"Die Ermittlung": Auschwitz – Das Unfassbare fassbar machen
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Die Anatomie eines Völkermordes und das Porträt einer Generation. Der bis heute der beste deutsche Film des Jahres. Er trifft auf eine hitzige Debatte.
Sie wollen damit sagen, dass es an jedem einzelnen Bewacher lag / sich gegen die Verhältnisse zu wehren" -– "Eben das wollte ich sagen"
Peter Weiss, "Die Ermittlung"
Der Clou von RP Kahls Peter Weiss’ Verfilmung "Die Ermittlung" ist eigentlich ganz einfach: Der Film zeigt nichts. Und dadurch macht er alles sichtbar.
Ein Prozess, eine Ermittlung der Fakten: Das Theaterstück "Die Ermittlung" von Peter Weiss (1916–1982), ein "Oratorium in elf Gesängen", ist nicht nur eines der erfolgreichsten deutschen Theaterstücke der Nachkriegszeit und ein Schlüsselwerk der deutschen Erinnerungskultur, es ist auch dokumentarische Verdichtung eines Gerichtsverfahrens, das die Bundesrepublik veränderte.
Knapp zwei Jahre dauerte der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965, bei dem, angeschoben von Fritz Bauer, erstmals Deutsche über Deutsche zu Gericht saßen. Peter Weiss verfolgte die Verhandlungen und verdichtete sie zu einem rund vierstündigen Drama in der Tradition des Brechtschen Theaters. Die Angeklagten werden verhört und kommen zu Wort; im Zentrum stehen aber die Zeugenaussagen.
Furchtbare Experimente, Folter, Mord, Bilder im Kopf
Ganz formal betrachtet ist dies ein Gerichtsdrama mit einem Richter, einem Staatsanwalt und einem Verteidiger, die gelegentlich zu Wort kommen, Fragen stellen oder Einwände erheben; die meisten Personen hier aber sind Zeugen, die einzeln ruhig sprechen. Meistens handelt es sich in einer Form um Opfer des Regimes, manche sind auch Täter oder Mittäter des Regimes – sogenannte "Funktionshäftlinge" – und diese Leute erzählen.
Das Ergebnis ist eine verdichtete, oft nicht komplett realistische Sprache – vor allem, weil sie sehr präzis ist, weil sie eine Erzählung, eine Chronik wiedergibt – aber das, was die namenlos bleibenden Figuren da erzählen, ist historische Realität.
Folgt man diesen Ereignissen – zum Beispiel über die Mädchen in Auschwitz, und die Art wie die Ärzte sie behandelt haben, mit ihnen furchtbare Experimente durchgeführt haben, viele getötet haben, "totgespritzt" heißt es – all das wird durch Zeugenaussagen wiedergegeben, auf eine zum Teil sehr plastische Art und Weise, die im Kopf des Zuschauers Bilder entstehen lässt.
Nach zwei Verfilmungen, die bereits 1966 fürs Fernsehen entstanden, hat der Berliner Regisseur RP Kahl, bisher für experimentelle Independent-Filme bekannt, das Stück nun fürs Kino verfilmt – mit über 60 deutschen Schauspielern, darunter Rainer Bock als Richter, Clemens Schick als Ankläger, Bernhard Schütz als Verteidiger, Christiane Paul, Nicolette Krebitz, Barbara Philipp, Karl Markovics und vielen anderen als Zeugen.
Das Ergebnis ist ein Drama, doppelt beklemmend durch seine politische Aktualität wie durch seinen historischen Wahrheitsgehalt.
Ein Film über die Ausreden
Es ist ein Film, in dem es um den ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main geht, den ersten NS-Prozess, bei dem Deutsche über Deutsche zu Gericht saßen – nicht die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs.
Der Prozess endete ziemlich genau zwei Jahrzehnte nach der Kapitulation des Deutschen Reichs.
Deswegen ist dies auch ein Film über den Umgang mit der Ermordung der europäischen Juden in der frühen Bundesrepublik, ein Film über Verdrängung und Verdrängungsverweigerung, über Tonlagen und Wortwahl beim Sprechen über das Unaussprechliche, ein Film über das Verschweigen und das zur-Sprache-bringen.
Und ein Film über die Ausreden:
"Dem Gericht liegen Fahrplananordnungen vor, die von Ihnen unterzeichnet sind."
"Ich habe das vielleicht einmal vertretungsweise unterschreiben müssen."
"War ihnen der Zweck der Transporte bekannt?"
"Nein ich war nicht in die Materie eingeweiht."
"Sie wussten, dass die Züge mit Menschen beladen waren ..."
"Wir erfuhren nur, dass es sich um Umsiedlertransporte handelte, die unter dem Schutz des Reichs standen."
Dem Ernst der Sache gerecht werden
Heutzutage ist Peter Weiss, der den Nationalsozialismus als Emigrant in Schweden überlebte und erst spät nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehrte, ein weitgehend vergessener Autor. Damals, in den Jahren vor 1968 war er in der Mischung aus Nüchternheit und unerbittlichem Engagement sehr en vogue.
Weiss war selbst bei den Auschwitz-Prozessen dabei und hat seine Prozessnotizen und die öffentlichen Protokolle benutzt und mithilfe dieser Aufzeichnungen den zwei Jahre dauernden Prozess auf vier Stunden verdichtet. Seinerzeit war "Die Ermittlung" ein großer Erfolg auf vielen deutschen Bühnen in beiden deutschen Staaten.
Als Film ist dies nun ein nüchternes, kühles, aber zugleich mitreißendes Gerichtsdrama; ein Prozessfilm. Kahl verfilmt das Stück auf filmische Weise und das Ergebnis geht über vermeintlich "einfach abgefilmtes Theater" weit hinaus; der Regisseur macht einen Film, ohne den Text seines Theatercharakters zu berauben.
Die Schauspieler spielen reale Figuren, sagen Worte, die im Prinzip so gesagt worden sind. Deren Grundlage sind Fakten. Dokumentierte Realitäten werden also fiktionalisiert.
Es ist ein Film ohne naturalistische Kostüme. Aber es gibt historische Artefakte: Wir sehen Sonnenbrillen, die Mikrofone, die Anzüge.
Bei dem Ort handelt sich um einen schwarzen Raum, um eine Art Blackbox, durch die die Handlung teilweise abstrahiert wurde, ohne dass sie komplett abstrahiert ist. Das Spiel der Schauspieler ist zwar realistisch, aber nicht naturalistisch. Es reproduziert also nicht eine 1:1-Version der Realität. Anders würde es auch dem Ernst des Themas gar nicht gerecht werden.
Das Multicam-Verfahren, in dem dieses Spiel von acht Kameras parallel aufgenommen wurde, sparte Zeit, um zuvor drei Wochen zu proben. RP Kahl hat jeden der elf Gesänge mit den Kameras in einer Einstellung gedreht, jede Szene wurde durchgespielt.
Eingeleitet werden sie durch Archivmaterial in Form historischer Fotografien: Es sind vier Bilder vom Sonderkommando, die einzigen Bilder aus Auschwitz, die von Häftlingen gemacht und aus dem Lager geschmuggelt wurden: Schlüsselbilder des Widerstands in Auschwitz-Birkenau, die vorwiegend zu dem Zweck gemacht wurden, die verübten Verbrechen zu dokumentieren und die damit der historischen Opferperspektive Raum geben.
Alle anderen bislang bekannten Fotografien aus Auschwitz sind entweder Fotografien von Angehörigen der SS-Wachkommandos (die sogenannten "Auschwitz-Alben", die zum Teil erst 2006 entdeckt wurden) oder zum Teil inszenierte Aufnahmen der sowjetischen Befreiungstruppen, die mehrere Tage nach der Befreiung von Auschwitz entstanden sind.
Die einzelnen Kapitel ("Gesänge") sind durch Luftaufnahmen der US-Amerikaner unterteilt, die 1944 zum Zweck der Aufklärung entstanden. Sie machen die Topografie von Auschwitz sichtbar, lassen dem Zuschauer Raum, "durchzuatmen", sich zu orientieren und sich die Aufnahmen selbst zu erschließen. Zudem setzen diese eindrucksvollen Zwischenbilder genau die angemessenen Kontrapunkte zum übrigen Geschehen.
Für all diese Fotografien, ihre Verwendung und Bearbeitung ist die Künstlerin Stephanie Keitz verantwortlich.
Auschwitz als Entschuldungs- und Entschuldigungsmaschine
Weiss' Stück hat den Untertitel "Oratorium in elf Gesängen". Es wird aber nicht gesungen. Diese sogenannten Gesänge heißen so in der ganz klassischen Bedeutung des erhabenen Sprechens, wie im Nibelungenlied. Es ist ein weiter gefasster Begriff des Liedes, der dem zugrunde liegt, sozusagen eine klassisch-mythische Erzählung.
Dieser Film ist damit weder illustrativ noch einfach verfilmtes Theater. Neben die Worte treten die Gesichter und Körper der Schauspieler. Und die Bilder in unserem Kopf.
Eine Anatomie der Vernichtungsmaschine ist dies auch ein Film über die Gegenwart. Über die Leichtfertigkeit unseres Umgangs mit den Schrecken und Massaker unserer Zeit und über unsere Unfähigkeit zu trauern, die auch eine Unfähigkeit ist, aus Auschwitz für die Zukunft zu lernen.
Das Nachleben der Nazi-Vernichtungsmaschine ist die Entschuldungs- und Entschuldigungsmaschine.
Relevanz ist keine ästhetische Kategorie
Damit ist der unmittelbare Diskurswert dieses Films angesprochen, das, was manche Filmkritiker jetzt die "Relevanz des Films" nennen, obwohl Relevanz keine ästhetische Kategorie ist.
Zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung hat die deutsche Gesellschaft und damit auch dieser Film mit verschiedenen politischen Herausforderungen zu kämpfen: Einer neuen Dimension antisemitischer Ausfälle in den Medien, vor allem den sozialen Medien. Bewusst dagegen setzt sich dieser Film und holt eine Erinnerungskultur auf die große Diskursbühne zurück, die mehr denn je notwendig erscheint.
"Zum Zeitpunkt des Sterbens der letzten historischen Zeugen müssen wir die originale Zeugenschaft ersetzen durch Ersatzzeugen – und da hat der Film eine Funktion und wird noch einiges auslösen", kommentiert dies der Mainzer Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger:
Es ist eigentlich der richtige Film zur richtigen Zeit.
Skandalöse Berlinale-Nichteinladung
Der Film ist von der Berlinale im Februar abgelehnt worden. Angesichts der Premiere des Films am Dienstag vor einer Woche im Berliner Zoopalast, bei der vorwiegend ein normales, breit gefächertes Berliner Filmpublikum anwesend war, ist es eigentlich vollkommen unverständlich, dass ausgerechnet für diesen Film in über 200 Berlinale-Filmen kein Platz war.
Mit der Qualität des Films kann man dies nicht begründen.
Man kann es eigentlich nur damit begründen, dass genau dieser Diskurs von der Berlinale nicht geführt werden wollte. Und im Angesicht des Antisemitismus-Skandals der Berlinale, im Angesicht der Vorgeschichte mit den antisemitischen Ausfällen gerade in Berliner Kulturbetrieb, und der Vorgeschichte der Berlinale, den Wortmeldungen von Berlinale-Mitarbeitern gegen jüdisches Leben auch in Deutschland und gegen jüdische Gäste auf der Berlinale im Vorfeld des Festivals.
Angesichts des Hin und Her über die Einladung von AfD-Mitgliedern zur Berlinale-Eröffnung, im Angesicht des ganzen Ungeschicks der Berlinale-Leitung, ist die Nichteinladung für diesen Film ein Skandal.
Und wenn es nicht schon viele Gründe gegeben hätte, um die Amtszeit des Italieners Carlo Chatrian als künstlerischem Leiter nicht zu verlängern, dann ist allein die Nichteinladung dieses Films Grund genug.
Weil sie von einer totalen Ignoranz gegenüber sowohl der politischen Bedeutung, als auch den ästhetischen Mitteln dieses Films zeugt – ein Berlinale-Leiter, der immer behauptet, die Breite des Kinos und das Experimentelle interessierten ihn, das Ungewöhnliche ist aber nicht in der Lage ist, das Besondere dieses Films zur Kenntnis zu nehmen und zu respektieren ist falsch auf seinem Posten – es war entweder Unwissen oder ist Ignoranz. Und beides ist schlecht.
Diese schonungslose Nüchternheit
Die deutsche Filmkritik zeigt sich diesem Film gegenüber erstaunlich gewachsen. Sogar der Spiegel, was vielleicht aber auch einfach daran liegt, dass mal wieder ein Filmkritiker über einen Film schreiben darf, keine "Korrektheits-Drohne".
Nur Zeit.de verriss den Film, was zwar in Ordnung ist, aber deshalb auffällt, weil in der gedruckten Zeit (die auch online nachlesbar ist) dann gleich zwei Tage später die Gegendarstellung veröffentlicht wird.
Und weil die Überschriften sich direkt widersprechen: "Die Kälte der Sprache" (Online) bekommt den Kontrapunkt "Diese quälend genaue Sprache".
Und weil ausgerechnet der eine Verriss vor sachlichen Fehlern strotzt. In Zeit-Online darf der Theaterkritiker erklären, warum Theater besser sei als Kino – fair enough, handelte es sich nunmal nicht um eine Kinokritik, die nicht Medien gegeneinander ausspielen, sondern einem Medium gerecht werden sollte.
In der gedruckten Zeit heißt es dann dafür:
Bei Kahl kann man hingegen sehen, dass sich sehr wohl im Film über das Grauen, das Undarstellbare sprechen lässt. Man braucht nur diese literarische Präzision, diese schonungslose Nüchternheit, mit der Weiss die Stationen im Lager schildert – von der Rampe bis zu den Feueröfen. ...
In einer Zeit, in der nur noch wenige Zeitzeugen leben, ist das Stück von Peter Weiss selbst zum Zeugnis geworden. Nicht nur für das heute viel beschworene "Nie wieder", sondern auch für einen Willen zur Aufklärung, der sich nicht in moralischer Empörung erschöpft.
Die Verweigerungsgeneration: "Das war Befehl, wir konnten nichts dagegen tun ..."
Dieser Film ist auch das Porträt einer Generation: Der Verweigerungsgeneration der Nachkriegszeit. Männer, die zumindest äußerlich von keinem Zweifel angekratzt sind, sondern selbstbewusst in betont lässiger Haltung im Gerichtssaal sitzen, mit dunkel getönten Sonnenbrillen, die den Blick in ihre Augen unmöglich machen.
Männer, die nie sprachlos sind, und nie um eine Erklärung verlegen, die auf alles eine Antwort haben:
"Das war Befehl, wir konnten nichts dagegen tun ..."
"Ich habe nur getan was ich tun musste ..."
"Ich hatte nur Schreibarbeiten auszuführen ..."
"Ich habe in keinem Falle an Tötungen teilgenommen."
"Das sind Erfindungen!"
"Ich war gegen diese ganze Angelegenheit ..."
"Das weiß ich nicht mehr ..."
"Menschen brennen nicht ..."
"Hier wird meine Ehre angegriffen ..."
"Wir schauen" schreibt Jürgen Kaube jetzt in einem eindrucksvollen Artikel in der FAZ, "also einer im Gerichtssaal hochdisziplinierten Gesellschaft zu, die vom Dramatiker Weiss dazu angehalten wird, von den meisten Emotionen außer der Erschütterung abzusehen. Unterdrückte Tränen sind hier das Äußerste an Mitgenommenheit. Die Angeklagten lachen ab und zu und sind ansonsten beleidigt von dem, was ihnen zugetraut wird - zugetraut, weil sie es getan haben".
Und weiter:
"Die Ermittlung" evoziert als Film negativ, was Hollywood aus diesem Stoff gemacht hätte und wie es versucht hätte, ihn durch Handlungen und Nebenhandlungen zu vermenschlichen. Der Film, das abgefilmte Stück stechen von den polit-pornografischen Darstellungen der Täter in Filmen über die Wannsee-Konferenz, die Stauffenberg-Revolte, den "Untergang" oder die "Zone des Interesses", und was es sonst noch an historischen Tätereinfühlungen gibt, durch die Verweigerung ab, dem Publikum etwas zum Hineinversetzen zu geben.
Jürgen Kaube, FAZ
Kaube hat auch den Mut, Peter Weiss zu widersprechen, der mit seinem Stück die Behauptung illustrieren wollte, die "Rassenlehre" des Nationalsozialismus habe nur den Zusammenhang mit dem Kapitalismus kaschieren sollen. Der Antisemitismus, erklärte Weiss, sei geeignet, "davon abzulenken, dass es sich um einen ökonomischen Kampf handelt". Ausbeutung sei das wichtigste Motiv für die Errichtung der Lager gewesen.
An dieser Stelle widerspricht das Werk seinem Autor. Die Mulkas, Bogers, Kaduks und Klehrs mordeten nicht als Handlanger von Großkonzernen, so sehr diese, die I.G. Farben und Krupp voran, ausgiebig Zwangsarbeiter beschäftigten. Das Stück handelt nicht von Industriekomplexen, sondern von der Hölle, in der jeder seines Mitmenschen Teufel ist.