miesen Löhnen und grauenvollen Arbeitsbedingten zu schuften, wage ich zu bezweifeln.

Und noch etwas. Hinter dem Lohnsubventionsargument steckt wahnsinnig viel Misstrauen dem Individuum gegenüber. Der Paternalismus insbesondere der Gewerkschaften ist unübersehbar. Den Einzelnen Handlungsmacht zu geben, kann in ihren Augen nur problematisch enden. Die Frau kehrt zum Herd zurück, der Mann arbeitet zu geringerer Entlohnung, das ist die Unterstellung. Die Handlungsdimension des traditionellen gewerkschaftlichen Kampfes ist immer lokal, begrenzt auf die Branche und den Betrieb. Das Grundeinkommen hingegen wirkt sowohl in der der gesamtgesellschaftlichen Dimension als auch in der individuellen, das ist seine große Stärke.

Können Sie aus Ihrer Sicht einen Ausblick auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der nächsten Monate und Jahre nach Corona geben? Bitte angesichts der Lage einen möglichst optimistischen Ausblick…

Karl Reitter: Die Krise öffnet die Tür zum Kommunismus.

…und jetzt doch noch die pessimistische Prognose?

Karl Reitter: Der autoritäre Überwachungs- und Polizeistaat überlebt Corona.

Herr Reitter, vielen Dank für dieses Gespräch.

(Frank Jödicke)

Texte Karl Reitters, aktuelle Publikationen:
"Prozesse der Befreiung. Marx, Spinoza und die Bedingungen eines freien Gemeinwesens", Münster 2011
"Intro: bedingungsloses Grundeinkommen", Wien 2012
"Von der 68er Bewegung zum Pyrrhussieg des Neoliberalismus. Sozialphilosophische Aufsätze zu 1968, Fordismus, Postfordismus und zum bedingungslosen Grundeinkommen", Wien 2014
"Heinz Steinert und die Widerständigkeit seines Denkens", Münster 2018