"Die Bürgergeld-Sätze müssen sich endlich am realen Bedarf orientieren"
Seite 2: "Die Armutskrise in Deutschland ist nichts Neues"
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Gibt es denn eigentlich überhaupt eine Energiekrise in Deutschland? Laut ZDF-Politbarometer äußerten 42 Prozent der Befragten, sie hätten nach wie vor keinerlei Probleme mit den Preisen zum Beispiel bei Lebensmitteln. Wird es nicht Zeit, dass die Politik endlich benennt, worum es wirklich geht: um eine Armutskrise für nur wenige? Faktisch gibt es doch gar keine Energiekrise …
Lino Leudesdorff: Wer lange Lieferverträge hat bei Gas oder Strom und kein Auto, merkt bisher bei den Energiepreisen nicht viel, das ist richtig. Ohne das Entlastungspaket, gäbe es hier ein böses Erwachen, sobald die Verträge auslaufen. 600 oder 700 Euro monatliche Abschläge überfordern selbst ordentlich verdienende Mittelschichtsfamilien insbesondere in Metropolen, wo die hohen Mieten zusätzlich auf das Budget drücken.
Gleichzeitig verteuern die Energiepreise und die gleichzeitig wirkende Kerninflation das Leben insgesamt. Nahrungsmittel, Reisen alles wird teurer. Der Wohlstandsverlust ist dramatisch und deswegen hoffe ich, dass weitere Entlastungspakete folgen, wenn das erforderlich wird. Nebenbei haben wir sehr viele Trittbrettfahrer – Unternehmen die inflationäre Tendenzen nutzen um ungerechtfertigt die Preise zu erhöhen und sich somit über satte Zusatzprofite freuen.
Die Armutskrise in Deutschland ist offen gesagt nichts Neues. Im Westen gibt es das seit der Agendapolitik, im Osten seit der Wende. Wir haben Millionen Menschen in Deutschland, die sich nichts mehr von der Politik erhoffen. Leider zurecht denkt man an den Armutsbericht 2016 von Arbeitsministerin Nahles. Hier wurde, wenn auch zunächst zensiert, festgehalten, wie gering der Einfluss sozial Schwächerer auf die Politik ist.
Ich hoffe, dass durch das Bürgergeld endlich Bewegung in die Sozialpolitik kommt. Die Sätze müssen sich endlich am realen Bedarf orientieren, schnell und nachhaltig an die Inflation angepasst werden. Die Zuverdienstmöglichkeiten wurden erhöht, reichen aber noch nicht aus. Und der große Niedriglohnsektor war und ist ein Irrweg.
Der Ausstieg kann mit Mindestlöhnen, Tarifbindung und Produktivitätssteigerungen – beispielsweise durch Bildungsangebote für Mitarbeitende – gelingen. Niedrige Löhne und das Gender-pay-gap heute sind niedrige Renten von morgen.
Wie mittlerweile auch für Nicht-Eingeweihte bekannt wurde, entwirft das Landeskriminalamt (LKA) Berlin bereits seit einigen Monaten Szenarien, wie im "Krisen-Winter" auf Riots, Plünderungen und "Mangellagen" zu reagieren sei. Mal salopp gesagt, sind wir jetzt alle im falschen Film?
Lino Leudesdorff: Ich bin davon überzeugt, dass wir auch diese Krise in Deutschland überwinden werden. Unsere Gesellschaft unterliegt geringeren Fliehkräften als etwa die USA oder ganz aktuell Brasilien.
Unser Sozialstaat läuft nicht rund und muss an vielen Stellen verbessert werden, es gibt ihn aber und er ist vergleichsweise stark. Viele Menschen haben das Gefühl, abgehängt zu sein. Als Sozialdemokrat sehe ich es als unsere Aufgabe, vielleicht sogar unsere Daseinsberechtigung hier einen Richtungswechsel vorzunehmen.
Abgesehen von seminaristischen und lebensfremden Theorie-Diskussionen über Demokratie läuft der deal ja so: Jede Partei bedient materiell ihre Klientel – und wird dann dafür gewählt. Die FDP hat ja da gerade ein kleines Zielgruppen-Problem in Krisenzeiten, aber ist das Problem der SPD langfristig nicht viel größer? Die Laschet-Fauxpas waren ja eine Art Lottogewinn für die SPD, aber die Armen gehen nachweislich weniger und immer weniger zu den Wahlen, in einzelnen Stadtteilen von Duisburg zur letzten NRW-Wahl nur noch 28 Prozent. Entsprechend tut die SPD weniger für ihre Armen, die wählen dann noch weniger. Ist das nicht ein ewiger Kreislauf, der bald zum Kreislaufversagen und zum langsamen Absterben der SPD führt?
Lino Leudesdorff: Das war ja die Besonderheit bei der Bundestags-Wahl 2021: Sozialpolitik war Top-Thema und der SPD wurde erstmals seit Jahren hier wieder die größte Kompetenz zugesprochen. Und davon hat man uns vorher immer abgeraten: "Vergesst das mit der sozialen Politik, das will doch keiner mehr hören", wurde gesagt. Offenbar doch.
Und das war vor der Inflation, vor dem Krieg und seinen brutalen Folgen für den Wohlstand in diesem Land. In dieser Krise haben wir es in der Hand zu beweisen, dass wir das Vertrauen verdienen.
Laschets Auftreten hat der Union sicher nicht geholfen, war meiner Meinung nach aber auch nicht der Hauptgrund für das erfolgreiche Abschneiden der Sozialdemokratie. Vielmehr war es eine Kombination aus dem Wählerwillen nach mehr sozialer Gerechtigkeit und einer Verlässlichkeit, die Olaf Scholz natürlich ausstrahlt.
Damit die Sozialdemokratie weiterhin eine zentrale Rolle in Deutschland spielt, braucht sie ein klares sozialpolitisches Profil. Wir müssen insbesondere auf diejenigen zugehen, die kein Vertrauen mehr in die Politik haben und die sich abgehängt fühlen
Das heißt im Umkehrschluss aber auch: Die SPD ist eben keine Klientelpartei, sondern gerade, indem wir uns für diejenigen mit geringerem Einkommen, diejenigen, die sich abgehängt fühlen, einsetzen, sorgen wir für Zusammenhalt in der gesamten Gesellschaft.
Und von mehr Zusammenhalt, davon profitieren wir alle.