"Die Bürger werden jetzt mit dem Teil-Lockdown für die eigene Untätigkeit der Bundesregierung bestraft"
Nach der Corona-Sitzungswoche im Bundestag: FDP-Fraktions-Vizechef Stephan Thomae im ausführlichen Interview über den Lockdown, Trump, Islamismus und Freiheit
Der Rechtsanwalt und Jurist Stephan Thomae ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP im deutschen Bundestag . Der bekennende Katholik, Fachanwalt und ehemalige Bundeswehr-Soldat der Gebirgssanitäter-Division arbeitete als Jurist unter anderem in Indien. Er ist zudem im Landesvorstand der FDP Bayern und Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr) des Deutschen Bundestages für die Geheimdienste, u.a. den Bundesnachrichtendienst (BND), deren Sitzungen strengster Geheimhaltung unterliegen. Thomae ist sehr aktiv in den sozialen Medien mit klaren Aussagen, zum Terror rund um die Synagoge in Wien postete er: "Wir müssen endlich wach werden!" Und zur US-Wahl: "Fast möchte man Gerhard Schröder Recht geben: Im Vergleich zu Trump wirkt Putin beinahe wie ein lupenreiner Demokrat"
Die FDP wirkt in den letzten Tagen ja nicht so ganz einverstanden mit den Corona-Maßnahmen der Bundesregierung. Die Opferzahlen sind dramatisch, getan werden muss etwas. Welches ist denn Ihre Kritik?
Stephan Thomae: Die Beschlüsse sind gleich in doppelter Hinsicht problematisch.
Politisch, weil sie von den Regierungschefs in Bund und Ländern, also der Exekutiven, getroffen wurden, statt vom Parlament. Solch gravierende Grundrechtseinschränkungen dürfen aber nicht einfach das Ergebnis von Selbstgesprächen der Regierungen sein, sondern gehören in die Hände der Parlamente. Das Parlament sollte wieder selbstbewusster auftreten und sich die Entscheidungsbefugnis zurückholen.
Die Beschlüsse sind aber auch rechtlich problematisch. So haftet an vielen der Maßnahmen der Makel der Unverhältnismäßigkeit. Einige Maßnahmen erscheinen nicht einmal geeignet. Auch wurde etwa ein flächendeckendes und pauschales Beherbergungsverbot beschlossen, das in ähnlicher Form vor kurzer Zeit gekippt wurde. Es ist auch hier damit zu rechnen, dass die Verwaltungs- und Verfassungsgerichte der Länder und des Bundes in Kürze mit den Beschlüssen befasst werden.
Insgesamt sind die Beschlüsse geeignet, das Vertrauen und die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger zu schwächen. Diese sind aber die Grundvoraussetzungen für den gemeinsamen Kampf gegen das Virus.
Sie sind auch Jurist … werden die Gerichte einige Maßnahmen kassieren?
Stephan Thomae: Viele der Maßnahmen greifen tief in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger ein. Ob sie verhältnismäßig, also geeignet, erforderlich und angemessen sind, bleibt abzuwarten. Entsprechende Eilanträge und Klagen wurden ja bereits gestellt. In der Vergangenheit haben die Gerichte einige Maßnahmen wie das Beherbergungsverbot und die Sperrstunde gekippt und dadurch den Stein immer wieder ins Rollen gebracht.
Durch den Teil-Lockdown sind Gastronomie, Hotellerie und Freizeitbranche erneut erheblich eingeschränkt. Die mittel- und langfristigen Folgen insb. für diese Branchen sind noch gar nicht absehbar. Ob die pauschalen Entschädigungsregelungen ausreichen werden, die Gerichte zu besänftigen, ist daher zweifelhaft. Auch fehlt es an einer echten Strategie, was nach dem Lockdown kommt.
"Die Erfahrungen der letzten Woche zeigen, dass Regierungen nicht die besseren Gesetzgeber sind"
Aber kritisieren Sie auch weiterhin das Nicht-Einbinden des Deutschen Bundestages in die Beschlüsse?
Stephan Thomae: Die Erfahrungen der letzten Woche zeigen, dass Regierungen nicht die besseren Gesetzgeber sind. Wir müssen dringend zurückkommen zu einer Gesetzgebung in den Parlamenten. Die Einbindung des Parlamentes ist dringend erforderlich. Ministerpräsidentenkonferenz und Corona-Kabinett können niemals die Debatte des Parlaments, wo Meinung und Gegenmeinung, Argument und Gegenargument aufeinandertreffen, ersetzen. In den Parlamenten sind Wirtschaft und Gesellschaft in großer Breite abgebildet. Das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren mit zwei Lesungen, Ausschussberatung und Sachverständigenanhörung ist ein Qualitätssicherungsinstrument der Gesetzgebung.
Was wären denn Ihre konkreten Gegenvorschläge?
Stephan Thomae: Zu Beginn der Pandemie wussten wir nicht, was auf uns zukommt. Auch mit den Stimmen der FDP-Fraktion wurde damals die epidemische Notlage von nationaler Tragweite festgestellt. Inzwischen gibt es ganz neue Erkenntnisse und Erfahrungen. Die Parlamente können unter Beachtung der Schutzmaßnahmen problemlos tagen. Auch das war im Frühjahr schon unsicher. Es besteht keine Notwendigkeit mehr, die Ausnahmeregelungen beizubehalten. Als FDP-Fraktion fordern wir deshalb seit dem Sommer die Aufhebung der Feststellung der epidemischen Notlage von nationaler Tragweite. Damit sagen wir nicht, dass Corona vorbei ist. Wir wollen die Entscheidungshoheit aber endlich wieder dahin bringen, wo sie hingehört, nämlich in die Parlamente.
Die Bundesärztekammer wirft der Bundesregierung Planlosigkeit vor - ein Hangeln von Lockdown zu Lockdown ... Müssten die Maßnahmen nicht also viel, viel rigider sein, um das Sterben zu beenden?
Stephan Thomae: Noch rigidere Maßnahmen würden bedeuten, dass die Pandemiebekämpfung schwer kalkulierbare Nebenfolgen hervorbringt. Wir werden schon bald erleben, wie eine Insolvenzwelle anrollt. Kredite werden platzen, Lebensversicherungen stillgelegt und gekündigt, Eigenheime versteigert, Altersvorsorgemodelle vernichtet, Bildungschancen zerstört. Auch das sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Manche Spätfolgen werden wir in Jahren und Jahrzehnten zu spüren bekommen. Und wenn wir den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes auf’s Spiel setzen, wird darunter auch unser Gesundheitssystem leiden.
Bislang ist unser Gesundheitssystem glücklicherweise nicht überfordert. Hygiene, Gesundheitsbewusstein der Bevölkerung und die medizinische Versorgung in Deutschland erweisen sich bislang als guter Schutz gegen eine pandemische Lage, wie sie in vielen anderen Ländern auch Europas herrscht. Und auch wenn wir leider immer wieder von leichtsinnigen Mitmenschen hören und lesen müssen: in der ganz überwältigen Mehrheit verhalten sich die Deutschen sehr rücksichtsvoll, verantwortungsbewusst und vernünftig. Mehr Zwang würde vielleicht das Gegenteil bewirken, nämlich Trotz und Überdruss gegenüber ein Übermaß an Bevormundung und Verboten.
Minister Spahn sprach von "langen Monaten der Einschränkungen und des Verzichts", Bundeskanzleramt-Minister Braun glaubt nicht an ein schnelles Zurückfahren der Maßnahmen auch im Dezember. Das hört sich sehr dramatisch an, und die Situation für die Millionen von Erkrankten und Verstorbenen weltweit ist es ja auch … Stört Sie manche kriegsähnliche Rhetorik der Koalition? Und was verheißen uns diese Aussagen?
Stephan Thomae: Statt die Bürgerinnen und Bürger nur zum Verzicht aufzufordern, müssen wir eine Strategie finden, die die Menschen mitnimmt und den Gesundheitsschutz mit geöffnetem gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben vereinbart. Als Freie Demokraten im Deutschen Bundestag drängen wir darauf, dass wir in Deutschland eine Corona-Strategie bekommen, die dauerhaft Freiheit und Gesundheitsschutz in eine tragfähige Balance bringt. Hierzu ist es notwendig, klare und nachvollziehbare Kriterien zu entwickeln. Wir sollten mit dem wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes nicht Stillstand finanzieren, sondern Fortsetzung des öffentlichen Lebens ermöglichen.
"Was wir nicht brauchen, ist ein Abnicken der Hinterzimmer-Entscheidungen durch den Bundestag"
Wie wird die FDP im Bundestag reagieren, wenn der Lockdown nicht am 30. November endet?
Stephan Thomae: Zunächst warten wir auf die Bestandsaufnahme von Bund und Ländern Mitte November. Hier ist unsere klare Erwartungshaltung, dass mögliche Verschärfungen nicht beschlossen werden, bevor das Parlament darüber diskutiert hat. Was wir nicht brauchen, ist ein nachträgliches Abnicken der Hinterzimmer-Entscheidungen der Regierungschefs durch den Bundestag. Bis zur Bestandsaufnahme sind insbesondere der Bundesgesundheitsminister und seine Länderkollegen aufgefordert, eine entsprechende Strategie aufzuzeigen, wie es nach dem Lockdown weitergehen soll.
Die globale Pandemie begann freilich vor rund einem Jahr und hat global stärker denn je zuvor gezeigt, dass die universale Gesundheitsversorgung nicht gewährleistet ist weltweit, auch nicht in Europa. Muss man da nicht etwas ändern? Muss es nicht mehr Gerechtigkeit geben?
Stephan Thomae: Das Zusammenspiel zwischen einem staatlichen und einem privaten Gesundheitswesen scheint sich in Deutschland gerade zu bewähren. Das Gesundheitswesen bietet eine sehr gute allgemeine Grundversorgung und erhält eine Quersubventionierung durch private Versicherte. Weder Staaten mit einem rein privaten Gesundheitswesen wie die USA noch mit einem rein staatlichen Gesundheitswesen wie Großbritannien können hier mithalten.
Das Frühjahr mit Corona hat aber bereits einige Schwächen im deutschen Gesundheitssystem offenbart. Aber man fühlte sich aufgrund der Zahlen "überlegen" den Süd-Ländern, es gab gar eine sinngemäße Werbekampagne von Burda. Nun aber sind die Zahlen ähnlich hoch wie in Spanien und Italien. Ist das nicht ein Versagen der Regierung? Man hatte Monate Zeit, sich auf die zweite Welle einzustellen ...
Stephan Thomae: Wir erleben seit Beginn der Pandemie ein unüberlegtes und zum Teil widersprüchliches Verhalten der Bundesregierung. So wurden die Bürgerinnen und Bürger beispielsweise zunächst aufgefordert, ihre Urlaube im Inland zu verbringen, nur um dann kurz vorher ein pauschales Beherbergungsverbot zu erlassen. Gastronomie und Hotellerie haben unter Einsatz erheblicher eigener Mittel in umfassende Hygienekonzepte investiert, um das Infektionsgeschehen zu minimieren. Mit Erfolg. Restaurants und Hotels sind nach allem, was wir wissen, keine Infektionsherde. Dieselben Anstrengungen hätten wir auch von der Bundesregierung erwartet, hat sie doch selbst seit dem Sommer immer wieder vor einer Zweiten Welle gewarnt. Die Bürgerinnen und Bürger, sowie die Unternehmen in unserem Land werden jetzt mit dem Teil-Lockdown für die eigene Untätigkeit der Bundesregierung bestraft.
"Bei den Corona-Demos in Berlin und auch in den Sozialen Medien werden die absurdesten Theorien verbreitet"
Es gibt in einer freien Gesellschaft auch immer den Zusammenhang und den Widerspruch von Freiheit und Sicherheit, Adorno beschäftigte sich damit genauso wie Helmut Kohl. Die FDP steht bis heute für das Durchsetzen von Freiheits-, Daten- und Bürgerrechten, auch für das Recht, eigene Entscheidungen treffen zu dürfen, als Konsument, im Sexualleben, in der digitalen Welt … Aber heißt Sicherheit in solchen Zeiten nicht auch Sicherheit vor Krankheit und Sicherheit vor Verarmung durch die Krise? Gesundheit ist auch Freiheit. Und wäre durch eine solche Art von gesundheitlicher und wirtschaftlicher Sicherheit - eine auf Leben und Tod in ärmeren Ländern - nicht auch mehr Freiheit für alle möglich und mehr Potential für die gesamte gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung freigesetzt? Und wäre das nicht wiederum der Garant für eine prosperierende Gesellschaft der Ideen und der Kreativität, welche wiederum den Markt bereichern? Damit würde die ganze Gesellschaft reicher werden, ideell und materiell ...
Stephan Thomae: Als Freie Demokraten sind wir die Partei der Bürgerrechte und tragen die Freiheit in unserem Namen. Freiheit und Sicherheit bedingen sich gegenseitig und gehen Hand in Hand. Ohne Sicherheit ist Freiheit nicht denkbar. Aber ein Sicherheitsdenken, des Menschen so einengt, dass sie ihren eigenen Lebensentwurf nicht mehr verwirklichen können, bringt einen Staat hervor, in dem Menschen nicht sicherer sind, sondern schlicht entmündigt. Juli Zeh hat das in ihrem Roman "Corpus Delicti" über einen totalitären Hygienestaat sehr treffend beschrieben. Es lohnt sich, dieses Werk in der jetzigen Zeit wieder einmal zur Hand zu nehmen.
Nach all dem, Covid-19, Wirtschaftskrise, gesellschaftliche Spannungen - wo sehen Sie Deutschland, Europa, die Welt 2021, 2022, 2023?
Stephan Thomae: Die Welt ist stets im Wandel. Wir Freie Demokraten wollen Verantwortung für die Zukunft übernehmen: Dafür, dass jeder Mensch in Freiheit und selbstbestimmt in Deutschland und Europa leben kann. Dafür, dass wir den nachfolgenden Generationen intakte ökologische und ökonomische Lebensgrundlagen hinterlassen. Dafür, dass sich allen Menschen Chancen auf gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg für sich und ihre Familien eröffnen. Dafür, dass ein handlungsfähiger Staat den Rechtsstaat sichert und durchsetzt. Und dafür, dass wir die großen Herausforderungen unserer Zeit durch wirksame und mutige Politik mit dem Ziel einer lebenswerten Zukunft angehen.
Was sagen Sie denen, die meinen, Corona wäre von Bill Gates erfunden worden, von einer jüdischen, links-liberalen und freimaurerischen Verschwörung, die Flüchtlinge ins Land holt? US-Präsident Trump hielt kürzlich eine Rede - ARD und CNN zeigten Ausschnitte daraus -, in denen er von "Globalisten, Kommunisten, Sozialisten" sprach als "einer reichen und liberalen Elite, die euch ausbeuten wollen". Auch bezeichnet er NYC als "Stadt der Anarchisten", meint damit vor allem aber die individuelle Freiheit, die dort herrscht im Gegensatz zur Provinzialität Michigans … Diese Wortwahl klingt gar nicht gut, besonders vor der deutschen Geschichte … Was sagen Sie als Liberaler dazu?
Stephan Thomae: Es erfüllt mich mit Sorge zu sehen, dass auch hierzulande Verschwörungstheorien Konjunktur haben. Gerade im Zuge der anhaltenden bundesweiten Proteste gegen Einschränkungen angesichts der Corona-Pandemie werden etablierte Medien von entsprechend interessierten Gruppierungen oft als Teil einer politischen Verschwörung angesehen und eine authentische Berichterstattung erschwert. Bei den Corona-Demos in Berlin und anderenorts, aber insbesondere auch in den Sozialen Medien werden die absurdesten Theorien verbreitet. Besonders im Fokus ist dabei die QAnon-Bewegung, eine Strömung, deren Ideologie sich mit antiglobalistischen, antisemitischen und rassistischen Elementen vermischt, und die ihre Popularität aus dem Umstand zieht, dass sie viele einzelne Verschwörungstheorien in sich aufnimmt und in ein größeres Ganzes einwebt.
"Das unterscheidet uns auch von einer rot-rot-grünen Bevormundungs- und Verbotspolitik"
Freiheit ist ein sehr hohes Gut, viele, die sie gewohnt sind im wohlstandsüberverwöhnten Nord- und Mitteleuropa, ehren nicht ihren Wert … Muss nicht heutzutage die Freiheit viel, viel offensiver verteidigt werden? Muss Freiheit wieder frecher werden? Brauchen wir einen Aufstand aller liberal Denkenden, die für eine freie Gesellschaft stehen?
Stephan Thomae: Viel zu häufig werden unsere erkämpften Freiheitsrechte als selbstverständlich wahrgenommen. Freiheit ist aber nicht selbstverständlich. Sie muss verteidigt werden. Gerade im Rahmen der Corona-Pandemie haben wir festgestellt, wie stark und tief in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger eingegriffen hat.
Regierungen und Staaten neigen ja immer wieder zur volkspädagogischen Bevormundung "ihrer" Bürger, zum Beispiel mit der Lebensmittelampel … Muss der Bürger wieder selbstbewusster werden?
Stephan Thomae: Als Freie Demokraten haben wir ein liberales Verständnis des mündigen Verbrauchers. Der Staat sollte nur die Rahmenbedingungen festlegen. Die Entscheidungen sollten aber die Bürgerinnen und Bürger in größtmöglicher Selbstbestimmung und Eigenverantwortung treffen. Das unterscheidet uns auch von einer rot-rot-grünen Bevormundungs- und Verbotspolitik. Wir vertrauen auf die mündigen Bürger und überlassen ihnen die Verantwortung für ihre Konsumentscheidungen.
Beim Verbraucherschutz setzen wir daher auf bessere Informationen und Transparenz über Produkte, Dienstleistungen und zur Datennutzung sowie einen wirksamen Rechtsschutz im Betrugsfall. Zudem wollen wir anti-marktwirtschaftliche Monopole verhindern. Auch in der Landwirtschaft setzen wir auf Wettbewerb statt Ideologien. Wir wollen die unternehmerische Landwirtschaft - gleich ob konventionell oder ökologisch - stärken und Innovationen fördern.
Sie sind auch Mitglied in der Parlamentarischen Kontrollkommission: Sehen Sie die deutschen Dienste gut gerüstet nach all den Skandalen? NSA, MAD, NSU … Sind da nicht Reformen nötig?
Stephan Thomae: In Deutschland sind bislang im Bereich der inneren Sicherheit über 40 Behörden zuständig, aber wenn es darauf ankommt, niemand verantwortlich. Die Folgen sind zu oft Reibungsverluste, Redundanzen sowie eine fehlende oder unvollständige Informationsweitergabe. Gerade im Bereich des Terrorismus haben wir es zunehmend mit kleinen hochradikalisierten Zellen oder Einzeltätern zu tun, die über die Bundesländer und Grenzen Deutschlands hinweg agieren. Das Nebeneinander der Sicherheitsbehörden muss daher dringend reformiert werden, sodass immer klar ist, bei welcher Behörde die Zuständigkeit liegt. Hierzu schlagen wir seit langem eine Föderalismuskommission III von Bund und Ländern zur Reform der föderalen Sicherheitsarchitektur vor.
"Amerika ist schwächer geworden und sogar ein Stück unwichtiger"
Was erwarten Sie von US-Präsident Biden außenpolitisch?
Stephan Thomae: Aktuell erleben wir dramatische Szenen in den USA. Fest steht, dass Donald Trump mit seiner America first-Strategie die internationalen diplomatischen Beziehungen in den vergangenen Jahren zerstört hat. Amerika ist schwächer geworden und sogar ein Stück unwichtiger, weil sich die Welt nicht mehr so stark auf die USA verlassen konnte wie unter Trumps Vorgängern, Amerika sich stärker in sich selbst zurückgekrümmt hat und dadurch Leerräume entstanden sind, in die andere vorstoßen konnten. Er hat zudem die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft in Küstenregionen, den Süden und den Mittleren Westen in seiner Amtszeit vertieft und für seine politischen Ziele genutzt. Ob es durch eine Biden-Administration zu einem völligen Kurswechsel der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik kommen würde, ist nicht absehbar.
Deutschland und Europa dürfen daher nicht nur am Seitenrand stehen bleiben und teilnahmslos zusehen, wie das Vakuum, das Amerika mit seinem Rückzug als Garant für eine liberale Weltordnung hinterlässt, durch autokratische Staaten gefüllt wird. Deutschland und Europa müssen jetzt mehr Verantwortung auf dem internationalen Parkett übernehmen.
Der französische Präsident, dessen Bewegung En Marche Teil unserer liberalen Renew-Fraktion im Europäischen Parlament ist, hat bereits Vorschläge gemacht, wie Europa mutig reformiert werden könnte. Leider schweigt die Bundeskanzlerin bis heute zu diesen Vorschlägen und hat auch die Ratspräsidentschaft bislang nicht genutzt, um Impulse zu setzen. Die Corona-Krise lähmt die Bundesregierung. Dabei könnte eine Krise der Augenblick sein, Neues zu denken.
Haben Sie denn noch Hoffnung, dass Deutschland jemals digital zukunftsfähig wird? CDU und SPD versprachen sehr viele Upgrades, aber realiter …
Stephan Thomae: Eine der wichtigsten Lehren aus der Corona-Krise ist, dass wir die Digitalisierung ernst nehmen und vorantreiben müssen. Bislang hat die Bundesregierung diesen Bereich leider völlig vernachlässigt. Wir Freie Demokraten wollen sicherstellen, dass die Menschen in Deutschland die Chancen des digitalen Fortschritts ergreifen können. Voraussetzungen hierfür sind etwa der flächendeckende Ausbau der digitalen Infrastruktur mittels Glasfasertechnologie, die Digitalisierung von Verwaltungsvorgängen und ein diskriminierungsfreier Internetzugang durch Netzneutralität. Zudem setzen wir auf bessere rechtliche Rahmenbedingungen für die digitale Ökonomie, flexiblere Arbeitszeitmodelle sowie die Wiederherstellung der informationellen Selbstbestimmung der Bürger.
Nach den Anschlägen von Nizza, Paris und Wien: Was bedeutet Freiheit für Sie?
Stephan Thomae: Die Taten in Österreich und Frankreich sowie die barbarische Messerattacke auf ein homosexuelles Paar in Dresden, mutmaßlich durch islamistische Gefährder, zeigen, dass die aktuelle Bedrohungslage durch den islamistischen Terrorismus in Deutschland und Europa extrem hoch ist und dass der Rechtsstaat in die Offensive gehen muss. Es ist unsere demokratische Pflicht, die Werte des Grundgesetzes und unsere liberale Demokratie auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene gegen ihre Feinde zu verteidigen.
Statt aber reflexartig immer neuer Befugnisse für Polizei und Nachrichtendienste zu fordern und dadurch die Bürgerrechte weiter zu schleifen, gilt es den bestehenden Instrumentenkasten des Rechtsstaates auszuschöpfen, den Informationsfluss zu verbessern und Verantwortlichkeiten besser zu verteilen. Hierzu ist eine gesamtheitliche Bekämpfungsstrategie erforderlich.