Die Deutschen sind kränker denn je

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Im 21. Jahrhundert gab es noch nie so viele Krankheitstage und Krankenhausaufnahmen wie heute

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Im ersten Teil "Gesellschaftskritik und psychische Gesundheit" haben wir die Grundlagen diagnostischer Gespräche von Psychologen und Psychiatern besprochen. Diese wurden dann mit der Arbeit von Epidemiologen verglichen. Letztere berichten, dass jährlich rund 40% der Menschen in Europa mindestens einmal an einer psychischen Störung leiden.

Der Vergleich zeigte, dass die Gültigkeit individueller Diagnosen über derjenigen der Fragebogenstudien in Massenuntersuchungen steht. Auch konnten häufige Relativierungen, mit denen der starke Anstieg psychiatrisch-psychologischer Diagnosen wegerklärt werden soll, widerlegt werden: Psychische Störungen sind weder ein Schnupfen noch eine andere Form von Rückenschmerzen.

Insbesondere verfangen die Interpretationen von Martin Dornes nicht: Der Psychologe, Psychotherapeut und Soziologe vertritt in seinem Buch "Macht der Kapitalismus depressiv? Über seelische Gesundheit und Krankheit in modernen Gesellschaften", die These, dass Kapitalismus zu keiner Zunahme von Depressionen führe. Am stärksten stützt er sich dabei aber auf die epidemiologischen Studien, die, wie wir gesehen haben, seine Schlussfolgerungen gar nicht stützen können. Damit steht wieder die Frage im Raum, ob die wirtschaftlich-sozialen Verhältnisse nicht doch die psychische Gesundheit der Menschen beeinflussen.

Mit den Füßen abstimmen

Als man die Lebensqualität in Ost- und Westdeutschland miteinander verglich, sagte man, die Menschen hätten "mit den Füßen abgestimmt": Viel mehr Menschen gingen beziehungsweise flohen von Ost nach West, zum Teil unter Einsatz ihrer Freiheit oder ihres Lebens, als in die umgekehrte Richtung. Darum war nicht alles in der DDR schlecht, doch vieles im Argen.

Wie könnte es analog auf dem Gebiet der psychischen Gesundheit aussehen, wenn "mit den Füßen" abgestimmt wird? Menschen gehen eben zum Arzt oder Psychotherapeuten, weil sie ein psychisches Hilfsbedürfnis haben. Jetzt kann es durchaus so sein, dass sie dies häufiger als früher als ein psychisches Problem begreifen, weil es in den Medien mehr Aufmerksamkeit für diese Themen gibt oder weil es heute als gesellschaftlich akzeptierter gilt; und dass auch Hausärzte mehr für diese Kategorien sensibilisiert sind.

Man kann plausibelerweise also davon ausgehen, dass zumindest ein Teil des Anstiegs der Diagnosen auf diese Effekte zurückzuführen ist. Wie viel genau, das weiß aber kein Mensch. Daher steht aber auch derjenige auf spekulativem Grund, der behauptet, dass der Anstieg überhaupt nicht mit gesellschaftlichen Veränderungen zusammenhängt.

Zunehmende Arbeitsunfähigkeitstage

Nun sind die Diagnosezahlen aber nicht die einzigen Daten, die uns Aufschluss geben könnten. Die Krankenkassen erheben nämlich auch die Arbeitsunfähigkeitstage für verschiedene Störungsbilder und Krankheiten. Und diese zeigen unmissverständlich einen dramatischen Anstieg: Laut DAK Gesundheitsreport stieg der Wert für die psychischen Störungen von 0,8 pro Versichertem im Jahr 1997 auf 2,5 im Jahr 2017, also auf das mehr als Dreifache innerhalb der letzten 21 Jahre!

Wer jetzt wieder mit den Pseudo-Rückenschmerzen kommt, die man heute korrekt als psychische Störung identifiziere, der sollte wirklich noch einmal einen Blick auf die Daten werfen: Ich erwähnte im ersten Teil schon kurz Zahlen des Robert-Koch-Instituts und der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Ein deutliches Bild zeichnet aber auch diese Grafik des BKK Gesundheitsreports 2017:

Einerseits zeigt die Anzahl der Arbeitsunfähigkeitstage pro Versichertem - ohne Rentner - steil nach oben (graue Balken, linke Skala). Diese stiegen von 2006 bis 2016 von 11,5 auf 17,4, also um über 50%. Andererseits steigen auch die Krankheitstage für die häufigen Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems (graue Linie) und der psychischen Störungen (gelbe Linie; beide rechte Skala).

Man sieht sehr deutlich, dass die Arbeitsunfähigkeitstage wegen Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems in den letzten elf Jahren nicht nur nicht abgenommen, sondern sogar sehr deutlich zugenommen haben. Das gilt in noch größerem Maße für die psychischen Störungen. Insgesamt gilt: Die deutschen Arbeitnehmer werden seit vielen Jahren kränker. Wenn bestimmte epidemiologische Studien diesen deutlichen Trend nicht abbilden können, dann liefern sie schlicht keine gesellschaftspolitisch relevanten Ergebnisse.

Steigende Krankenhausbehandlungen

Ähnlich kann man auch mit Blick auf Krankenhausdiagnosen wegen psychischer Störungen argumentieren, die von 2000 bis 2016 von rund 911.000 auf 1,2 Millionen stiegen, also um 33%. Es ist nicht anzunehmen, dass Menschen jetzt massenweise ins Krankenhaus rennen, bloß weil sie sich ein bisschen müde oder gestresst fühlen.

Dass sie dort durchschnittlich 25 Tage lang behandelt werden, spricht auch für die Ernsthaftigkeit der Probleme. Der Durchschnittswert blieb trotz des Anstiegs der Fälle von 2000 bis 2016 übrigens relativ konstant. Auch dies widerspricht der alternativen Erklärung, dass es beim Anstieg bloß um immer leichtere Fälle geht. (Für die Muskel-Skelett-Erkrankungen stieg die Zahl übrigens im selben Zeitraum von rund 1,2 auf 1,8 Millionen, also um 45%, die durchschnittlich elf Tage lang im Krankenhaus behandelt werden.)

Wirklichkeitsverleugnung fürs Establishment

Akademiker, die sich ihre Studien so zurechtlegen, dass sie diese Tatsachen gar nicht erst sehen, betreiben Wirklichkeitsverleugnung. Die dient vor allem dem Establishment. Ulrich Hegerls Standpunkt ist widerlegt; Martin Dornes' Standpunkt ebenso. Damit ist nicht gleich die Wahrheit der gesellschaftskritischen Haltung bewiesen. Und Dornes hat sicher auch in manchen Punkten recht, wo er nachweist, dass früher nicht alles besser war.

Dennoch bleibt der starke Anstieg der Krankheit im Allgemeinen sowie der psychischen Störungen im Besonderen in einem der reichsten Länder der Welt ein Phänomen, das einer Erklärung bedarf. Dornes' "Uns geht es so gut wie nie" ist falsch. Korrekt ist: So viele Menschen wie heute waren im 21. Jahrhundert noch nie krankgeschrieben. Oder anders formuliert: Die Deutschen sind kränker denn je!

Das gilt insbesondere auch, jedoch nicht nur für psychische Störungen. Dabei sollte man bedenken, dass auch viele andere Erkrankungen eine psychosoziale Komponente haben und nicht rein körperlich zu verstehen sind.

Stress bei der Arbeit

Wir haben also gesehen, dass die wissenschaftlich-epidemiologischen Daten für die praktischen Fragen nicht sehr aussagekräftig sind und den Krankenkassendaten widersprechen. Bleibt damit im Raum stehen, warum immer mehr Deutsche arbeitsunfähig werden oder wegen psychischer Probleme in den Vorruhestand gehen?

Der Stressreport Deutschland 2012 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin bietet zumindest einige Indizien für eine Antwort - mit Dank an einen Leser des ersten Teils. Der Bericht ergab nämlich deutlich, dass die psychischen Anforderungen bei der Arbeit in Deutschland sehr hoch sind, insbesondere in den Bereichen "verschiedenartige Arbeiten gleichzeitig betreuen" (Multitasking), "starker Termin- und Leistungsdruck", "bei der Arbeit gestört, unterbrochen" werden, "sehr schnell arbeiten müssen" und "ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge" (Monotonie).

Keine Zeit für Pausen

Der hohe Arbeitsdruck äußert sich zum Beispiel daran, dass keine Zeit mehr für Pausen bleibt. Laut dem Stressreport:

Festzuhalten bleibt zudem, dass ein Viertel der Befragten Pausen ausfallen lässt und dies in mehr als einem Drittel der Fälle damit begründet, zu viel Arbeit zu haben. Dabei geben ca. ein Fünftel an, mengenmäßig überfordert zu sein, und fast die Hälfte, dass Pausen nicht in den Arbeitsablauf passen. … Zugleich haben die im Zusammenhang mit der Arbeit häufig auftretenden gesundheitlichen Beschwerden überwiegend zugenommen. Und je mehr Beschwerden angegeben werden, desto höher fallen dabei auch die mit Arbeitsintensität assoziierten Anforderungswerte z.B. für 'starken Termin- und Leistungsdruck' oder Multitasking aus. … Darüber hinaus wird auch mit steigenden Beschwerden ein Mehr an Stresszunahme und an fachlicher sowie mengenmäßiger Überforderung berichtet.

Stressreport Deutschland 2012, S. 164

Hohe psychische Anforderungen stehen also in einem messbaren Zusammenhang sowohl mit gesundheitsgefährdendem Verhalten wie dem Ausfallenlassen von - oftmals gerade zum Gesundheitsschutz gesetzlich vorgeschriebenen - Pausen als auch mit dem Erleben von Überforderung. Es wäre eine plausible Erklärung, dass der nachweisliche Anstieg von Diagnosen psychischer Störungen und der Arbeitsunfähigkeit mit solchen ungesunden Arbeitsbedingungen einhergeht; und es ist wieder so auffällig wie enttäuschend, dass epidemiologische Studien diese Trends nicht widerspiegeln.

Frauengesundheit und Frauenpolitik

Noch ein Gedanke am Rande: Wenn man über psychische Störungen spricht, dann geht es implizit immer auch um Geschlechterverhältnisse. Frauen haben nämlich allgemein sehr viel häufiger psychische Probleme als Männer: Die insgesamt sehr häufigen Depressionen, Angst- und Stressstörungen werden bei ihnen sogar zwei- bis dreimal so häufig diagnostiziert.

So entfallen auch Arbeitsunfähigkeitstage wegen aller psychischen Störungen insgesamt laut DAK Gesundheitsreport 2016 auf sie 1,7-mal so häufig wie auf Männer. Der Unterschied auf diesem Gebiet ist sogar mehr als fünfmal so groß wie bei den Schwangerschaften!

Frauen und Männer sind anders krank. Das war das Schwerpunktthema des DAK Gesundheitsreports von 2016. Die Grafik zeigt den Unterschied zwischen den Geschlechtern bei den Krankheitstagen. Frauen fehlen deutlich häufiger wegen psychischer Störungen am Arbeitsplatz als Männer. Dieser Unterschied ist auch viel größer als der bei allen anderen Kategorien. Bei Männern sind Verletzungen deutlich häufiger Gründe für Arbeitsunfähigkeit als bei Frauen.

Daraus könnte man auf die Vermutung kommen, dass die Gesellschaft Frauen die härtere Kante zeigt als Männern. In bestimmten Situationen ist das sicher auch so, wenn man etwa an alleinerziehende Eltern denkt, die zwischen Kindeserziehung und Arbeit zerrieben werden. Das sind mehrheitlich Frauen und bekannterweise eine der größten Risikogruppen für psychische Störungen.

Arbeitsmarkt- statt Frauenpolitik

Man sollte aber auch bedenken, dass wir inzwischen schon Jahrzehnte der Frauenförderung und Gleichstellungspolitik hinter uns haben. Dann sollte man doch - "Uns geht es so gut wie nie" - meinen, dass es den Frauen im Schnitt psychisch besser gehen müsste als vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren. Das Gegenteil ist aber der Fall: Es scheint Frauen psychologisch immer schlechter zu gehen, je mehr Gleichstellungspolitik wir haben.

Der bereits erwähnte Stressreport fügt auch zu dieser Frage eine interessante Ergänzung zu. Demnach sind es nämlich vor allem die Frauen in Führungspositionen, also Frauen, die den Idealen der Gleichstellungspolitik folgen, die unter Überforderung und Stress im Zusammenhang mit der Arbeit leiden: "Am meisten geben vollzeitbeschäftigte Frauen - insbesondere diejenigen mit Führungsverantwortung - Pausenausfall, Stresszunahme und Überforderung an" (S. 166).

Ich vertrat vor Jahren schon einmal die These, dass das, was uns heute als Frauenpolitik verkauft wird, vielmehr eine verdeckte Arbeitsmarktpolitik ist (Wem nutzt die Frauenquote?). Warum machen wir die Güte der Politik eigentlich nicht an der psychischen Gesundheit der Bevölkerung fest, und insbesondere die Güte der Frauenpolitik an der psychischen Gesundheit von Frauen? Das Ergebnis für die Politiker wäre in jedem Fall: mangelhaft.

In eigener Sache

Es finden sich deutlich mehr Ungereimtheiten und Fehler in Dornes' Buch. Es wäre aber nicht sehr lesenswert, diese hier noch weiter auszuführen. Da der Autor darin jedoch auf meinen Telepolis-Artikel aus dem Jahr 2015 reagiert (Kapitalismus und psychische Gesundheit), möchte ich kurz vor dem Schluss noch ein paar Punkte besprechen. So schreibt Dornes:

Schleim (2015) etwa meint, die Befunde zur Konstanz von Depression seien deshalb nicht aussagefähig, weil es verschiedene Arten von Depressionen gäbe. … Ich habe mich andernorts damit ausführlicher auseinandergesetzt … und stelle hier nur fest, dass es sich dabei um eine bloße Behauptung handelt. Schon das flüchtige Durchblättern der beiden führenden Diagnosemanuale (DSM und ICD) lässt den Einwand, hier würde der Vielfalt depressiver Erkrankungen nicht hinreichend Rechnung getragen, abwegig erscheinen.

Position 1067 im eBook

Dem Autor fällt leider nicht auf, dass er meinen Kritikpunkt sogar noch untermauert, anstatt ihn zu entkräften. Mein Standpunkt war, dass man die Zahlen der epidemiologischen Studien nicht verabsolutieren darf, da sich die Definitionen psychischer Störungen im Laufe der Zeit verändern. Dornes selbst verweist in seinem Buch mehrmals darauf, dass für die Diagnose von Depressionen das Vorliegen bestimmter Symptome mal für zwei Wochen, mal für ein Jahr erfordert wurde.

Vergleich der Jahrzehnte

Ich behaupte, dass dann die beiden Phänomene, die man untersucht, nicht dasselbe sind. Es ist gefährlich, diese beide schlicht als "Depressionen" zu bezeichnen und so die Bedeutungsunterschiede zu verwischen. Wenn ich mal das Atom mit 26 Protonen, mal das mit 27 Protonen im Kern untersuche, dann bleiben das zwei unterschiedliche Gegenstände, selbst wenn ich beide "Eisen" nenne.

Mir geht es schlicht darum, dass man diese Bedeutungsunterschiede berücksichtigen muss, wenn man epidemiologische Daten über die Jahrzehnte hinweg miteinander vergleicht. Darauf ist Dornes angewiesen, wenn er zeigen will, dass der Kapitalismus nicht depressiv macht. "Depressionen" bedeutete in den 1950er Jahren nun einmal etwas anderes als heutzutage.

Das Problem versuche ich hier zu vermeiden, indem ich mich vor allem auf die Zahlen der letzten zehn bis zwanzig Jahre konzentriere. Außerdem geht es mir weniger um spezifische Störungsbilder, als um psychische Störungen insgesamt und die damit einhergehenden Krankheits- und Krankenhaustage.

Subjektive Komponente

Dornes kritisiert meinen Artikel danach wie folgt:

Schleim geht indes noch weiter und möchte psychische Diagnosen völlig subjektivieren nach dem Motto: Depressiv ist, wer die Diagnose Depression erhält. Die Begründung für dieses Verfahren lautet, dass nur so die subjektive Leidensdimension der Depression erfasst werde. Wieso das? … Wie sollte ein Hausarzt in den paar Minuten Gespräch, die ihm pro Patient zur Verfügung stehen, eine bessere Diagnose stellen als ein epidemiologisch arbeitender Psychiater oder Psychologe, der ein einstündiges Gespräch mit dem Probanden führt?

Position 1077 im eBook

Wie ich bereits schon vorher aufzeigte, verdreht Dornes die Bedeutung des individuellen diagnostischen Gesprächs und der massenweisen epidemiologischen Befragung. Erstens ist es gar nicht verkehrt, psychische Probleme mit dem Hausarzt zu besprechen: Dieser kann nämlich überprüfen, ob beispielsweise Stimmungsschwankungen eine organische Ursache haben, etwa eine Schilddrüsenfehlfunktion. Ein guter Psychotherapeut wird in einem Aufnahmegespräch wahrscheinlich fragen, ob die körperliche Gesundheit bereits untersucht wurde.

Hausärzte oder Epidemiologen?

Zweitens steht der Hausarzt vielleicht unter Zeitdruck - er kennt den Patienten aber in der Regel schon länger, vielleicht sogar schon seit Jahrzehnten. Das sind wichtige Zusatzinformationen, die im standardisierten epidemiologischen Interview fehlen. Außerdem sollte Dornes sich dieses nicht zu rosig vorstellen. Hier von einem einstündigen "Gespräch" zu reden, ist schon recht euphemistisch.

Bei den Verfahren der führenden Epidemiologen werden schlicht der Reihe nach Fragen vorgelesen, auf die mit standardisierten Antworten wie "ja", "nein", "weiß ich nicht" oder Zahlen wie "fünfmal innerhalb des letzten Monats" geantwortet wird. Der "epidemiologisch arbeitende Psychiater oder Psychologe" ist in der Regel der Studienleiter und hat gar keine Zeit, die hunderte bis tausende Befragungen selbst durchzuführen. Er schickt darum seine Hilfskräfte.

Fachliche Qualifikation

Die erwerben beispielsweise bei dem verbreiteten und auch von der WHO eingesetzten Verfahren des erwähnten Harvard-Professors Ronald Kessler ihre Kompetenzen erst in einem vierzigstündigen, computergestützten Selbsttraining. Danach nehmen sie an einem drei- bis fünftägigen Kurs teil.

Dornes' Behauptung, diese Hilfskräfte würde dann die Diagnose stellen, ist irreführend. Es ist der Algorithmus der Experten wie Kessler oder Wittchen, der mit den Interviewdaten gefüttert wird, und die Befragten dann in verschiedene Kategorien einordnet. Diagnosen im eigentlichen Sinne stellt allein ein Arzt oder Psychotherapeut; dafür ist er auch jahrelang theoretisch wie praktisch ausgebildet.

Beispiel aus Deutschland

Die von Dornes hochgelobte Untersuchung "Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung" von Frank Jacobi, Hans-Ulrich Wittchen und Kollegen, die im Jahr 2014 erschien und in die offizielle "Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland" einfloss, verwendet eine Variante von Kesslers WHO-Fragebogen.

In der Publikation heißt es, die Interviews seien durch "klinisch geschulte Interviewer geführt" (S. 78) worden, zum Teil auch nur telefonisch. Das kann natürlich viel bedeuten. Die Professoren Jacobi und Wittchen werden aber wohl nur wenige der über 7000 Befragten selbst besucht haben, wenn überhaupt.

Martin Dornes erweckt jedenfalls mit seinen Behauptungen nicht gerade den Eindruck, die Methodologie der von ihm verabsolutierten epidemiologischen Studien gut durchdrungen zu haben. Wie bereits aufgezeigt, fällt mit der Belastbarkeit dieser Befunde auch sein Argument in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

Steigender Medikamentenkonsum

Der Autor diskutiert auch die drastisch angestiegenen Verschreibungszahlen etwa von Antidepressiva oder Psychostimulanzien wie Amphetamin und Methylphenidat, die häufig bei Aufmerksamkeitsstörungen verschrieben werden. "Die Wirksamkeit bei mittelschweren und schweren Depressionen steht" für Dornes dabei "außer Frage" (Position 1099 im eBook). Da hat er aber die kritische Literatur der letzten 15 Jahre nicht zur Kenntnis genommen ("Größtenteils nutzlos und potenziell schädlich").

Dass Antidepressiva gar nicht spezifisch antidepressiv wirken, sieht man schon daran, dass diese Mittel auch häufig bei Angst-, Ess- oder Zwangsstörungen verschrieben werden. Trotz größter Bemühungen kommt der psychiatrische Mainstream nur mit durch finanzielle Verstrickungen verzerrten Studien auf einen mäßig statistisch signifikanten Effekt bei der Behandlung von Depressionen, der unterhalb der klinischen Relevanz liegt. Auch wenn die Mittel im Einzelfall helfen können, dürften sie für die meisten Patienten Placebo-Pillen sein ("Bei rund 90% wirken Antidepressiva nicht besser als Placebo").

Durchhaltepillen

Und wenn wir schon bei Gesellschaftskritik und Depressionen sind, dann sollte man sich vor Augen führen, wie standardisierte Tests für die Wirksamkeit von Antidepressiva funktionieren: Im Tierversuch werden gerne der Forced-Swimming- oder der Tail-Suspension-Test verwendet. Beim ersten misst ein Computer, wie lange eine Maus schwimmt, wenn man sie in einen Behälter wirft, aus dem sie nicht herauskommt; beim zweiten wird sie schlicht am Schwanz aufgehängt und gemessen, wie lange sie zappelt.

Was für eine Metapher wäre das, wenn man das auf den Menschen der heutigen Zeit überträgt! Antidepressiva ermöglichten es ihm dann, in einer aussichtslosen Lage länger durchzuhalten. In einer Konkurrenzsituation, in der man etwa wegen einer schlechten Ausgangslage wie einer unvorteilhaften Geburt oder dem falschen Äußeren von vorneherein benachteiligt ist, könnten solche Mittel durchaus helfen.

Jedenfalls gilt das dann, wenn man "Hilfe" hier rein utilitaristisch versteht. Denn wie der Reichtumsforscher Rainer Zitelmann hier schon einmal im Interview formulierte, hat im Wettkampf schon verloren, wer aufgibt ("Für mich ist 'neoliberal' ein Ehrentitel").

Beispiel Psychostimulanzien

Dass auch Psychostimulanzien unter Leistungsdruck helfen können, hat sich seit fast 100 Jahren herumgesprochen. Wie zurzeit Studierende in den USA die stressigen College-Jahre damit bewältigen wollen oder Leistungssportler mit einer ADHS-Diagnose das Doping-Verbot für Amphetamin ("Speed") umgehen, ist in der Netflix-Dokumentation "Take Your Pills" gut dargestellt.

In den USA ist die Produktion der Psychostimulanzien in den jüngsten Jahren nach jahrzehntelangem Anstieg erstmals zurückgegangen. Wer will, kann darin einen Zusammenhang mit der Finanzkrise sehen. In jedem Fall ist hinreichend belegt, wie Psychopharmaka in verschiedenen Zeiten bestimmte psychosoziale Bedürfnisse befriedigen.

Der unstrittige Befund, dass man etwa in den USA in den frühen 1990ern noch mit jährlich 140 Tonnen(!) weniger Amphetamin und Methylphenidat ("Ritalin") auskam als etwa 2014, ist eine Anomalie, die man erst einmal erklären muss. Der Hinweis auf epidemiologische Studien, die keine Veränderung feststellen, macht diese nur unglaubwürdiger. Beim Anstieg der Antidepressiva handelt es sich um ein ähnliches Muster.

Die Produktionszahlen der Psychostimulanzien Amphetamin (rot) und Methylphenidat ("Ritalin", blau) zeigen in den USA bis ins Jahr 2014 einen drastischen Anstieg. Dort werden mehr dieser Mittel verbraucht als im ganzen Rest der Welt zusammen. In den jüngsten Jahren fiel die Produktion aber auch wieder stark.

Schlussfolgerung

Die von Martin Dornes formuliert Frage, ob der Kapitalismus Menschen psychisch krank beziehungsweise depressiv macht, ist viel zu vage formuliert. Wie will man Kapitalismus überhaupt messen? Aus jahrzehntelanger wissenschaftlicher Forschung ist aber gut belegt, dass persönliche Erfahrungen und schwere Lebensereignisse die psychische Gesundheit beeinflussen. Dazu kommt ein kleiner Beitrag der genetischen Anfälligkeit.

Korrekt ist aber auch, dass es immer gesellschaftliche Änderungen gab - und immer auch Widerstand dagegen. Dennoch ist es erst einmal eine ernst zu nehmende Hypothese, dass Entwicklungen wie der globale Wettbewerb, die Deregulierung von Märkten einschließlich des Arbeitsmarkts, steigende Mietpreise und Gentrifizierung, die Digitalisierung des Lebens, schwere Krisen, die sich verschlechternde Sicherheitslage und der internationale Terrorismus die Menschen nicht kalt lassen. Wenn wissenschaftliche Studien keinen Effekt dieser Entwicklungen auf die Psyche feststellen können, dann stellt das deren Gültigkeit in Frage.

Wer nicht nur behauptet, dass es den Menschen gut, sondern sogar besser denn je geht, der muss dafür jedenfalls gute Belege anführen; und auch erst einmal erklären, warum die deutsche Bevölkerung, insbesondere ihr arbeitender Teil, kränker denn je ist. Die Menschen scheinen mit den Füßen abzustimmen - und dabei von Ärzten, Psychotherapeuten, Fachgutachtern und im Krankenhaus Recht zu bekommen. Ich habe auch keine endgültige Erklärung für alles, aber in diesem Artikel einige wesentliche Aspekte der Diskussion über psychische Gesundheit und Gesellschaftskritik erörtert:

  • Die Anzahl psychiatrisch-psychologischer Diagnosen nimmt seit Jahren kontinuierlich zu.
  • Epidemiologische Untersuchungen versuchen, die individuelle diagnostische Situation zwischen Patient und Arzt oder Psychotherapeut so gut wie möglich abzubilden, können sich ihr aber nur annähern.
  • Insbesondere verraten die so und ausschließlich aufgrund der Erinnerungen der Befragten erhobenen Störungsbilder wenig über das tatsächliche Behandlungsbedürfnis. Darum sind die epidemiologischen Erhebungen gesellschaftspolitisch von geringem Wert.
  • Demgegenüber stimmen die Betroffenen, die wegen psychischer Probleme Hilfe suchen, mit den Füßen ab. Dies zeigt sich nicht nur in den Diagnosedaten, sondern auch in den Arbeitsunfähigkeitszahlen.
  • Auch die steigenden Daten aus den Krankenhäusern und der Frühberentungen unterstützen den Befund, dass die Zunahme nicht nur an immer mehr leichten Fällen liegt, die psychologisch-psychiatrische Diagnosen bekommen. Hier geht es um ernstzunehmendes Leid.
  • Studien zur Arbeitswelt legen den Verdacht nahe, dass steigende psychische Anforderungen zu größeren Belastungen führen. Konkrete Faktoren sind das zunehmende Multitasking, steigender Termin- und Leistungsdruck, Unterbrechungen bei der Arbeit und Monotonie.
  • Schon heute ist es so, dass ein erheblicher Teil der arbeitenden Bevölkerung wegen der hohen Anforderungen Pausen überspringt.