Die EU funktioniert auch ohne "Europa"

Ein Blick auf unsere Nachbarn

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Europa - das klingt inzwischen nach Krise und Unzufriedenheit. Dabei haben die EU-28-Staaten mit etwas über 11 Billionen Euro erheblich weniger Schulden als die Vereinigten Staaten von Amerika. In den meisten europäischen Ländern leben die Menschen friedlich in intakter Umwelt zusammen. Trotzdem gärt es scheinbar allerorten. Protestparteien treiben die Regierenden vor sich her. Die Medien sehen Europa in einer Dauerkrise. Eine "europäische" Identität gibt es bis heute nicht. Was ist los im reichsten Teil der Welt? Ein kleiner Streifzug durch die Schweiz, Frankreich, Deutschland und Italien.

Schweiz: Rechts und links vereint gegen Lohndumping

Mit einer winzigen Mehrheit von nur 20.000 Stimmen haben die Schweizer ihre Befürchtung artikuliert, Einwanderer aus der EU könnten ihnen durch Lohndumping ihren saturierten Wohlstand streitig machen. Diese Befürchtung ist durchaus berechtigt, denn die EU verfolgt mit ihrer Politik der "Deregulierung" von Zuwanderung und Wettbewerb das Ziel, die Löhne und Preise europaweit zu minimieren. Dies kommt in erster Linie internationalen Konzernen entgegen, die gerne mit rumänischen Löhnen zu Schweizer Preisen in Europa wirtschaften möchten.

Was kaum jemand in Deutschland weiß: Der knappe Sieg stammt aus dem Kanton Tessin, wo 68,2 Prozent der Tessiner für die Initiative stimmten. 60.000 Pendler strömen dort täglich aus Italien nach Ticino und drücken die Löhne. Selbst linke Gewerkschaftler sind deshalb im Tessin für eine Beschränkung. Das wäre so, wie wenn täglich 2,5 Millionen Tschechen nach Bayern pendelten, vergleicht Wolfgang Koydl, Schweiz-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung.

Die Schweizer sind bereits deshalb kaum fremden- oder ausländerfeindlich, weil in der Schweiz derartig unterschiedliche Kulturen und Sprachen nebeneinander leben, dass die Initiative selbst im urschwyzerischen Kanton Zürich keine Mehrheit fand.

Die Schweiz ist selbst eine Kleinausgabe eines vereinten Europa. An der EU-Außengrenze geht es weitaus strikter zu als an der durch Schengen offenen Grenze zur Schweiz.

Frankreich: Hauptsache keine Unisex-Erziehung!

Inmitten von Schulden- und Einwandererdiskussion bewahren unsere Nachbarn heitere Gelassenheit. Nicht die EU-Politik, die Erlaubnis zur Ehe für Homosexuelle trieb bis zu eine Million Franzosen auf die Straßen.

Als Land mit der höchsten Geburtenrate aller Eurostaaten und mit einer Lohnsteuerbefreiung ab dem 3. Kind, als Land, in dem berufstätige Mütter bereits seit Jahrzehnten ganz selbstverständlich ihre Kinder von sieben bis sieben in Schule und Betreuung geben, ziehen die meisten Franzosen ihre Identität aus der Familie.

Deshalb interessieren sie sich auch so für das in der Regel aufregende Liebesleben ihrer Präsidenten, für die seit jeher gilt: Ohne eine oder mehrere Geliebte ist man in Frankreich nicht präsidiabel.

Den Leitartikler von Le Monde bewegen nicht NSA, Zuwanderung, Krieg in Zentralafrika oder Arbeitslosigkeit, sondern die Frage, ob in der sexuellen Erziehung der Kinder in der Schule die geschlechtliche Identität selbst in Frage gestellt werden soll. Die "Gender"-Politik ist Aufreger Nummer eins der Franzosen - eine originelle Besonderheit, die zeigt, wie unwichtig die Angst vor Zuwanderung sein kann, wenn man andere Ängste hat.

Dass Menschen, die in Deutschland und der Schweiz noch als "Migranten" bezeichnet werden, in Frankreich und Großbritannien bereits Franzosen und Briten sind, hat historische Gründe. In der Ablehnung einer die Geschlechterunterschiede leugnenden Erziehung sind sich allerdings in Frankreich alle Völkergruppen einig.

Deutschland: Suizidal gegen das, was einem am meisten nützt

In keinem Land Europas ist die Aufregung über die Schweizer Abstimmung über die Beschränkung der Zuwanderung aus EU-Ländern stärker. Gerade wurden mit Uli Hoeneß, Kulturstaatssekretär André Schmitz und Alice Schwarzer wieder prominente Steuersünder an den Pranger gestellt, die ihr Vermögen gerne in die Schweiz brachten.

Dass trotz der Niederlassungsfreiheit für EU-Bürger kaum einer der deutschen Steuersünder in die Schweiz zieht, erstaunt nicht, muss man doch in der Schweiz nicht nur Vermögenssteuer entrichten, sondern die Vermögenseinkünfte unterliegen auch der gesetzlichen Sozialversicherung.

Seit Steinbrück die Kavallerie in die Schweiz schicken wollte, sieht die Mehrheit der Deutschen die Schweiz als Deutschland schädigendes Steuerparadies an.

Dass es ausgerechnet in Deutschland, das als größtes europäisches Handels- und Exportland am meisten vom Euro profitiert, vermutlich sogar eine Mehrheit gibt, die für einen Ausstieg aus dem Euro plädiert, verlangt nach Erklärung. Eine, zugegeben sarkastische: Ein Land, das sich bereits 1914 und 1939 ohne besondere Not oder Angriffe von außen durch einen sinnlosen Krieg selbst vernichtet hat, könnte auch die friedliche Funktion und den Nutzen der Europäischen Union in einem Rausch irrationaler Identitätssuche übersehen.

Ein Glück, dass die deutschen Eliten in Politik und Wirtschaft die deutschen Bürger nicht über Zuwanderung, Euro und Rettungsschirme abstimmen lassen!

Italien: Erfolg mit 59 Jahren "Brutto"-Gejammer

Mit 5 Milliarden Euro Netto stützte Italien 2012 die Europäische Gemeinschaft - und das bei einem Rückgang der Wirtschaftsleistung von 2,2 Prozent. Anstatt beim europäischen Rettungsschirm zu betteln, kaufen die Italiener in unvorstellbarem Umfang ihre eigenen Staatsanleihen, sind also überwiegend bei sich selbst verschuldet. Das Ergebnis: Die Zinsen unserer hochverschuldeten Nachbarn bewegen sich mit 3,67 Prozent fast auf einem historischen Tiefpunkt.

Italien kennt seit 1945 nichts anderes als ständig wechselnde Regierungen, und das andauernd gestöhnte "Brutto!", mit dem Italiener von jeher den Zustand ihrer Regierung und Wirtschaft als nicht endend wollende Katastrophe bezeichnen.

Fast stoisch halten die Italiener der EU, aber auch Österreich, Frankreich, der Schweiz und Deutschland die Treue, obwohl diese traditionell den Italienern "südliche" Mentalität unterstellen. Die einst durch die "Lega Nord" geforderte Trennung von Nord- und Süditalien mit dem neuen Freistaat "Padania" ist längst vom Tisch. Viele italienische Regionen sind so wohlhabend wie Schweizer Kantone oder bayerische Landkreise. Von keiner italienischen Regierung ist ein Angriff auf die EU, den Euro oder die Freizügigkeit bei der Zuwanderung innerhalb der EU zu erwarten.

Der andauernde Erfolg von Italien zeigt stattdessen, dass ein Land auch ganz ohne stabile Regierung und mit begrenzten Verwaltungsressourcen hervorragend leben und wirtschaften kann.

Fazit: Die EU funktioniert auch ohne "Europa"

Keiner der drei wichtigsten Eurostaaten Deutschland, Frankreich und Italien hat ein Interesse daran, die EU-28 in Frage zu stellen oder gar die Schweiz zum Beitritt zu zwingen. Zu viele einflussreiche Bürger dieser drei Staaten haben ihr Geld selbst in der Schweiz angelegt und profitieren vom Waren- und Personalaustausch mit der Schweiz.

Dass eine "europäische" Identität, ein europäischer Verfassungspatriotismus gar fehlt, stellt für niemanden ein Problem dar. Die Unterschiedlichkeit der Aufreger in den hier betrachteten vier Ländern zeigt, dass Euro und EU selbst keine Emotionen wecken - weder negative, noch positive. Die EU und der Euro funktionieren als Verwaltungseinheiten, nicht als Subjekte politischer Gestaltung oder gar als Träger der Hoffnung sozialer und politischer Utopien. Die EU funktioniert auch ganz ohne Europa.