Die Erlkönigin
Mit Walsers Pseudonym für Reich-Ranicki wird nun allerorten über die nordische Abstammung des Erlkönigs spekuliert, obgleich die Spuren auch in die jüdische Mythologie und auf eine Göttin zurückweisen
Der Erlkönig reitet wieder durch Nacht und Wind und durch die deutschen Medien. "André Ehrl-König" ist das leicht zu enträtselnde Pseudonym für Marcel Reich-Ranicki in Martin Walsers neuem und mit Antisemitismen gespickten Roman "Tod eines Kritikers". Und in den dürren Blättern des Feuilletons säuselt es von Herder, Goethe und "nordischer" Mythologie, aus der die Figur des Erlkönigs angeblich stamme. Alles falsch.
Der Erlkönig treibt auch in der jüdischen Alltagsmythologie sein Unwesen, ist dort aber eine widerborstige Frau. Und die Figur beweist, dass sowohl Christentum als auch Judentum gemeinsamen Wurzeln im weiblichen Götterpantheon Alt-Mesopotamiens haben. Nur die keltischen Druiden wussten noch, wer der Erlkönig wirklich war, kommunizierten aber nur in einen Geheimsprache darüber, deren Entschlüsselung heutigen Kryptologen den Schweiß auf die Stirn treiben würde.
In Goethes Ballade aus dem Jahr 1782 fragte der verängstigte Knabe: "Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron' und Schweif?" Die Macht des Dämons scheint auch Walser fasziniert zu haben. Stephan Ripplinger wirft Walser wohl zu Recht vor, mit der Analogie "Ehrl-König" und Reich-Ranicki dem Juden an sich zauberische und tödliche Machenschaften zu unterstellen - ein klassischer antisemitischer Topos seit dem Mittelalter. Doch warum besitzt der Erlkönig "Krone und Schweif" und warum raubt und tötet er kleine Jungen?
Goethes "Erlkönig" liegt eine von Herder übersetzte dänische Ballade zugrunde - Erlkönigs Tochter. Das dänische Wort heißt "Ellerkonge" (oder "elverkonge") und bedeutet "Elfenkönig". Generationen von Germanisten meinen, Goethe habe sich geirrt und falsch übersetzt. Selbst die Enzyclopedia Britannica und The Oxford English Reference Dictionary behaupteten das. Falsch: Goethe wusste genau, was er schrieb und warum er den Elfenkönig oder "Elbenkönig" zu einem König der Erlen machte.
Die Worte "Ellerkonge" oder Elberich ("rich" bedeutet "König") und Alberich haben dieselbe ethymologische Wurzel. Der Zwerg Alberich ist der König der Unterwelt und taucht schon im deutschen Nationalepos Das Nibelungenlied auf. Die Wurzel "alb" bedeutet ursprünglich "weiß" und bezeichnet die Farbe als auch "die Frucht". Das griechische Wort "alphos" ist der "weiße Aussatz" (lateinisch "albula" - von "albus, "weiß"). Ein ganzes Kapitel des Romans "Moby Dick" von Herbert Melville über die Jagd auf den weißen Wal widmet sich der Frage, warum die Farbe Weiß unheimliche Assoziationen weckt...
Die Götting Alphito
Das ist kein Zufall. Dieses sprachgeschichtliche Indiz verweist auf eine der ältesten Mythen des Mittelmeerraums: die Legende von der unheimlichen Göttin Alphito, der die Gerste geweiht war - "alphiton" bedeutet Gerste. Alphito strafte in vorgriechischer Zeit die, die sie nicht mochte, mit der Hautkrankheit Lepra. Die Worte "Albtraum" und "Albino" (für "weiß") wurden aus dem Namen dieser Göttin abgeleitet - auch der Flussname "Elbe."
Sogar die Bibel berichtet verschlüsselt von Alphito: Im 3. Buch Mose, Vers 10 wird angeordnet, dass derjenige, der vom Aussatz (Lepra) geheilt wurde, einen Scheffel Gerste (im Originaltext: Gerstenmehl, bei Luther wird Semmelmehl daraus) opfern musste - ursprünglich ein Dank an die Göttin, die an der Krankheit Schuld war. Das Albdrücken ist ein Synonym für Nachtmahr, früher auch für Inkubus, also einen Dämonen.
Der römische Schriftsteller Plinius kannte noch das alte Wort "Albion" für die "Britischen Inseln", und der Historiker Nennius, der um 820 vor Christus die Historia Brittonnum veröffentlichte, behauptete, die Bezeichnung "Albion" stammte von "Albina", der Weißen Göttin der griechischen Danaiden, den legendären Vorfahren der Mykener.
Was haben aber die Elfen und die Erle gemeinsam? Der dänische "Ellerkonge" sei in Wahrheit der altenglische Gott Bran, der "König der Erlen", schreibt Robert von Ranke-Graves in "Die Weiße Göttin." Des Rätsels Lösung verbirgt sich in einer uralten walisischen Sage, der Schlacht der Bäume, die von keltischen Druiden und später von Minnesängern mündlich überliefert wurde. Diese Sage schildert in verschlüsselter Form die Eroberung einen Totenstadt auf der Ebene von Salisbury während der Invasion Britanniens durch die Kelten - den Vorfahren der Gallier - in der Eisenzeit. Die Götter der Sieger und Besiegten kämpfen als Bäume gegeneinander. Nur die Eingeweihten konnten Jahrhunderte später den Sinn der Story noch entschlüsseln.
Die keltischen Druiden benutzten dazu ein Fingeralphabet: der Buchstabe F (für "fearn", die Erle) wurde mit der Spitze des Mittelfingers angezeigt, ähnlich wie in der heutigen Taubstummensprache. Julius Cäsar, der Eroberer Britanniens, beklagte sich später darüber, dass die Druiden nichts schriftlich niederlegten, sondern mittels geheimer Zeichen miteinander redeten und dass sie, was weder er noch spätere christliche Missionare verstanden, angeblich griechische Buchstaben verwendeten. Der englische Historiker Edmund Spenser behauptete1596, die englischen Druiden hätten ihre Buchstaben von einem Volk, das vom Mittelmeer über Spanien nach Britannien gekommen sei.
Hinter Alphito verbirgt sich Lilith, die erste Frau Adams
Ein weiteres Indiz dafür, dass die Druiden Mythen und Götter überlieferten, die von Einwanderern aus dem Mittelmeerraum stammten, findet sich in der Romance of Taliesin. Dort tritt Gwion auf, der bekannteste Barde des keltischen Mythos. Seine Gegenspielerin ist die finstere Göttin Cerridwen, die in dreifacher Gestalt erscheint und der der keltische Kupferkessel geweiht ist. Hinter Cerridwen verbirgt sich die altgriechische Göttin Alphito: sie überwacht die Ernte der Gerste und verwandelt sich im Kult in eine weiße, leichenfressende Sau. Das altirische und walisische Wort "cerdd" bedeutet "weiß" oder "Zunahme". Und in der spanischen Sprache und Folklore lebt Alphito alias Cerridwen heute noch weiter: "cerdo" heißt Schwein, und der "Cerdaña" ist der berühmte Gerste- und Getreidetanz der spanischen Pyrenäen.
Nur im französischen Arles hat sich ein Mysterienspiel der dreifachen Todesgöttin erhalten. Es wird Ende Mai unter dem Titel Die drei Marien der Provence gefeiert. Dieses Ritual wurzelt in einer christianisierten Deutung vorchristlicher Grabsteine auf dem Friedhof von Alyscamps in Arles. Albert Dauzat leitet im "Dictionnaire étymologique de la langue française" die Silbe "alys" aus dem gallischen Wort "alisia" ab, das in zahlreichen Ortsnamen vorkommt und in das spanische Wort für Erle - aliso - eingegangen ist.
Die Legende vom männlichen Erlen- und Elfenkönig überliefert daher eine nur noch schemenhafte Erinnerung an eine uralte weibliche weiße und dreifaltige Todesgöttin, die ursprünglich im alten Griechenland beheimatet war und deren Kult über Spanien nach England wanderte, wo Alphito alias Cerridwen ihr Geschlecht wechselte und zu Bran wurde.
Der Mythos berichtet korrekt, dass Bran Kinder in die andere Welt entführt - wie sein Alter Ego Erlkönig. Dass der Erlkönig in Wahrheit eine Frau ist und warum sie Krone und Schweif trägt wie in Goethes Gedicht, weiß auch die jüdische Mythologie. Die griechische Göttin Alphito ist viel älter - und kleine Jungen gestohlen hat sie schon immer. In Wahrheit verbirgt sich hinter Alphito Lilith, nach dem Talmud die erste Frau Adams. Lilith wurde verstoßen, weil sie sich weigerte, Adam zu gehorchen. Weil sie nicht ins Paradies zurückkehren wollte, befahl Jahwe drei Engeln, täglich einhundert ihrer Kinder zu töten. Und deshalb stiehlt sie immer noch neugeborene Babys. Die Göttin hat sich in einen weiblichen Nachtdämon verwandelt. Von Lilith ist der rachedurstige Satz überliefert:
"Know ye not that I have been created for the purpose of weakening and punishing little children, infants and babes. I have power over them from the day they are born until they are eight days old if they are boys."
Lilith habe in der Volksmythologie lange, wirr abstehende Haare und Flügel, berichtet die altehrwürdige Encyclopaedia Judaica. Abbildungen von Lilith, die das beweisen, sind schon aus babylonischer Zeit bekannt.
In Deutschland gibt es nur ein Zeugnis von Lilith. Der jüdische Friedhof in Grebenau am Vogelsberg zeigt ein geflügeltes Wesen mit Menschengesicht. Es handelt sich nicht um den Engel Rasiel, wie dort behauptet wird, sondern um Lilith, deren zweiter Name Meyalleleth im Buch "Sefer Rasiel", einer rabbinischen Überlieferung, erwähnt wird. Dort werden auch die Formeln beschrieben, die Amulette enthalten müssen, um Neugeborene vor der Dämonin zu schützen. Die Krone und der Schweif des Erlkönigs sind eine volkstümliche ikonografische Verballhornung der Haare und der Flügel Liliths.
Das Computerspiel Blade kennt den Charakter "Lilith Meyalleleth". So transportiert nicht nur Literatur, sondern auch moderne Spielkultur im Internet uralte Mythen. Man hätte Recht, wenn man "Lilith Meyalleleth" die "Erlkönigin" nennen würde.