Die Einführung der Banalität

Schweigen und Skepsis begrüßten ICANNs "Verfahren" für neue Top Level Domains

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Nach jahrelangen, heftigen Kämpfen um das System der Domainnamen würde man erwarten, dass die Ankündigung neuer Top Level Domains (TLDs) weltweit wie die Wiederkunft Jesu Christi verkündet würde. Dem ist nicht so: Am 16. November kam von ICANN genau diese Bekanntmachung, aber sogar unter Anhängern der Politik der Namen und Zahlen gab es außer vereinzeltem, ziemlich gedämpftem Gähnen kaum eine Reaktion.

Diejenigen Berichte, die über unbeholfene Erklärungen hinausgingen, waren erstaunlich negativ. BBC Online beispielsweise eröffneten ihren Leitartikel in verdrossenem Ton:

"Die neuen Domainnamen im Netz werden möglicherweise wenig zu einer Öffnung des Internet und einer Erweiterung der möglichen Namensauswahl beitragen."

Ein Artikel im australischen ARN.net zitierte einen Analytiker der Gartner-Gruppe:

"Das wurde nicht eingeführt, um einer Durchschnittsfirma das Leben leichter zu machen, absolut nicht... Ich denke, es macht uns das Leben schwerer."

Aus der Ferne lässt sich nur schwer beurteilen, wie gleichgültig die Ankündigung wirklich aufgenommen wurde. Einige Details (zum Beispiel, dass über die neuen TLDs noch immer verhandelt wird, und sie daher nur provisorisch sind) stechen zwar ins Auge, sind aber viel zu spitzfindig: genaues Hinsehen in Hinblick auf Verfahrensweisen war in der Berichterstattung über ICANN seit jeher keine Stärke (man beachte beispielsweise auch diese lange Tirade, die in der sonst so vorsichtigen New Republic veröffentlicht wurde). Andere kleinere Einzelheiten (beispielsweise, dass die TLDs erst in einigen Monaten verfügbar sein werden) scheinen glaubwürdiger, aber nichtsdestotrotz inadäquat.

Sogar das Hauptthema, mit dem der BBC-Artikel eingeleitet wurde, nämlich die Eingeschränktheit der neuen TLDs bis hin zur Belanglosigkeit, überzeugt nicht völlig. Ganz offensichtlich werden die Domains einiger hundert Fluglinien unter .aero oder einiger tausend Museen unter .museum auf dem Domainmarkt nicht einmal als statistisch signifikanter Wert auftauchen. Viel weniger klar dagegen ist, wie die Medienquellen, die für ihre Verstümmelung netzspezifischer Geschichten berühmt sind, eine Spürnase dafür zu entwickeln schienen, dass die Früchte von ICANNs Arbeit zum Großteil vergänglich sind.

Die Erklärung ist wahrscheinlich anderswo zu suchen: im reichen Küstenort Marina Del Rey, Kalifornien, wo am 16. November eine Phalanx von Journalisten Zeugen des "historischen" Spektakels wurde, wie der Vorstand von ICANN unbeholfen an einer ganzen Reihe von Anträgen herumfeilte, bis das Ergebnis einer Erweiterung des Namensraums glich - wie auch immer das aussehen mag. Der Vorstand hatte jedenfalls keine genaue Vorstellung davon, was ja (zumindest theoretisch) genau dem idealen Zustand einer "nicht-hierarchischen", "auf Konsens basierenden" Organisation entspricht.

Allerdings hatte man - und das war unverzeihlich - auch keinen koordinierten Plan oder eine Verfahrensweise, um die Gewinner zu bestimmen; und so schwankten die Diskussionen mit disorientierender Gechwindigkeit zwischen einschläfernden, unausgegorenen Bemerkungen, inhaltsleeren Platitüden und unbedeutenden Vorlieben hin und her. Diesen Haupteindruck hinterließ man, wie die Dot-comer sagen, at the end of the day (letztendlich) bei vielen betäubten Beobachtern des Treffens, einschließlich der Journalisten. Es gab wirklich nicht besonders viel, woüber man schreiben konnte; und mit dem kläglichen Rest riskierte man, sich über triumphale Ankündigungen hinaus in die (von den meisten Redakteuren verbotenen) Mysterien der inneren Machenschaften von ICANN zu verirren.

Glücklicherweise beschrieben einige Journalisten das Verfahren so, wie es sich gebührt, als Farce. Brock Meeks von MCNBC, der anwesend war, verspottete die Prozedur "als bestenfalls launisch" und verglich das Verfahren mit einer Seance, in der der Geist von Walt Disney angerufen wird.

NTKnow, das aus sicherer Entfernung via Webcast dabei war, spöttelte:

".Name"? Es tut mir leid, aber würde man nicht genau solche Top-Level-Domain-Anträge bekommen, wenn man sich auf der Straße einen Siebenjährigen schnappt und ihm befiehlt, entweder einen Vorschlag zu machen oder man verpasst ihm ein blaues Auge? Seltsamerweise schien ICANN für die Abschlussbesprechung am Samstag in LA genau diese Vorgehensweise gewählt zu haben.... (D)ie Wahrheit... war so willkürlich und bizarr wie man es sich nur wünschen konnte...

Unglücklicherweise wird aber das Schweigen der Medien in Bezug auf ICANNs mangelhafte Verfahrensweisen wahrscheinlich dazu führen, ihren Ruf im Rückblick wiederherzustellen und dadurch die Stellung der Organisation noch stärken. Das ist besorgniserregend, wenn man von ICANNs bereits demonstrierter Unfähigkeit ausgeht, ihre Handlungen einzuschränken, ob auf den Auftrag der technischen Koordination, der vom US-Handelsministerium erteilt wurde, oder auch nur auf die eigenen Statuten.

Man nehme beispielsweise die Tatsache, dass ICANNs eigene Statuten (V.1.iii.3b) verlangen, dass jede Maßnahme, die "den Betrieb des Internets oder dritter Parteien wesentlich beeinflusst" - wie zum Beispiel die Anerkennung neuer TLDs - "eine Mehrheit unter den Vorstandsmitgliedern erfordert." Nur zwölf der neunzehn Vorstandsmitglieder von ICANN waren in die Entscheidung über die neuen TLDs direkt involviert. Drei (Eugenio Triana, Geraldine Capdebosq und George Conrades) tauchten einfach nicht auf. Und weitere vier (Robert Blokzijl, Amadeu Abril i Abril, Philip Davidson und Greg Crew) hatten sich in der Angelegenheit enthalten - obwohl Blokzijl und Abril nichtsdestotrotz in die vorangehenden Diskussionen eingriffen. Wie konnte ICANN also den Antrag von Afilias auf eine ".info" mit nur acht Stimmen annehmen? Nun, indem man eine Ad-hoc-Erklärung zur Verfahrensweise abgab, dass die Abstimmung nicht die "übereinstimmende" Meinung des Vorstandes repräsentiere, sondern vielmehr eine "Scheinabstimmung" der Anwesenden sei.

Wenn man bedenkt, dass man drei Abstimmungsrunden brauchte, um zu einem Ergebnis zu kommen, waren sogar diese acht zögerlichen Ja-ahs schon eine Leistung. Der Grund für diese Wiederholung ist beinahe surreal: der Vorstand war sich nicht sicher, worüber man überhaupt abstimmte.

Aus pragmatischen Gründen hat ICANN alle Antragsteller gebeten, in ihren Anträgen alternative TLD Strings anzugeben, was auch passierte; und aus anderen (aber nicht weniger pragmatischen) Gründen verwendete der Vorstand während der Diskussionen eine Kurzbeschreibung, nämliche eine einzelne TLD, um auf jeden Antrag zu verweisen - und zwar den in alphabetischer Reihenfolge ersten String. Die von Afilias bevorzugte TLD war ".web", ".info" und ".site" wurden nur als Alternativen angeführt; aber während eines Großteils der Diskussionen debattierte der Vorstand über ".info". Wie dem auch sei, nach der Scheinabstimmung, die entschied, welche Anträge man annehmen würde, beantragte der Boardsquatter Hans Kraaijenbrink, dass der Vorstand die Vergabe der TLD an eine Registry spezifizieren solle, anstatt diese Entscheidung dem ICANN-Personal zur Verhandlung zu überlassen.

Sein Antrag führte zu einer wirren Diskussion, in der ".web" mehrmals durch ".info" ersetzt wurde, weil einige der Vorstandsmitglieder dachten, es heiße so. Ein anderer Antrag (der auf ".iii"/".per" von Sarnoff/Neuvel, der schon am Vortag immer wieder in den Überlegungen aufgetaucht war, wurde dagegen durch den freien Assoziationsprozess des ICANN-Mitarbeiters und Außenberaters Joe Sims zu Fall gebracht, und zwar ausgehend von der Frage des Strings: ".iii" wäre (laut Mike Roberts, dem ICANN CEO) "unaussprechbar"; ".per" könnte mit dem Ländercode für Peru in Konflikt kommen (ein ISO-Code aus drei Buchstaben, der aber nicht verwendet wird); und Sims zufolge unterschied sich der Antrag wesentlich von dem, was man vorgelegt hatte (eine Beurteilung, die während der Beratungen am Vortag ausdrücklich zurückgewiesen worden war); und außerdem (wieder Sims) wäre es unklug (sprich: mögliche Gründe für eine Klage) vom Vorstand, einige Anträge auf Grund eines Strings abzuweisen und andere anzunehmen, ohne den String genau festzulegen. Der Antrag, der am ersten Tag beträchtliche Unterstützung erfahren hatte, scheiterte also am zweiten Tag, als der Vorstand sich in seinen eigenen mangelnden Verfahrensweisen verhedderte.

Verwirrt? Das ist nicht meine Schuld. Dieser Bericht ist eine genaue Beschreibung der völlig chaotischen Versuche des Vorstandes festzulegen, worüber man denn eigentlich abstimmen solle.

War es eine spezifische TLD, ein scheinbar realisierbarer Antrag oder ein starker Antragsteller? Es gab keinen klaren Konsens und daher widersprüchliche Ergebnisse. War es die mutmaßliche Notwendigkeit einer neuen TLD? Der Vorstand hatte zwar keinerlei quantitative Basis für eine solche Beurteilung, legte sich aber dennoch schon früh auf eine "Sunrise"-Periode fest, in der Inhaber von Markennamen den ersten Zuschlag für die Domains unter den neuen TLDs bekommen würden. Die große Mehrheit der möglichen Antragsteller, die solche Ansprüche nicht geltend machen können, sind in dieser "Sunrise"-Phase ausgeschlossen.

Oder war es die Stabilität der finanziellen Rückendeckung eines Bewerbers? Im Fall des Antrags der Diebold-Corporation mit ihrem Vorschlag für ".cash"/".global"/".secure" wurde die Weigerung, finanzielle Informationen offenzulegen, zu einem entscheidenden Punkt ihrer Ablehnung; in anderen Fällen entschied man im Zweifelsfall zugunsten berüchtigter Risikokapitalgeldgeber.

War es möglich, dass ein innovatives Projekt wie ".geo" von SRI wirklich eine neue TLD "brauchte"? Man war sich nicht sicher; ganz im Gegensatz zu ".pro" konnte ".geo" offensichtlich unter einer Second-level-Domain wie "geo.org" implementiert werden. Oder war es die Angst, dass die Anerkennung einer Telephonie-verwandten TLD die riesigen ausführenden Organe, wie zum Beispiel die International Telecommunications Union(ITU) provozieren könnte? Ja.

War es die Frage, wie sinnvoll es ist, dass eine Registry Inhalte innerhalb einer neuen TLD wie ".kids" reguliert? Wahrscheinlich. Oder war es die translinguistische Anpassungsfähigkeit einer TLD? Nicht im Fall von ".name" (".nom" war eine Alternative), im Fall von ".aero" dagegen sehr wohl. Oder war es nur eine Frage der Ästhetik? Ganz sicher, außer, wenn es genau darum nicht gehen sollte. Sollte der Vorstand eine TLD empfehlen, die sich von der vorgeschlagenen unterschied? Manchmal ja, manchmal nein - aber hier ist trotzdem eine.

Oder war es der Zweifel darüber, wie "demokratisch" die Natur einer TLD ist, welche die Akkreditierung durch eine internationale Organisation benötigt? Im Fall der von der International Confederation of Trade Unions vorgeschlagenen TLD ".union" war die Antwort ja (".union" wurde abgelehnt) - ausgelöst durch einen bizarren historischen Einwand des sich enthaltenden Abril i Abril. Aber im Fall des ultra-elitären ".museum", das vom International Council of Museums und dem J.Paul Getty Trust gesponsert wurde, und des bourgeoisen ".pro" des DotNom-Konsortiums für eingetragene Fachkräfte, gab es nie Fragen in Hinblick auf die Demokratie (und beide wurden angenommen).

Oder war es eine überwältigende Sorge, ob die geographische Verteilung der Registraturen für die angenommenen Anträge aufgeht? Ja (und viele Antragsteller waren erstaunt zu hören, dass, zumindest ICANNs Ansicht nach, Großbritannien und die Schweiz nicht in "Europa" liegen). Und so weiter und so fort, bis zum Erbrechen.

Viele dieser Aspekte könnten in begrenztem Maß eine legitime Basis für die Erwägung einer vorgeschlagenen TLD sein. Zum Beispiel wies die ITU in ihrem Brief an die ICANN ganz richtig (und defensiv) darauf hin, dass man eine Telephonie-verwandte TLD als etwas wahrnehmen könnte, das die Rechte der nationalen Telekommunikationsinfrastruktur direkt verletzt, die wiederum von den meisten Nationen als zentrales Element der Sicherheit und Staatshoheit empfunden wird. Aber die überwältigende Komplexität dieser Fragen, sowohl grundsätzlich als auch in ihren Zusammenhängen, ist nicht überraschend - außer, so scheint es zumindest, für die ICANN selbst. In dieser Hinsicht war die "Verfahrensweise" der ICANN zur Auswahl neuer TLDs - vor allem die Versuche, diese Fragen in wenigen Stunden zu klären - eine unausgegorene und amateurhafte Farce. Christopher Chiu, ein Vertreter der ACLU, wird im Industry Standard mit folgender Bemerkung zitiert:

"Sie versucht ein Schiedsrichter zu sein, traf aber nur willkürliche Entscheidungen."

Es ist ganz und gar nicht offensichtlich, dass überhaupt irgendeine Organisation, wie erfahren und gut besetzt sie auch immer sein mag, bei einem so ambitionierten Unternehmen je Erfolg haben könnte. Tatsächlich gibt es guten Grund anzunehmen, dass es unmöglich ist. Doch die zentrale Prämisse ihrer Existenz, die Tatsache nämlich, dass ICANN die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers ist, plaziert sie in einer astrukturellen Position von erstaunlicher Macht, die ihr erlaubt zu beeinflussen, wie zahllose menschliche Institutionen zusammenlaufen: welche nominellen Bereiche sie bewohnen werden, welche Organisationen diese Bereiche regieren werden und mit welcher Politik sie das tun werden. Der Bedrohung, die das darstellt, muss man keine Böswilligkeit unterstellen, denn wie man gesehen hat, kann Inkompetenz ebenso effektiv sein.

Die Verfahrensweisen der ICANN sind im RealMedia-Format in den Archiven des Harvard Law School's Berkman Center for Internet and Society zugänglich