Die Deutschen sind kränker denn je

Seite 4: Schlussfolgerung

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Die von Martin Dornes formuliert Frage, ob der Kapitalismus Menschen psychisch krank beziehungsweise depressiv macht, ist viel zu vage formuliert. Wie will man Kapitalismus überhaupt messen? Aus jahrzehntelanger wissenschaftlicher Forschung ist aber gut belegt, dass persönliche Erfahrungen und schwere Lebensereignisse die psychische Gesundheit beeinflussen. Dazu kommt ein kleiner Beitrag der genetischen Anfälligkeit.

Korrekt ist aber auch, dass es immer gesellschaftliche Änderungen gab - und immer auch Widerstand dagegen. Dennoch ist es erst einmal eine ernst zu nehmende Hypothese, dass Entwicklungen wie der globale Wettbewerb, die Deregulierung von Märkten einschließlich des Arbeitsmarkts, steigende Mietpreise und Gentrifizierung, die Digitalisierung des Lebens, schwere Krisen, die sich verschlechternde Sicherheitslage und der internationale Terrorismus die Menschen nicht kalt lassen. Wenn wissenschaftliche Studien keinen Effekt dieser Entwicklungen auf die Psyche feststellen können, dann stellt das deren Gültigkeit in Frage.

Wer nicht nur behauptet, dass es den Menschen gut, sondern sogar besser denn je geht, der muss dafür jedenfalls gute Belege anführen; und auch erst einmal erklären, warum die deutsche Bevölkerung, insbesondere ihr arbeitender Teil, kränker denn je ist. Die Menschen scheinen mit den Füßen abzustimmen - und dabei von Ärzten, Psychotherapeuten, Fachgutachtern und im Krankenhaus Recht zu bekommen. Ich habe auch keine endgültige Erklärung für alles, aber in diesem Artikel einige wesentliche Aspekte der Diskussion über psychische Gesundheit und Gesellschaftskritik erörtert:

  • Die Anzahl psychiatrisch-psychologischer Diagnosen nimmt seit Jahren kontinuierlich zu.
  • Epidemiologische Untersuchungen versuchen, die individuelle diagnostische Situation zwischen Patient und Arzt oder Psychotherapeut so gut wie möglich abzubilden, können sich ihr aber nur annähern.
  • Insbesondere verraten die so und ausschließlich aufgrund der Erinnerungen der Befragten erhobenen Störungsbilder wenig über das tatsächliche Behandlungsbedürfnis. Darum sind die epidemiologischen Erhebungen gesellschaftspolitisch von geringem Wert.
  • Demgegenüber stimmen die Betroffenen, die wegen psychischer Probleme Hilfe suchen, mit den Füßen ab. Dies zeigt sich nicht nur in den Diagnosedaten, sondern auch in den Arbeitsunfähigkeitszahlen.
  • Auch die steigenden Daten aus den Krankenhäusern und der Frühberentungen unterstützen den Befund, dass die Zunahme nicht nur an immer mehr leichten Fällen liegt, die psychologisch-psychiatrische Diagnosen bekommen. Hier geht es um ernstzunehmendes Leid.
  • Studien zur Arbeitswelt legen den Verdacht nahe, dass steigende psychische Anforderungen zu größeren Belastungen führen. Konkrete Faktoren sind das zunehmende Multitasking, steigender Termin- und Leistungsdruck, Unterbrechungen bei der Arbeit und Monotonie.
  • Schon heute ist es so, dass ein erheblicher Teil der arbeitenden Bevölkerung wegen der hohen Anforderungen Pausen überspringt.