"Die Ermittlung": Auschwitz – Das Unfassbare fassbar machen

Seite 2: Sich in Auschwitz einfühlen?

Wie erzählt man von Auschwitz? Distanz ist wichtig. Schauspieler können nicht "nachfühlen", wie es ist, nach Auschwitz zu gehen. Das Sujet Auschwitz widerlegt alle Vorstellungen des "method acting", der Vorstellung, dass man "hineinkriechen" könnte in so eine Rolle, sich darin einfühlen könnte, in Auschwitz zu sein.

Statt plumper Identifikation gibt es aber nicht "leeres", "tonloses" Spiel. Sondern es gibt sehr feine emotionale Ausdrucksformen der Schauspieler. Deren Leistung überträgt sich sehr intensiv auf die Leinwand, weil die Kamera sehr nah dran ist, und wir ein extrem scharfes Bild haben, das so jede Regung im Gesicht lesbar macht.

Zu diesem tritt eine dritte Bildebene: die Bewegung der Kameras und der Schnitt. Die Kameras schaffen eine Metaerzählung in der Form, dass zum Beispiel der Name eines Angeklagten fällt und dann die Kamera uns fast unmerklich auf das Gesicht des hier angesprochenen Angeklagten hinführt.

So entsteht eine Dynamik zwischen Tätern und Opfern in diesem Prozessgeschehen.

Und der Film löst die Distanz der Bühne auf, stellt Nähen her, und eine große Intensität.

Der Film vor dem inneren Auge ist der, den wir sehen

Das ist der Effekt auch dieses Films: Der Film hat Bilder, Filmbilder. So ist dies ein Film, der über seine klare aufklärerische, politische Absicht, die auch mit einer Darstellungs-Absicht verbunden ist, indem es darum geht, dem Dargestellten auch ethisch gerecht zu werden, auch ein Film, der der grassierenden Verengung unserer Vorstellung von Kino entgegenwirkt. Dies ist ein Film, der den Raum des Kinos erweitert.

Dieser Film erzählt uns damit auch etwas über das Kino an sich. Er entfaltet die Dialektik von Zeigen und Sehen und vom Nicht-Zeigen und Sehen. Das Ergebnis ist ein Zeigen ohne abzulenken. Kahls "Die Ermittlung" führt vor, dass immer der Film vor dem inneren Auge der ist, den wir sehen. Er führt vor, dass Kino nicht notwendig Emotion und Gefühlsintensität bedeutet, sondern auch Analyse und Gedankenschärfe. Und er zeigt, dass am besten beides zusammenfließt.

Darum ist dies kein Film, der etwas illustriert. Kein Film, der gut ist, weil er wichtig ist, weil er ein wichtiges Thema hat, und für die Gegenwart bedeutend ist. Umgekehrt: Ein Film, der keine Erklärungen liefert, keine "relevanten Themen" abarbeitet.

Das fügt sich, wie ein Kritiker bemerkte, "in eine Entwicklung ein, die in den letzten Jahren verstärkt zu beobachten ist: die Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen jenseits aufgeplusterter Biopics und dokumentarischer Recherchearbeiten, die selten wirklich neue Aspekte hervorzubringen verstehen."

Selma Doborac’ "De Facto", der 2023 den Caligari Filmpreis bekam, stellt hoch eindrucksvoll die Frage, mit welchen ästhetischen Formen man sich überhaupt der Shoah annähren kann und da Unfassbare fassbar machen?

Auch "Zone of Interest", ein Spielfilm mit ähnlich historischem Anspruch, versuchte solche neuen Formen zu finden.

"Die Ermittlung" setzt diese Entwicklungen fort. Dieser Film reißt einen mit, und lässt ganz viele Bilder im Kopf entstehen. Es bleibt immer sehr würdevoll. Ein hochriskanter, sehr mutiger Film – dass das überhaupt finanziert und dann so realisiert wurde, spricht sehr für das deutsche Fernsehen und den deutschen Film.

"Die Ermittlung" ist bis heute der beste deutsche Film des Jahres.