Die Corona-Politik spaltet bis heute – Aufarbeitung statt Schwamm drüber!
Lehren aus der Covid-19-Pandemie wären bitter nötig. Über die Hauptprobleme wird aber kaum gesprochen. Was folgt aus der "Kein-Plan-Demie"? Ein Kommentar.
"Wir werden einander viel verzeihen müssen." Jens Spahn (CDU) wusste es bereits im Frühjahr 2020, als die erste Welle von Covid-19 über uns hereinbrach. Der Satz des damaligen Bundesgesundheitsministers wird häufig bemüht, seit das Online-Magazin Multipolar die Veröffentlichung der "RKI-Protokolle" erzwungen hat. Aufarbeitung wird gefordert, eine parlamentarische Untersuchung.
Die Querdenker-Szene erhofft sich davon ein Tribunal. Den damals Verantwortlichen ist die Angelegenheit etwas peinlich. Da passt Spahns Mahnung, dass wir einander verzeihend die Hände reichen sollen – Schwamm drüber!
Corona-Hardliner: Lauterbach gegen Schuldzuweisungen
"Ich halte nichts von Schuldzuweisungen", sagte vor anderthalb Jahren Karl Lauterbach (SPD), Spahns Nachfolger im Bundesgesundheitsministerium. Zuvor hatte er eingeräumt, dass die Kita- und Schulschließungen Sars-CoV-2 nicht wirklich gebremst haben.
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Keine andere Maßnahme hat der breiten Bevölkerung so viel abverlangt, am meisten den Ärmeren, Berufstätigen und Alleinerziehenden. Aber der Minister äußerte keine Entschuldigung, kein Wort des Bedauerns – Schwamm drüber!
Habeck verlangte einen Lockdown für Ungeimpfte
Früher oder später wird der Bundestag eine Enquete-Kommission damit beauftragen, die Erfahrungen mit der Pandemie aufzuarbeiten. Kein Abgeordneter kann sich dieser Forderung ganz verschließen, dazu war der zweijährige Ausnahmezustand zu einschneidend. Nur zu Schuldzuweisungen soll es auf keinen Fall kommen, mahnt zum Beispiel Robert Habeck ("kein blame game!"). Im Jahr 2021 hielt Habeck einen "Lockdown für Ungeimpfte" für "unvermeidlich" – Schwamm drüber!
Zugegeben, Epidemien durch hochansteckende neuartige Krankheitserreger stellen jedes politische System vor eine enorme Herausforderung. Die Gesundheitsgefahr lässt sich anfangs kaum beurteilen, trotzdem müssen sofort Maßnahmen ergriffen werden – unvermeidlich, dass es in einer solchen Situation zu falschen Entscheidungen kommt. Schwer zu ertragen ist allerdings die Leichtigkeit, mit der Regierungsmitglieder von damals über Fehler und Versäumnisse hinweggehen, die sie selbst verantworten.
Pandemie und Deutungshoheit: Anhaltende Polarisierung
Für ein großes Versöhnungsfest ist es zu früh. Nicht nur, weil die Funktionsträger von damals keine Einsicht zeigen (und auch nicht zeigen werden, solange es ihnen politisch schaden könnte). Die Bevölkerung ist nach wie vor gespalten. Während die einen die Pandemie weiterhin für bloße Panikmache halten, wollen die anderen nicht wahrhaben, wie wenig die bundesdeutsche Bekämpfungsstrategie in Wirklichkeit erreicht hat.
Denn der Lockdown, hierzulande mit der berüchtigten deutschen Gründlichkeit durchgeführt, war ja bei vielen Menschen populär, gerade auch in den Risikogruppen. Tief verunsichert erhofften sie sich von möglichst scharfen Maßnahmen mehr Schutz.
Ein Milieu, das mehr Angst vor der Impfung hatte
Die Sammlungsbewegung der Querdenker dagegen verlegte sich aufs Verleugnen und Verharmlosen, schürte Angst vor der Impfung und demonstrierte zusammen mit Sozialdarwinisten und Nazis.
Publizisten wie der Mikrobiologe Sucharit Bhakdi oder der Politiker Wolfgang Wodarg waren sich von Anfang an sicher, dass es sich bei Covid-19 um ein eigentlich harmloses Virus handelte. Sie und ihre Anhänger trugen zur Desorientierung erheblich bei.
Katastrophenszenarien in Medien und Politik
Natürlich lag zwischen diesen beiden Lagern ein weites Feld von Abwägenden und Unentschiedenen. Aber die Medien und die Politik taten jede Kritik an ihren Maßnahmen als unverantwortlich und uniformiert ab, reklamierten die wissenschaftliche Wahrheit für sich und schüchterten mit Katastrophenszenarien ein.
Die Berichterstattung verengte die Debatte auf die Frage, wie "hart" die Bekämpfungsmaßnahmen ausfallen müssten. So entstand eine Polarisierung, die eine ernsthafte gesundheitspolitische Diskussion nahezu unmöglich machte.
Pandemie-Politik zwischen Lockdown und Laufenlassen
Scheinbar standen nur "Laufenlassen bis zur Herdenimmunität" oder "unspezifisches Herunterfahren der Gesellschaft" zur Auswahl.
Wo Regierungen eine dieser beiden Strategien umzusetzen versuchten, hatten sie katastrophale Folgen. Oft folgte auf den anfänglichen Versuch, die Krankheit zu ignorieren, ein abrupter Schwenk zum flächendeckenden Lockdown, so in Großbritannien, USA und Indien, die im internationalen Vergleich überdurchschnittlich viele Tote zu beklagen haben.
Gegen diejenigen, die auf ein tägliches Einkommen angewiesen waren, um zu überleben, wurden die Kontaktbeschränkungen polizeilich durchgesetzt.
Durchseuchung: Die unbequeme Wahrheit über Covid-19
Schon während der Pandemie überdeckte die Polarisierung einige unbequemen Wahrheiten. Die Möglichkeit, den Erreger auszurotten, war im Frühjahr 2020 verspielt, eine Durchseuchung damit letztlich unvermeidlich. Nur ein Inselstaat wie Neuseeland konnte sich einige Zeit isolieren, was andere Länder schon aufgrund fehlender Kontrollmöglichkeiten verwehrt war.
Andererseits haben alle Maßnahmen, um die Ausbreitung einer so ansteckenden Atemwegsinfektion wie SARS-CoV-2 zu bremsen, unerwünschte Folgen. Kontaktbeschränkungen retten kurzfristig Menschenleben, schaden aber früher oder später auch der Bevölkerungsgesundheit, weil zum Beispiel Vorsorgeuntersuchungen und medizinische Behandlungen ausbleiben und Isolation Krankheiten fördert.
In mancher Hinsicht diente das Abarbeiten an den "Querschwurblern" und Verschwörungsmystikern der psychischen Entlastung und Selbstvergewisserung, im Sinne des schönen Diktums von Volker Pispers: "Wenn man weiß, wo der Feind steht, hat der Tag Struktur!" Die Feindbestimmung lenkte ab von der tiefen Ambivalenz der Situation.
Widersprüche der staatlichen Pandemie-Politik
Mit den "nicht-pharmazeutischen Maßnahmen" sollte Zeit gewonnen werden, bis Impfstoffe zur Verfügung standen, und ein Zusammenbruch der medizinischen Versorgung vermieden werden. Das entscheidende Versäumnis war, dass keine Versuche unternommen, die besonders Gefährdeten, die Alten und Kranken zu schützen.
Der Arzt und Autor Karl-Heinz Roth schätzt, dass in Deutschland bis zum Sommer 2021 etwa jeder dritte "mit oder an Coid-19-Verstorbene" in einem Alten- oder Pflegeheim wohnte.
Vermeidbare Corona-Infektionen in Pflegeheimen
Den Anteil dieser Bevölkerungsgruppe an den Covid-19-Toten in Europa und Nordamerika beziffert er auf etwa 40 Prozent. Wären beispielsweise die Angestellten täglich getestet und die Zahl ihrer Klienten beschränkt worden, hätten viele Opfer vermieden werden können. Stattdessen wehrten sich manche Heimbetreiber sogar gegen das Testen ihres Personals, damit der Betrieb ungehindert weiterlaufen konnte.
Mit Kontaktbeschränkungen die Zahl der Infizierten zu drücken, schien schon deshalb alternativlos, weil im Versorgungssystem keine zusätzlichen Ressourcen vorhanden waren – weder Material noch Personal. Während der ersten Welle 2020 mussten sich bekanntlich Pflegekräfte in den Krankenhäusern Gesichtsvisiere aus Klarsichthüllen basteln.
Hausgemachte Probleme: Personal- und Maskenmangel
Überall fehlte es an Masken und Hygiene-Mitteln. Anfänglich befürchtete man in der Berichterstattung vor allem, die Beatmungsgeräte für die schweren Verläufe könnten nicht ausreichen. Nur ganz langsam drang die Erkenntnis durch, dass die eingelieferten Kranken solche Geräte nicht selbst bedienen können, sondern ausgebildete Intensivmediziner gebraucht werden.
Covid-19 hat vorgeführt, wie gravierend der Personalmangel im Gesundheitswesen geworden ist. Die Belastung durch die Pandemie hat die Lage noch verschlimmert, viele haben die Branche verlassen. Ähnlich sieht es in den Gesundheitsämtern aus. Während die Krisenstäbe teils skurrile Verordnungen erließen, waren sie kaum in der Lage, Übertragungswege nachzuverfolgen oder die Bevölkerung aufzuklären.
Aber die Politik schien auch gar nicht wirklich interessiert daran zu sein, Erfolg oder Misserfolg ihrer Anordnungen zu überprüfen (zum Beispiel den Impfstatus der Verstorbenen zu ermitteln oder die Todesraten in den Heimen, durch die überfällige Reform der Todesursachen-Statistik).
Welche Lehren lassen sich aus Covid-19 ziehen?
Während ansonsten jeder Euro für die Gesundheitsversorgung angeblich einer zu viel ist, bestellte der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Frühjahr 2020 von windigen Unternehmen überteuerte Atemschutzmasken zum Preis von gut einer halben Milliarde Euro. Not kennt kein Gebot – angesichts der Infektionszahlen brauchte der Minister dringend etwas Vorweisbares.
Zu dieser Zeit sah er voraus, dass wir nach Ende der Pandemie viel Nachsicht üben müssten. Covid-19 hat vorgeführt, wie wenig belastbar das Gesundheitswesen in Deutschland ist. Unter den Gesundheitswissenschaftlern kursiert der Spruch, dass wir immer nur auf die vergangene Pandemie vorbereitet sind, niemals auf die nächste.
Jeder Erreger ist anders, die Basics der Eindämmung sind es nicht
Jeder pandemische Erreger ist anders als der vorherige, das stimmt, mit eigenen Übertragungswegen, Symptomen und Therapien.
Aber um diese Erreger zu bekämpfen, sind immer die gleichen Ressourcen notwendig: genügend motivierte und lernfähige Mediziner und Pflegekräfte, ein funktionierender Gesundheitsdienst, um das Infektionsgeschehen zu überwachen und die Bevölkerung zu informieren, medizinische Forschung, unabhängig von kommerziellen Interessen und Staat.
Kein-Plan-Demie: Staat zwischen Hilflosigkeit und Autoritarismus
Dass es daran mangelt, muss natürlich diejenigen nicht interessieren, die SARS-CoV-2 für eine Inszenierung oder gar eine "Plandemie" halten. In Wirklichkeit handelte es sich um eine "Kein-Plan-Demie": Ein vermeintlich starker Staat versuchte seine Hilflosigkeit mit autoritärem Gehabe zu übertünchen.
Viele Beschäftigte in der medizinischen und pflegerischen Versorgung haben enorme Opfer gebracht. Sie wurden kurz beklatscht und dann vergessen. Die vielleicht wichtigste Lehre lautet, dass ihre Erfahrungen beim nächsten Mal nicht übergangen werden dürfen. Sie müssen sich Gehör verschaffen.
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