Die Deutschen sind kränker denn je

Seite 3: Vergleich der Jahrzehnte

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Ich behaupte, dass dann die beiden Phänomene, die man untersucht, nicht dasselbe sind. Es ist gefährlich, diese beide schlicht als "Depressionen" zu bezeichnen und so die Bedeutungsunterschiede zu verwischen. Wenn ich mal das Atom mit 26 Protonen, mal das mit 27 Protonen im Kern untersuche, dann bleiben das zwei unterschiedliche Gegenstände, selbst wenn ich beide "Eisen" nenne.

Mir geht es schlicht darum, dass man diese Bedeutungsunterschiede berücksichtigen muss, wenn man epidemiologische Daten über die Jahrzehnte hinweg miteinander vergleicht. Darauf ist Dornes angewiesen, wenn er zeigen will, dass der Kapitalismus nicht depressiv macht. "Depressionen" bedeutete in den 1950er Jahren nun einmal etwas anderes als heutzutage.

Das Problem versuche ich hier zu vermeiden, indem ich mich vor allem auf die Zahlen der letzten zehn bis zwanzig Jahre konzentriere. Außerdem geht es mir weniger um spezifische Störungsbilder, als um psychische Störungen insgesamt und die damit einhergehenden Krankheits- und Krankenhaustage.

Subjektive Komponente

Dornes kritisiert meinen Artikel danach wie folgt:

Schleim geht indes noch weiter und möchte psychische Diagnosen völlig subjektivieren nach dem Motto: Depressiv ist, wer die Diagnose Depression erhält. Die Begründung für dieses Verfahren lautet, dass nur so die subjektive Leidensdimension der Depression erfasst werde. Wieso das? … Wie sollte ein Hausarzt in den paar Minuten Gespräch, die ihm pro Patient zur Verfügung stehen, eine bessere Diagnose stellen als ein epidemiologisch arbeitender Psychiater oder Psychologe, der ein einstündiges Gespräch mit dem Probanden führt?

Position 1077 im eBook

Wie ich bereits schon vorher aufzeigte, verdreht Dornes die Bedeutung des individuellen diagnostischen Gesprächs und der massenweisen epidemiologischen Befragung. Erstens ist es gar nicht verkehrt, psychische Probleme mit dem Hausarzt zu besprechen: Dieser kann nämlich überprüfen, ob beispielsweise Stimmungsschwankungen eine organische Ursache haben, etwa eine Schilddrüsenfehlfunktion. Ein guter Psychotherapeut wird in einem Aufnahmegespräch wahrscheinlich fragen, ob die körperliche Gesundheit bereits untersucht wurde.

Hausärzte oder Epidemiologen?

Zweitens steht der Hausarzt vielleicht unter Zeitdruck - er kennt den Patienten aber in der Regel schon länger, vielleicht sogar schon seit Jahrzehnten. Das sind wichtige Zusatzinformationen, die im standardisierten epidemiologischen Interview fehlen. Außerdem sollte Dornes sich dieses nicht zu rosig vorstellen. Hier von einem einstündigen "Gespräch" zu reden, ist schon recht euphemistisch.

Bei den Verfahren der führenden Epidemiologen werden schlicht der Reihe nach Fragen vorgelesen, auf die mit standardisierten Antworten wie "ja", "nein", "weiß ich nicht" oder Zahlen wie "fünfmal innerhalb des letzten Monats" geantwortet wird. Der "epidemiologisch arbeitende Psychiater oder Psychologe" ist in der Regel der Studienleiter und hat gar keine Zeit, die hunderte bis tausende Befragungen selbst durchzuführen. Er schickt darum seine Hilfskräfte.

Fachliche Qualifikation

Die erwerben beispielsweise bei dem verbreiteten und auch von der WHO eingesetzten Verfahren des erwähnten Harvard-Professors Ronald Kessler ihre Kompetenzen erst in einem vierzigstündigen, computergestützten Selbsttraining. Danach nehmen sie an einem drei- bis fünftägigen Kurs teil.

Dornes' Behauptung, diese Hilfskräfte würde dann die Diagnose stellen, ist irreführend. Es ist der Algorithmus der Experten wie Kessler oder Wittchen, der mit den Interviewdaten gefüttert wird, und die Befragten dann in verschiedene Kategorien einordnet. Diagnosen im eigentlichen Sinne stellt allein ein Arzt oder Psychotherapeut; dafür ist er auch jahrelang theoretisch wie praktisch ausgebildet.

Beispiel aus Deutschland

Die von Dornes hochgelobte Untersuchung "Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung" von Frank Jacobi, Hans-Ulrich Wittchen und Kollegen, die im Jahr 2014 erschien und in die offizielle "Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland" einfloss, verwendet eine Variante von Kesslers WHO-Fragebogen.

In der Publikation heißt es, die Interviews seien durch "klinisch geschulte Interviewer geführt" (S. 78) worden, zum Teil auch nur telefonisch. Das kann natürlich viel bedeuten. Die Professoren Jacobi und Wittchen werden aber wohl nur wenige der über 7000 Befragten selbst besucht haben, wenn überhaupt.

Martin Dornes erweckt jedenfalls mit seinen Behauptungen nicht gerade den Eindruck, die Methodologie der von ihm verabsolutierten epidemiologischen Studien gut durchdrungen zu haben. Wie bereits aufgezeigt, fällt mit der Belastbarkeit dieser Befunde auch sein Argument in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

Steigender Medikamentenkonsum

Der Autor diskutiert auch die drastisch angestiegenen Verschreibungszahlen etwa von Antidepressiva oder Psychostimulanzien wie Amphetamin und Methylphenidat, die häufig bei Aufmerksamkeitsstörungen verschrieben werden. "Die Wirksamkeit bei mittelschweren und schweren Depressionen steht" für Dornes dabei "außer Frage" (Position 1099 im eBook). Da hat er aber die kritische Literatur der letzten 15 Jahre nicht zur Kenntnis genommen ("Größtenteils nutzlos und potenziell schädlich").

Dass Antidepressiva gar nicht spezifisch antidepressiv wirken, sieht man schon daran, dass diese Mittel auch häufig bei Angst-, Ess- oder Zwangsstörungen verschrieben werden. Trotz größter Bemühungen kommt der psychiatrische Mainstream nur mit durch finanzielle Verstrickungen verzerrten Studien auf einen mäßig statistisch signifikanten Effekt bei der Behandlung von Depressionen, der unterhalb der klinischen Relevanz liegt. Auch wenn die Mittel im Einzelfall helfen können, dürften sie für die meisten Patienten Placebo-Pillen sein ("Bei rund 90% wirken Antidepressiva nicht besser als Placebo").

Durchhaltepillen

Und wenn wir schon bei Gesellschaftskritik und Depressionen sind, dann sollte man sich vor Augen führen, wie standardisierte Tests für die Wirksamkeit von Antidepressiva funktionieren: Im Tierversuch werden gerne der Forced-Swimming- oder der Tail-Suspension-Test verwendet. Beim ersten misst ein Computer, wie lange eine Maus schwimmt, wenn man sie in einen Behälter wirft, aus dem sie nicht herauskommt; beim zweiten wird sie schlicht am Schwanz aufgehängt und gemessen, wie lange sie zappelt.

Was für eine Metapher wäre das, wenn man das auf den Menschen der heutigen Zeit überträgt! Antidepressiva ermöglichten es ihm dann, in einer aussichtslosen Lage länger durchzuhalten. In einer Konkurrenzsituation, in der man etwa wegen einer schlechten Ausgangslage wie einer unvorteilhaften Geburt oder dem falschen Äußeren von vorneherein benachteiligt ist, könnten solche Mittel durchaus helfen.

Jedenfalls gilt das dann, wenn man "Hilfe" hier rein utilitaristisch versteht. Denn wie der Reichtumsforscher Rainer Zitelmann hier schon einmal im Interview formulierte, hat im Wettkampf schon verloren, wer aufgibt ("Für mich ist 'neoliberal' ein Ehrentitel").

Beispiel Psychostimulanzien

Dass auch Psychostimulanzien unter Leistungsdruck helfen können, hat sich seit fast 100 Jahren herumgesprochen. Wie zurzeit Studierende in den USA die stressigen College-Jahre damit bewältigen wollen oder Leistungssportler mit einer ADHS-Diagnose das Doping-Verbot für Amphetamin ("Speed") umgehen, ist in der Netflix-Dokumentation "Take Your Pills" gut dargestellt.

In den USA ist die Produktion der Psychostimulanzien in den jüngsten Jahren nach jahrzehntelangem Anstieg erstmals zurückgegangen. Wer will, kann darin einen Zusammenhang mit der Finanzkrise sehen. In jedem Fall ist hinreichend belegt, wie Psychopharmaka in verschiedenen Zeiten bestimmte psychosoziale Bedürfnisse befriedigen.

Der unstrittige Befund, dass man etwa in den USA in den frühen 1990ern noch mit jährlich 140 Tonnen(!) weniger Amphetamin und Methylphenidat ("Ritalin") auskam als etwa 2014, ist eine Anomalie, die man erst einmal erklären muss. Der Hinweis auf epidemiologische Studien, die keine Veränderung feststellen, macht diese nur unglaubwürdiger. Beim Anstieg der Antidepressiva handelt es sich um ein ähnliches Muster.

Die Produktionszahlen der Psychostimulanzien Amphetamin (rot) und Methylphenidat ("Ritalin", blau) zeigen in den USA bis ins Jahr 2014 einen drastischen Anstieg. Dort werden mehr dieser Mittel verbraucht als im ganzen Rest der Welt zusammen. In den jüngsten Jahren fiel die Produktion aber auch wieder stark.