Die Deutschen sind kränker denn je

Seite 2: Wirklichkeitsverleugnung fürs Establishment

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Akademiker, die sich ihre Studien so zurechtlegen, dass sie diese Tatsachen gar nicht erst sehen, betreiben Wirklichkeitsverleugnung. Die dient vor allem dem Establishment. Ulrich Hegerls Standpunkt ist widerlegt; Martin Dornes' Standpunkt ebenso. Damit ist nicht gleich die Wahrheit der gesellschaftskritischen Haltung bewiesen. Und Dornes hat sicher auch in manchen Punkten recht, wo er nachweist, dass früher nicht alles besser war.

Dennoch bleibt der starke Anstieg der Krankheit im Allgemeinen sowie der psychischen Störungen im Besonderen in einem der reichsten Länder der Welt ein Phänomen, das einer Erklärung bedarf. Dornes' "Uns geht es so gut wie nie" ist falsch. Korrekt ist: So viele Menschen wie heute waren im 21. Jahrhundert noch nie krankgeschrieben. Oder anders formuliert: Die Deutschen sind kränker denn je!

Das gilt insbesondere auch, jedoch nicht nur für psychische Störungen. Dabei sollte man bedenken, dass auch viele andere Erkrankungen eine psychosoziale Komponente haben und nicht rein körperlich zu verstehen sind.

Stress bei der Arbeit

Wir haben also gesehen, dass die wissenschaftlich-epidemiologischen Daten für die praktischen Fragen nicht sehr aussagekräftig sind und den Krankenkassendaten widersprechen. Bleibt damit im Raum stehen, warum immer mehr Deutsche arbeitsunfähig werden oder wegen psychischer Probleme in den Vorruhestand gehen?

Der Stressreport Deutschland 2012 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin bietet zumindest einige Indizien für eine Antwort - mit Dank an einen Leser des ersten Teils. Der Bericht ergab nämlich deutlich, dass die psychischen Anforderungen bei der Arbeit in Deutschland sehr hoch sind, insbesondere in den Bereichen "verschiedenartige Arbeiten gleichzeitig betreuen" (Multitasking), "starker Termin- und Leistungsdruck", "bei der Arbeit gestört, unterbrochen" werden, "sehr schnell arbeiten müssen" und "ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge" (Monotonie).

Keine Zeit für Pausen

Der hohe Arbeitsdruck äußert sich zum Beispiel daran, dass keine Zeit mehr für Pausen bleibt. Laut dem Stressreport:

Festzuhalten bleibt zudem, dass ein Viertel der Befragten Pausen ausfallen lässt und dies in mehr als einem Drittel der Fälle damit begründet, zu viel Arbeit zu haben. Dabei geben ca. ein Fünftel an, mengenmäßig überfordert zu sein, und fast die Hälfte, dass Pausen nicht in den Arbeitsablauf passen. … Zugleich haben die im Zusammenhang mit der Arbeit häufig auftretenden gesundheitlichen Beschwerden überwiegend zugenommen. Und je mehr Beschwerden angegeben werden, desto höher fallen dabei auch die mit Arbeitsintensität assoziierten Anforderungswerte z.B. für 'starken Termin- und Leistungsdruck' oder Multitasking aus. … Darüber hinaus wird auch mit steigenden Beschwerden ein Mehr an Stresszunahme und an fachlicher sowie mengenmäßiger Überforderung berichtet.

Stressreport Deutschland 2012, S. 164

Hohe psychische Anforderungen stehen also in einem messbaren Zusammenhang sowohl mit gesundheitsgefährdendem Verhalten wie dem Ausfallenlassen von - oftmals gerade zum Gesundheitsschutz gesetzlich vorgeschriebenen - Pausen als auch mit dem Erleben von Überforderung. Es wäre eine plausible Erklärung, dass der nachweisliche Anstieg von Diagnosen psychischer Störungen und der Arbeitsunfähigkeit mit solchen ungesunden Arbeitsbedingungen einhergeht; und es ist wieder so auffällig wie enttäuschend, dass epidemiologische Studien diese Trends nicht widerspiegeln.

Frauengesundheit und Frauenpolitik

Noch ein Gedanke am Rande: Wenn man über psychische Störungen spricht, dann geht es implizit immer auch um Geschlechterverhältnisse. Frauen haben nämlich allgemein sehr viel häufiger psychische Probleme als Männer: Die insgesamt sehr häufigen Depressionen, Angst- und Stressstörungen werden bei ihnen sogar zwei- bis dreimal so häufig diagnostiziert.

So entfallen auch Arbeitsunfähigkeitstage wegen aller psychischen Störungen insgesamt laut DAK Gesundheitsreport 2016 auf sie 1,7-mal so häufig wie auf Männer. Der Unterschied auf diesem Gebiet ist sogar mehr als fünfmal so groß wie bei den Schwangerschaften!

Frauen und Männer sind anders krank. Das war das Schwerpunktthema des DAK Gesundheitsreports von 2016. Die Grafik zeigt den Unterschied zwischen den Geschlechtern bei den Krankheitstagen. Frauen fehlen deutlich häufiger wegen psychischer Störungen am Arbeitsplatz als Männer. Dieser Unterschied ist auch viel größer als der bei allen anderen Kategorien. Bei Männern sind Verletzungen deutlich häufiger Gründe für Arbeitsunfähigkeit als bei Frauen.

Daraus könnte man auf die Vermutung kommen, dass die Gesellschaft Frauen die härtere Kante zeigt als Männern. In bestimmten Situationen ist das sicher auch so, wenn man etwa an alleinerziehende Eltern denkt, die zwischen Kindeserziehung und Arbeit zerrieben werden. Das sind mehrheitlich Frauen und bekannterweise eine der größten Risikogruppen für psychische Störungen.

Arbeitsmarkt- statt Frauenpolitik

Man sollte aber auch bedenken, dass wir inzwischen schon Jahrzehnte der Frauenförderung und Gleichstellungspolitik hinter uns haben. Dann sollte man doch - "Uns geht es so gut wie nie" - meinen, dass es den Frauen im Schnitt psychisch besser gehen müsste als vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren. Das Gegenteil ist aber der Fall: Es scheint Frauen psychologisch immer schlechter zu gehen, je mehr Gleichstellungspolitik wir haben.

Der bereits erwähnte Stressreport fügt auch zu dieser Frage eine interessante Ergänzung zu. Demnach sind es nämlich vor allem die Frauen in Führungspositionen, also Frauen, die den Idealen der Gleichstellungspolitik folgen, die unter Überforderung und Stress im Zusammenhang mit der Arbeit leiden: "Am meisten geben vollzeitbeschäftigte Frauen - insbesondere diejenigen mit Führungsverantwortung - Pausenausfall, Stresszunahme und Überforderung an" (S. 166).

Ich vertrat vor Jahren schon einmal die These, dass das, was uns heute als Frauenpolitik verkauft wird, vielmehr eine verdeckte Arbeitsmarktpolitik ist (Wem nutzt die Frauenquote?). Warum machen wir die Güte der Politik eigentlich nicht an der psychischen Gesundheit der Bevölkerung fest, und insbesondere die Güte der Frauenpolitik an der psychischen Gesundheit von Frauen? Das Ergebnis für die Politiker wäre in jedem Fall: mangelhaft.

In eigener Sache

Es finden sich deutlich mehr Ungereimtheiten und Fehler in Dornes' Buch. Es wäre aber nicht sehr lesenswert, diese hier noch weiter auszuführen. Da der Autor darin jedoch auf meinen Telepolis-Artikel aus dem Jahr 2015 reagiert (Kapitalismus und psychische Gesundheit), möchte ich kurz vor dem Schluss noch ein paar Punkte besprechen. So schreibt Dornes:

Schleim (2015) etwa meint, die Befunde zur Konstanz von Depression seien deshalb nicht aussagefähig, weil es verschiedene Arten von Depressionen gäbe. … Ich habe mich andernorts damit ausführlicher auseinandergesetzt … und stelle hier nur fest, dass es sich dabei um eine bloße Behauptung handelt. Schon das flüchtige Durchblättern der beiden führenden Diagnosemanuale (DSM und ICD) lässt den Einwand, hier würde der Vielfalt depressiver Erkrankungen nicht hinreichend Rechnung getragen, abwegig erscheinen.

Position 1067 im eBook

Dem Autor fällt leider nicht auf, dass er meinen Kritikpunkt sogar noch untermauert, anstatt ihn zu entkräften. Mein Standpunkt war, dass man die Zahlen der epidemiologischen Studien nicht verabsolutieren darf, da sich die Definitionen psychischer Störungen im Laufe der Zeit verändern. Dornes selbst verweist in seinem Buch mehrmals darauf, dass für die Diagnose von Depressionen das Vorliegen bestimmter Symptome mal für zwei Wochen, mal für ein Jahr erfordert wurde.