Die "Eine Menschheit"

Seite 2: Prophetische Kritik: Imperien bringen eine zerrissene Menschheit hervor

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Das zentrale biblische Bild einer zerrissenen Menschheit befindet sich im 1. Buch Mose 11,1-9: "Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reicht." Im Hintergrund der Geschichte stehen die Großreiche, die sich imperial "einen Namen machen wollen".

Das Prophetenbuch Jesaja lässt die Herrscher dieser Reiche exemplarisch so zu Wort kommen: "Ich habe die Grenzen der Länder anders gesetzt und ihre Schätze geraubt und wie ein Stier die Bewohner zu Boden gestoßen. Meine Hand hat gefunden den Reichtum der Völker wie ein Vogelnest, und ich habe alle Länder zusammengerafft, wie man Eier sammelt, die verlassen sind; kein Flügel regte sich, und kein Schnabel sperrte sich auf und zirpte".

Die Einheitssprache von Babel ist keine Weltsprache zur Verständigung, sondern in Wirklichkeit globales Instrument für einen Weltmarkt, durch den sich das Babelreich ohne großes Federlesen bereichert. Es geht um jenen lügnerischen "Reichtum", der "seinen Rachen aufsperrt wie die Unterwelt und unersättlich ist wie der Tod", der "alle Völker zusammentreibt und alle Nationen um sich vereinigt" (Habakuk 2,5).

Das Babelprojekt der Zivilisation wächst nicht in der Horizontalen einer solidarischen Menschenfamilie. Stets geht seine Richtung vertikal in die erdferne Höhe eines alles dominierenden Imperiums, das die gesamte Völkerwelt überragt und auf dem Rücken von Sklavenkolonnen fußt.

Paradoxer Weise ist es gerade dieser Versuch, alle Welt unter dem Code einer - ökonomisch (!) angetriebenen - Einheitskultur zu vereinen, der die Völkerwelt verwirrt, die Menschheit entzweit und eine mögliche Sprache der Verständigung aller Menschen unmöglich macht! "Babel" steht für einen gewalttätigen Zivilisationstypus, der auf Konkurrenz, Beherrschung und Verschuldungskreisläufen aufbaut nicht auf Kooperation.

Am Ende dieses Weges werden Mauern in den Himmel wachsen, mit denen die Reichen auf dem Globus sich vor den Armen "schützen" und ihrem gefügigen Fußvolk weismachen, "da draußen" lauerten potentielle Eindringlinge ohne Anspruch auf Bürgerrecht, die nicht zur Familie gehörten.

Christlicher Nonkonformismus im Römischen Reich

Eingedenk der prophetischen Kritik aus Israel verweigern sich die frühen Christen in den ersten drei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung noch der Teilnahme am imperialen System "Mammon - Macht - Militär".

Das vom Römischen Reich betriebene Globalisierungsprogramm gilt ihnen als ein teuflisches Plagiat. Sie selbst stehen ein für ein Naherücken des ganzen bewohnten Erdkreises (Oikumene) unter dem Vorzeichen einer Globalisierung von Geschwisterlichkeit, was ihnen den Vorwurf einbringen kann, vaterlandslose Verräter zu sein.

Die biblisch und philosophisch untermauerte Anschauung von der Einen Menschheitsfamilie ist verbunden mit der Suche nach einem übergeordneten Standort der Weltbetrachtung: "Wir unterscheiden Stämme und Nationen; aber für Gott ist diese ganze Welt ein Haus." (Minucius Felix, um 200 n. Chr.)

Lactantius formuliert auf dieser Grundlage das unteilbare Menschenrecht: "Niemand ist Knecht und keiner ein Herr. Mit gleichem Recht sind wir alle Freie." Er kritisiert noch kurz vor dem Siegeszug des Imperators Konstantin die vaterländischen Kriegsunternehmungen als schändliche Attacke auf die Verbundenheit der menschlichen Weltgesellschaft. Das Bekenntnis zur "Einen Menschheit" ist in der vorkonstantinischen Kirche keine weltbürgerliche Schwärmerei.

Fremden Reisenden, Flüchtlingen und Notleidenden außerhalb der eigenen Gruppe ist Hilfe zu gewähren. Die Theologen der Christus-Religion schreiben mit höchstem Ernst von einer neuen Welt, in der die Menschheit das Mordprogramm "Krieg" nicht mehr kennt. Es gebe bereits eine Vorhut, die jeglichem Waffendienst entsagt.

Nach dem Einsetzen der staatskirchlichen Korruption, in welcher die Kirchenleitung zur Seite der Macht wechselt und u.a. eine Kleriker-Selbstanbetung etabliert, hält freilich nur noch eine Minderheit an diesem Weg fest. Das "christliche" Mittelalter folgt bis hin zum Ende des Feudalismus sogar der antibiblischen Irrlehre, es gebe so etwas wie einen vererbbaren Blut-Adel.

Älter als die "Arier-Nachweise" sind die über mindestens 23 Generationen geführten Stammbäume der waffenerprobten Adels-Kaste, deren wahnhafter Kult ja heute noch immer nicht gesellschaftlich geächtet ist.

"Jeder einzelne Mensch trägt die Menschheit in sich"

Die Philosophie eines Meister Eckhart († 1328) hätte einen anderen Weg weisen können. Sie klingt an manchen Stellen noch wie ein moralischer Appell: "Du sollst alle Menschen gleich wie dich lieben und gleich achten und halten; was einem andern geschieht, sei’s bös oder gut, das soll für dich so sein, als ob es dir geschehe!"

Genau besehen erfolgen jedoch Selbstannahme und Annahme der universalen Menschheit im gleichen Atemzug: "Hast du dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selbst." In der Selbstannahme findet der Mensch zu einer umfassenden Verbundenheit, "so dass er dem Menschen, der jenseits des Meeres ist, den er mit Augen nie gesehen hat, eben so wohl Gutes gönne wie dem Menschen, der bei ihm ist und sein vertrauter Freund ist."

Viel später wird Erich Fromm formulieren: "Jeder einzelne Mensch trägt die Menschheit in sich. Die conditio humana ist eine und dieselbe für alle Menschen …". Die Fähigkeit zur Verbundenheit untereinander hängt in psychologischer - bzw. sozialpsychologischer - Sicht davon ab, ob die eigene Bedürftigkeit und Verwundbarkeit angstfrei wahrgenommen werden können.

Repressive und menschenverachtende Verhältnisse in Lebensgeschichte und Gesellschaft beschädigen unsere Befähigung zu Selbstannahme und Verbundenheit. Moralpredigten oder philosophische Lehren sagen also noch nichts darüber aus, ob die "Eine Menschheit" auch zur bestimmenden Wirklichkeit werden kann. Wo Kindern ein Weg zu Lebendigkeit und wirklicher Selbstliebe eröffnet wird, sind alle grundlegenden Vorrausetzungen für das Zusammenleben in kleinen wie in großen Räumen gegeben.

Eine Zivilisation der Ungeliebten mündet hingegen stets in freudlosen Hass-Komplexen und dem uniformierten Gleichschritt von Todesschwadronen. Das Grinsen der Freudlosen stellt sich auf vielen Bildschirmen wieder zur Schau. Zurückzugewinnen ist also die einfache Erkenntnis, dass Freude eine bedeutsame Kategorie des Politischen ist.

Bartolomé de Las Casas: "Es gibt nur ein einziges Menschengeschlecht!"

Über die Begegnung mit den geschundenen Menschengeschwistern auf dem amerikanischen Kontinent erschließt sich zwei Jahrhunderte nach Meister Eckart die Einheit der menschlichen Familie für Bartolomé de Las Casas (1484/85-1566). Ein Wort der Bibel wird ihm zum Gerichtsspruch über die europäischen Konquistadoren, die er als "öffentliche Feinde der Menschheit" bezeichnet:

Den Nächsten mordet, wer ihm den Unterhalt nimmt, Blut vergießt, wer dem Arbeiter den Lohn vorenthält.

Jesus Sirach 34,26-27

Der Bischof hatte sich als vormaliger Soldat im Dienst der spanischen Eroberer selbst mitschuldig gemacht an Unterdrückung und Versklavung der Indios, deren Menschenrechte er später so entschieden verteidigt:

Es gibt nur ein einziges Menschengeschlecht!

Der frühe "Internationalist" Las Casas wendet sich lange vor Karl Marx gegen Verhältnisse, "in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". Die von ihm beklagten Verbrechen sind leider erst der Anfang jener endlosen Kette von Menschenverachtung und Völkermord, die der Imperialismus der Neuzeit noch hervorbringen wird.