Proteste an US-Universitäten: Die Sehnsucht, zu hassen

"Gaza-Solidaritätscamp" an der Columbia-Universität, April 2024. Bild: عباد ديرانية / CC0 1.0 Deed

Zu den antisemitischen Ausschreitungen: Wiederholen sich die 1930er-Jahre? Für unseren Autor gibt es klare rote Linien. Kommentar.

"Enjoy your free speech", "Genießen Sie Ihre Redefreiheit", sagte Mike Johnson, republikanischer Mehrheitsführer im US-Kongress, zu den Studenten.

Hört auf, dies einen "friedlichen Protest" zu nennen. Die Protestierenden drohten uns zu töten. Sie sagten uns "geht zurück nach Deutschland". Sie sangen "all of Palestine is Arab". Sie riefen nach einer Intifada.

Aufschrift auf einem Plakat

Diese Aufschrift auf einem Plakat, das eine jüdische Studentin der New Yorker Columbia University in der vergangenen Woche in den Händen hielt und das in mehreren CNN-Reportagen zum 26. April zu sehen war, beschreibt klarer und unzweideutiger als es die meisten journalistischen Berichte oder Kommentare es können, was derzeit an vielen Universitäten in den Vereinigten Staaten los ist. Das Fazit am Ende des Plakats:

Wenn ihr keine militarisierte Antwort wollt, dann beendet den Antisemitismus.

Über-sensibel, außer für Juden

An den US-Universitäten herrscht der Hass gegen Juden. Offene oder verklausierte Mordaufrufe sind an der Tagesordnung. Etwa jener maskierte Student, der in New York vor einer Gruppe von Studenten, die die israelische Flagge schwenkten posierte und sich dabei filmen ließ, wie er ein Poster schwang mit der Aufschrift "Al-qassams next targets" ("Al-Qassams nächste Ziele") – gemeint sind die Qassam-Brigaden –, also übersetzt: "Die nächsten Opfer der Hamas".

Dies ist ein offener Mordaufruf, ähnlich wie die gerne skandierten Parolen:

"Al-Qassam, make us proud, take another soldier out" ("Al-Qassam, mach uns stolz, schalte einen weiteren Soldaten aus")

oder

"We say justice, you say how? Burn Tel Aviv to the ground" ("Wir sagen Gerechtigkeit, Sie fragen wie? Brennt Tel Aviv bis auf den Grund nieder")

oder

"Go Hamas, we love you. We support your rockets too" ("Los Hamas, wir lieben euch. Wir unterstützen auch eure Raketen").

Ausgerechnet die sonst so sensiblen, "woken" US-Studenten, die in jeder Hinsicht gegen sogenannte Hassreden sind und hochempfindlich reagieren, wenn es um Indianer geht, um Schwarze, um N- und Z-Worte, um sogenannte weiße Privilegien, die sind auf einmal überhaupt nicht empfindlich, wenn es Antisemitismus betrifft.

Die gleichen, die lautstark einen angeblichen "Genozid" an den Arabern in Gaza beklagen, üben sich fortwährend selbst in der genozidalen Rede "From the river to the sea".

Täterschutz statt Opferschutz – Wiederholen sich die 1930er-Jahre?

Wiederholt sich gerade in den USA, was in den deutschen Universitäten Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre passiert ist?

Im Zusammenhang mit den Protesten am Geschehen in Gaza redet niemand unter den studentischen Protestlern davon, was mit den Juden im 20. Jahrhundert geschehen ist. Niemand redet von der Gründungsakte Israels, niemand redet von den Opfern des 7. Oktobers und den weiterhin entführten Geiseln. Niemand redet von den Raketen, die tagtäglich auf Israel einprasseln.

Die aggressiven Anwürfe gegen Juden eskalierten ausgerechnet zum Pessach-Fest, wie Erica Zingher in der taz bemerkte:

Ach, es muss schon schwer sein in diesen Tagen, ein antiisraelischer Demonstrant an einer US-Eliteuniversität zu sein. Da will man doch nur gegen den Krieg in Gaza, gegen Israel und die Politik von US-Präsident Joe Biden demonstrieren – und, oops, hat man noch ein paar Juden beleidigt, ihnen den Tod gewünscht und sich als Freund der Hamas und anderer Terrorgruppen präsentiert.

Als friedlicher Demonstrant kann einem schon mal so etwas wie Folgendes herausrutschen: "Legt Tel Aviv in Schutt und Asche!", "Geht zurück nach Polen!", "Ihr habt keine Kultur; alles, was ihr tut, ist kolonisieren!" (...)

Viele jüdische Studierende bleiben in der Folge dem Campus fern. An der Lehre sollen sie digital teilnehmen, weil sie schließlich bedroht sind. Mal wieder sind es die Juden selbst, die Betroffenen, die gehen müssen. Man lagert sie aus. Oder anders ausgedrückt: Es ist das Einknicken vor der Gewalt, vor dem Antisemitismus der Schreihälse. Täterschutz statt Opferschutz. Wenn es an einer Eliteuniversität weniger gefährlich ist, Judenhass über den Campus zu schreien und Terror zu beklatschen, als erkennbar als Jude auf diesem Campus zu existieren, dann läuft etwas falsch, verschiebt sich eine Grenze.

Die Protestierenden empfinden nicht einmal mehr Angst oder Hemmungen, ihre Faszination und Sympathie für Terror zu zeigen. Sie zeigen ihren Judenhass offen. Obsessiv wirken die Protestierenden, wenn sie ihren Hass jüdischen Studierenden entgegenbrüllen. Wahnhaft, wenn sie ihren Jubel der Hamas gegenüber kundtun. Sie schreien ihre Parolen mit einer existenziellen Verve in die Welt, als hinge ihr eigenes Leben daran. Ihren eigenen Hass projizieren sie auf die Figur des Zionisten (gemeint sind Juden), dem sie wiederum selbst Hass gegen Palästinenser vorwerfen.

Erica Zingher, taz

Der Hass ist längst zum Glaubenssystem geworden, und die Sehnsucht danach zum innigen Wunsch, sich in komplizierten Zeiten wieder in eine Ideologie flüchten zu können, die die Welt vereinfacht und ordnet.

Verzerrte Realitätswahrnehmung unter vielen Studenten

Für die offenkundigen Einseitigkeiten und politisch-kulturellen Verirrungen breiter Teile der US-Studenten gibt es – jenseits der bekannten Beschreibung der Fehler und Verzerrungen postmoderner Ideologien – verschiedene Erklärungsversuche.

Der Bildungsexperte Douglas Belkin macht unter Verweis auf jüngste Forschungen im Wall Street Journal das "Verschwinden eines Sinns für Gemeinschaft" infolge der Pandemie als Hauptursache für eine verzerrte Realitätswahrnehmung unter vielen US-Studenten aus.

Die "College-Studenten von heute sind einsamer, weniger resilient und des-engagierter als ihre Vorgänger-Generationen". Die Universität-Communitys seien sozial fragmentiert, kleiner und viel weniger lebensfroh und dynamisch ("vibrant") als zu Zeiten früherer Generationen, "die Pandemie zerstörte die Psyche einer Generation".

"Die Universitäten sind nicht mehr, was sie mal waren"

Nicholas Lemann beschrieb in The Atlantic bereits vor einiger Zeit, dass das Phänomen der Vereinsamung und sozialen Entfremdung für die ganze US-Gesellschaft gilt:

(…) work absorbs all the energy, community is defined functionally, not longer spatially. It’s a professional peer group rather than a neighborhood.

Die Arbeit absorbiert die ganze Energie des Alltags, Gemeinschaft ist rein funktional definiert, nicht länger räumlich. Sie ist mehr eine professionelle Peer-Group als eine Nachbarschaft.

Nicholas Lemann

CNN-Kommentator Fareed Zakaria beschrieb am vergangenen Wochenende den Wandel an den US-Universitäten seit den Zeiten von Ronald Reagan:

Die Universitäten sind nicht mehr, was sie mal waren. Es gab Debatten es gab produktiven Streit, einen reichen Sinn für Gemeinschaft, Respekt für andere Meinungen. In der letzten Dekade ist das Campusleben kaputt gegangen. Und dann kam Covid.

"Was Israel tut, ist für diese Generation schlechthin das Symbol für das Böse"

Die Universitätsleitungen selbst versuchten hier lange Zeit zu beschwichtigen, und die Natur der Proteste und die Beteiligung der Studenten kleinzureden: Es handle sich um "Agitatoren von außerhalb" argumentierte etwa die Verwaltung der Columbia-Universität.

Journalistische Beobachter sind sich hingegen einig: Wenig Leute sind "Off-Campus", die meisten der Protestierer sind Studenten.

Einer ihrer Sympathisanten, der Columbia-Literatur-Professor und langjährige antiisraelische Aktivist Bruce Robbins, gibt das auf CNN auch offen zu und schwärmte vom "entscheidenden Moment", der ihn offenbar an seine eigene 68er-Jugend erinnert:

Es gab zuerst "Black Lives Matter", dann die Pandemie, und jetzt die unzensierten, nicht beschränkten social-media-Bilder der Zerstörung in Gaza. Darum haben die Studenten Zugang zu Information in einer Weise wie sie es ne hatten. Ich denke, was Israel in Gaza tut ist für diese Generation schlechthin das Symbol für das Böse.

Bruce Robbins

Es gebe das "Gefühl, dass sich da etwas kristallisiert".

Im Übrigen würden die Proteste "von den Mainstream-Medien" falsch dargestellt. Niemand unter den Studenten habe die "Zerstörung ziviler Einrichtungen am 7. Oktober" verteidigt. Von Toten spricht er nicht, und auch die Zerstörung militärischer Einrichtungen durch die Hamas ist für Robbins offenbar ganz in Ordnung?

"Es ist nicht zufällig der jüdische Staat, der immer in den Fokus der Anklagen gerät"

Das sei "untragbar" erwiderte der New York Times-Kolumnist Bret Stephens, ein klassischer Liberaler, ebenfalls auf CNN. Symbol des Bösen seien vielleicht eher Länder wie Sudan, Iran, China und so weiter.

Es sei scheinheilig, in der Kritik am Gebaren von Staaten ausgerechnet Israel herauszustellen. Auch den naheliegenden Verweis darauf, für einen engen US-Alliierten würden andere Maßstäbe gelten, akzeptiert Stephens nicht:

Ich hätte mich gefreut, wenn ich Proteste gesehen hätte, gegen das, was unsere Alliierten, die Türken den Kurden angetan haben, die auch unsere Alliierten sind. Oder wenn ich sonst irgendwelche Proteste gegen irgendetwas sehen würde, was viele unserer Alliierten tun. Es ist nicht zufällig der jüdische Staat, der immer in den Fokus der Anklagen gerät.

Bret Stephens

Doppelstandards für Hassrede

Stephens beklagte:

"Man sieht keine Parolen für Frieden, oder für die Freilassung der Geiseln. Die Studenten protestieren zugunsten einer terroristischen Organisation."

Natürlich sei Meinungsfreiheit ein hohes Gut. Aber was soll mit dem Grundsatz der Meinungsfreiheit hier eigentlich geschützt werden? Es gehe an den Universitäten gar nicht um Redefreiheit, "sondern es geht um doppelte Standards".

Dabei ist Meinungsfreiheit nie grenzenlos:

"Es ist gibt keine Freiheit, andere zu bedrohen. Der Aufruf zu Gewalt und Terror ist nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt."

Um die Infamie der existierenden doppelten Standards in der Wahrnehmung – auch der medialen – der Campus-Proteste deutlich zu machen, gab Stephens ein schwer von der Hand zu weisendes Beispiel:

Stellen wir uns doch einmal einfach vor, eine Gruppe von weißen männlichen Studenten würde irgendwo im Mittleren Westen für "White Supremacy" ("Vormacht der Weißen") marschieren, würde eine "christliche Universität" fordern, aggressive Parolen gegen Andersdenkende skandieren – und sie würden sagen: "die schwarzen Studenten haben hier nichts zu suchen und die Frauen haben hier auch nichts zu suchen". Ich glaube nicht, dass wir auf diese weißen Studenten blicken würden und leidenschaftlich ihre Redefreiheit verteidigen.

Bret Stephens

Ähnliche Zustände müssen in Deutschland verhindert werden

Die Debatte in den USA zeigt den unverhüllten Kern der angeblichen oder im Fall von mancher vermeintlichen Palästina/Araber-Solidarität auch in Deutschland.

Die US-Zustände können wie vieles Identitätspolitische zuvor – allgemeine "Wokeness", Postkolonialismus, ideologisch verengte Gender-Studies – aus den USA in ähnlich primitiver Form nach Europa überschwappen.

Es muss daher unser gemeinsames Interesse sein, dass solche Zustände in Europa und besonders in Deutschland vermieden werden. Das kann nur funktionieren, wenn es gelingt, dass sich die rechtsstaatlich orientierten, antiidentitären Teile der Linken mit der breiten Mitte der Gesellschaft und den liberalkonservativen Teilen der Union verbünden.