"Die Corona-Krise ist nur der erste Schritt zu einer gründlichen Revision unseres Gesundheitssystems"
Der Philosoph Prof. Dieter Birnbacher über die Folgen der Pandemie, ethische Fragen, Impfpflicht und die Chance, einen gesünderen und ökologisch angepassteren Lebensstil zu entwickeln
Noch nie ist ein Virus mit solch einem Aufwand bekämpft worden, wie der Corona-Virus SARS CoV-2 Sicher, er ist ansteckender, gefährlicher in seinen Auswirkungen. Dennoch sind in den vergangenen 70 Jahren oft Trausende von Menschen in Deutschland an Grippeviren gestorben, oft auch unter bedrückenden Umständen, auch für die Ärzte. Warum haben die Grippewelle in den 1950er Jahre, die Hongkong-Grippe 1968-1970 oder auch die Grippewellen seit 1990 keine größere Aufmerksamkeit erfahren?
Dieter Birnbacher: Die gesellschaftliche Aufmerksamkeit hängt sozialpsychologisch gesehen von einer ganzen Reihe von Faktoren ab, die mit den erwarteten Erkrankungs- und Todeszahlen wenig zu tun haben. Einige dieser Faktoren betreffen auch kollektive Risiken anderer Art. Ein Faktor ist die Neuheit der Bedrohung. Grippe gilt als bekannte und vertraute Krankheit, und die Influenza wird zudem häufig mit anderen familiär Grippe genannten Erkältungskrankheiten verwechselt.
Bei Corona kommt hinzu, dass es zu ihren Ursachen, Verlauf, Behandlungsmöglichkeiten und Folgen und Spätfolgen wenig gesichertes Wissen gibt. Ähnliches gilt für die "Spanische Grippe" 1918, die zu Recht als eine neuartige Krankheit gefürchtet wurde, vor allem wegen ihres rasend schnellen Verlaufs und der extrem hohen Übertragungsrate. Damals wurde diese Krankheit als so neuartig empfunden, dass teilweise dieselben Maßnahmen ergriffen wurden wie heute bei Corona (z. B. Mundschutz, Verbot von Massenveranstaltungen in einigen amerikanischen Großstädten).
Bei vertrauten Todesursachen herrscht demgegenüber häufig eine erstaunliche Gleichgültigkeit. So waren etwa lange Zeit sehr viele Todesopfer durch den Mangel an Spezialrettungswagen für Schlaganfall-Patienten zu beklagen. Rechnet man aus, wie viel die Gesellschaft de facto für einen Todesfall weniger zu investieren bereit ist, so war diese Zahl in den 1990er Jahren bei Kernkraftwerksunfällen am höchsten und bei Schlaganfallpatienten am niedrigsten.
Welche Konsequenzen müssten aus der Bekämpfung des Corona-Virus in Zukunft gezogen werden, wenn wir bekannte Grippewellen haben, wie vor zwei Jahren, wo vermutlich 25.000 Menschen gestorben sind? Mit einem Lockdown hätte man bestimmt viele Menschen retten können.
Dieter Birnbacher: Es kann gut sein, dass der Lockdown zu einer nicht nur bei Pandemien, sondern auch bei "normalen" Epidemien gängigen Form der Risikominderung wird. Ich sehe in der Corona-Krise nur den ersten Schritt zu einer gründlichen Revision unseres Gesundheitssystems, in dem Prävention (u. a. durch kostenlose Impfungen) einen höheren Stellenwert haben sollte.
Die Coronakrise ist eine Lektion für die Zukunft. Im Übrigen ist diese ja nicht die erste Pandemie: Ein Vergleichsfall ist die Spanische Grippe am Ende des 1. Weltkriegs. Der Name kommt daher, dass Spanien als neutrales Land nicht dieselben Bedenken hatte wie die direkt am Krieg beteiligten Länder, der Öffentlichkeit reinen Wein einzuschenken, obwohl die Opferzahlen in ihnen höher waren. Ähnliche Vernebelungsaktionen, um die möglichen Verursacher vor Irritationen und Schuldgefühlen zu bewahren, sehen wir heute in China, wo viele meinen, dass Corona aus den USA kommt.
1918 liegt hierzulande allerdings zu weit zurück, um für die gegenwärtige Pandemie zu angemessenen Vorbereitungen zu motivieren. Die fernöstlichen Länder mit ihrer weniger weit zurückliegenden Epidemie-Erfahrung waren auch deshalb in der Bekämpfung der Pandemie besser gewappnet und in der Durchsetzung von begrenzenden Maßnahmen erfolgreicher.
Corona stellt uns vor sehr schwierigen ethischen Fragen, auch die Frage, wie weit ein Lockdown gehen darf und wie lange, um das Leben gesunder Menschen und weniger gefährdeter Menschen nicht wirtschaftlich und psychisch zu sehr zu belasten oder sogar ernsthaft zu gefährden. Kann man diese Zwangslage überhaupt gerecht lösen?
Dieter Birnbacher: Die Antwort kann nur eine politische Abwägung sehr heterogener Güter sein. Diese muss sich vor allem auch an der Akzeptanz orientieren, um nicht durch Überforderung an Durchsetzbarkeit zu verlieren. Solange die Todeszahlen hoch sind, wird in Deutschland auch die Akzeptanz für einen kompletten Lockdown überwiegend hoch bleiben. Wichtig ist in jedem Fall, die Kehrseiten offen zu benennen, die Benachteiligten zu entschädigen und Einseitigkeiten und Widersprüche zu vermeiden, etwa die bedingte Öffnung der Kirchen und die unbedingte Schließung von Konzertsälen und Theatern. Solche Einseitigkeiten sind schwer nachzuvollziehen, vor allem, da beide Angebote vorwiegend von Älteren wahrgenommen werden.
"Die Politik agiert wie ein Dienstleistungsunternehmen, das seine Kunden nicht verlieren will"
Wird Corona auch unser Verhältnis von Überleben und Tod verändern? Müssen wir aufgrund der strengen Corona-Maßnahmen in Zukunft die Menschen entschlossener vor Krankheiten schützen, so wie wir es jetzt durch die Corona-Beschränkungen tun?
Dieter Birnbacher: Das müssen wir in der Tat, u. a. durch eine konsequente Erstellung von Katastrophenplänen. Es kann nicht so bleiben, dass die Ärztevereinigungen mangels vorausschauender Regelungen für den Fall von Knappheiten in der Versorgung wie in Oberitalien im Frühjahr ihre eigenen Regeln für eine eventuelle Triage erfinden müssen.
In Deutschland besteht allerdings in der Politik generell eine Befangenheit, unpopuläre Themen in Angriff zu nehmen. Die Politik agiert wie ein Dienstleistungsunternehmen, das seine Kunden nicht verlieren will. Sie verhält sich dem Wahlvolk gegenüber - u. a. aus Angst vor Rechtspopulismus - wie gegenüber einem geopolitischen Gegenspieler: diplomatisch und mit Bereitschaft zu langfristig unverantwortbaren Kompromissen. Die relativ große Bereitschaft zur Einhaltung der gegenwärtigen Schutzmaßnahmen zeigt allerdings, dass man den meisten mehr zumuten kann, wenn man sie von der Richtigkeit der Einschränkungen überzeugt.
Die Corona-Maßnahmen haben Grundrechte eingeschränkt, die Berufsfreiheit für Kulturschaffende wurde im Grunde abgeschafft, für Restaurants stark begrenzt. Wenn wir so sehr um das Leben der Corona-Infizierten besorgt sind und große Teile der Wirtschaft lahmlegen, müssten wir nicht das Rauchen verbieten, den Alkohol, selbst die Adipositas, die eigentlich eine Vorerkrankung ist, um Menschenleben zu retten?
Dieter Birnbacher: Ich stimme zu, dass ich ein Verbot der Raucherwerbung für ebenso vordringlich halte wie einen Corona-Lockdown. Es ist grotesk, dass ich auf meiner üblichen U-Bahn-Haltestelle ein meterhohes Plakat sehe, das offen für ein lebensgefährliches Gift wirbt und auf dessen Giftigkeit auch noch in drastischer Weise hinweist. Stellen Sie sich das etwa für Heroin vor! Alkohol ist nur in größeren Mengen lebensbedrohlich, Adipositas ist hoch gefährlich, Eingriffe in den Lebensstil aber ohne Verletzung des Selbstbestimmungsrechts schwer zu rechtfertigen.
Skandalös ist allerdings, dass die süßen Getränke, der Hauptverursachungsfaktor für Adipositas, nicht mindestens so hoch besteuert werden wie Nikotin. Denn gerade die wirtschaftlich Schlechtergestellten konsumieren diese Getränke, und bei ihnen ist Adipositas weltweit auf dem Vormarsch.
"Sich nicht impfen zu lassen, ist unverantwortlich"
Nun gibt es einen Impfstoff gegen Corona. Viele Europäer sind nach einer Umfrage skeptisch. Nicht alle wollen sich impfen lassen. Eine Impfpflicht soll es nicht geben. Ist es nicht ein Widerspruch, dass wir die Freiheit der Menschen stark begrenzen, aber das Impfen der Sorge des Einzelnen überlassen wollen? Folgt aus den Corona-Maßnahmen nicht eine Impfpflicht?
Dieter Birnbacher: Eine Impfpflicht besteht zweifellos in moralischer Hinsicht. Sich nicht impfen zu lassen, ist klar unverantwortlich. Rechtlich erzwungen werden sollte sie jedoch nicht. Der Unterschied zum Lockdown besteht darin, dass dieser die Optionen beschneidet, aber immer noch zahlreiche Verhaltensalternativen lässt, während eine Impfpflicht zu einem ganz konkreten Verhalten zwingt.
De facto wird sich allerdings ein starker Druck auf Impfung einstellen, schlicht durch die Notwendigkeit, Nicht-Geimpfte von vielen Aktivitäten auszuschließen, so wie heute schon viele Nicht-Getestete von vielen Aktivitäten ausgeschlossen werden, z. B. von Besuchen in Seniorenheimen oder von touristischen Reisen.
Politiker, Virologen, Epidemiologen informieren die Menschen über die Medien. Das Fernsehen ist wahrscheinlich das wichtigste Medium, mit dem sich die Menschen ihre Meinung über Corona bilden. Sehen Sie Versäumnisse, Fehler der Berichterstattung bei den Medien? Wie müssen Krisen in Zukunft vielleicht besser kommuniziert werden, die Bevölkerung besser darauf vorbereitet werden?
Dieter Birnbacher: Im Nachhinein lässt sich die Sorglosigkeit von vorgestern leicht kritisieren. Bereits im Februar habe ich mich gefragt, warum nicht als Präventivmaßnahme sofort alle Flughäfen geschlossen werden. Stattdessen wurde der internationale Verkehr weiterlaufen gelassen. Natürlich müssen bei derart einschneidenden Schritten die Medien mitspielen, in sachlich informierender Weise und ohne Panikstimmung zu erzeugen. Aber die Macht der Gewohnheit beherrscht auch die Medien.
Im Übrigen könnte die Krise stärker als Chance für einen gewandelten gesünderen und ökologisch angepassteren Lebensstil genutzt werden, mit weniger Flugreisen, weniger Kreuzfahrten, weniger Autofahren, weniger Konsum von exotischen Produkten aus aller Welt usw. Die wet markets in China wird man nicht abschaffen können, aber das Wachstum des internationalen Verkehrs zwischen Europa und fernen Ländern halte ich für eine Fehlentwicklung.
Viren sind nicht nur Feinde, sondern wir Menschen benötigen sie auch wie Wasser, wie Luft, die Natur allgemein. Sollte der Virus SARS CoV-2 Anlass sein, unser Verhältnis zur Natur und unserer globalen ökonomischen Welt neu zu ordnen?
Dieter Birnbacher: Selbstverständlich sind Viren und Bakterien für uns lebensnotwendig. Nur eine winzige Minderheit bedroht unsere Gesundheit. Wir sollten aber bei den ausufernden Mobilitätswünschen zur Besinnung kommen und uns klar darüber sein, dass sie erhebliche Opfer gekostet haben und sicher weiter kosten werden. Schon Kolumbus und seine Nachfolger als Pioniere der interkontinentalen Mobilität haben Millionen der indianischen Bevölkerung Amerikas den Tod gebracht und die Syphilis nach Europa importiert.