"Die Europäische Kommission hat aktiv zur Krise beigetragen"
Wirtschaftswissenschaftler kritisieren die Deregulierungspolitik der EU und fordern einen Kurswechsel.
Das EuroMemorandum 2008/2009 attestiert der Europäischen Union Systemversagen. Der von linken Wirtschaftswissenschaftlern aus Italien, Ungarn, Deutschland und anderen Ländern gemeinsam herausgegebene Report macht die neoliberale Politik der Kommission mitverantwortlich für die Wirtschaftskrise und schlägt „Alternativen zum finanzmarkt-getriebenen Kapitalismus“ vor. Ihre Counterparts um den ehemaligen IWF-Direktor Jacques de Larosière und den bundesdeutschen Monetaristen Otmar Issing kommen in dem für die EU erstellten Bericht zur Reform der Finanzaufsicht überraschenderweise zu ganz ähnlichen Befunden. Allerdings rät die Gruppe zu einer konservativeren Therapie.
„Europas wirtschaftliche und monetäre Integration ist den politischen Institutionen davongeeilt. Die Ökonomien der europäischen Länder sind so stark miteinander verbunden wie die der US-amerikanischen Bundesstaaten (...). Aber im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten verfügt Europa nicht über Institutionen, die mit der Krise umgehen können“, hat der Wirtschaftswissenschaftler Paul Krugman unlängst festgestellt.
Deshalb gibt es auch kein gesamteuropäisches Krisenmanagement. Das von Kommissionspräsident José Manuel Barroso im November präsentierte gemeinsame Konjunkturpaket bestand im Wesentlichen aus der Addition der nationalen Konjunkturpakete, wobei dann auch noch Länder wie etwa Italien als Summanden ausfielen. Gerade mal fünf Milliarden Euro zusätzlich machte die Union auf ihrem Frühjahrsgipfeltreffen im März locker. Ansonsten mussten ein paar Finanzspritzen für die notleidenden Mitgliedsstaaten Ungarn und Lettland genügen.
Das EuroMemorandum
„Strukturell schwach“ nennt Krugman die EU, was diese lange als ihre eigentliche Stärke begriffen hat. Mit der Lissabon-Strategie wollte die Kommission Europa zum „leichtesten Ort der Welt zum Geschäftemachen“ befördern, und die Rolle der Politik beschränkte sich dabei auf ein „Wir machen den Weg frei“. Nach Meinung der Wirtschaftswissenschaftler der EuroMemorandum-Gruppe hatte das fatale Auswirkungen. „Die Europäische Kommission hat durch ihre besessene Liberalisierungs-, Marktöffnungs- und Deregulierungspolitik aktiv zur Krise in Europa beigetragen“, heißt es im EuroMemorandum 2008/09.
So galt Barroso & Co. in ihrem Bestreben, einen einheitlichen europäischen Finanzmarkt zu schaffen, der Bankplatz England als Vorbild. Staatliche Kreditinstitute wie die bundesdeutschen Stadtsparkassen passten da nicht ins Konzept, weshalb Brüssel Beihilfe-Verfahren eröffnete. Sogar das Hypothekenkredit-Geschäft beabsichtigte man, für Europa zu erschließen. Natürlich völlig losgelöst. „Die Erfahrungen der USA zeigen, dass gesetzliche oder andere Beschränkungen für die geographische Ausdehnung von Banken die Effizienz der Hypothekenbanken vermindern“, befand ein Gutachten von 2005. Der Kapitalverkehrsfreiheitsrausch trieb die Liberalisierungsjunkies sogar zu einem ganz besonderen Vorschlag, nämlich dem, „einen Subprime-Markt zu entwickeln und so das Volumen von Hypothekenkrediten zu erweitern“. Aber glücklicherweise mahlen die Brüsseler Mühlen nur langsam, denn als die „Integration der Hypothekenmärkte“ anstand, gab es diese Märkte bereits nicht mehr, weil in den USA die Immobilienblase geplatzt war. So verschwanden die EU-Pläne letztes Jahr wieder in der Schublade.
Die Europäische Zentralbank (EZB) durfte bei dem bunten Liberalisierungstreiben nur zuschauen, monieren die EuroMemorandler, zu denen unter anderem die bundesdeutschen Wissenschaftler Elmar Altvater, Joachim Bischoff und Frieder Otto Wolf zählen. Sie hatte nur über die Preisstabilität zu wachen und keinerlei Aufsichtspflichten. Als Alexandre Lamfalussy gemeinsam mit anderen Experten in seinem Bericht zur Liberalisierung der Wertpapiermärkte warnte: „Stärkere Integration der Wertpapiermärkte bedeuten mehr grenzüberschreitende Verflechtungen zwischen Finanz-Intermediären, und dies verstärkt ihre Anfälligkeit gegenüber gemeinsamen Schocks“ und „eine dringende Notwendigkeit“ erkannte, steuernd einzugreifen, winkte die EU ab. „Man schlug uns höflich aber bestimmt vor, das Thema fallen zu lassen“, so der frühere Direktor der Bank für internationalen Zahlungsausgleich.
Der Larosière-Report
Der am 25. Februar veröffentlichte Larosière-Report kommt zu einem ähnlichen Befund wie das EuroMemorandum, obwohl die Autoren in Wort und Tat eher als Vertreter der reinen Marktwirtschaftslehre hervortraten. So kann Jacques de Larosière auf Erfahrungen als geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds und Consultant der Investmentbank BNP Paribas zurückblicken, während sein deutscher Kollege Otmar Issing in einem „lockeren Beratungsverhältnis“ zu Goldman Sachs stand, in dem der ehemalige Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank seine angebotstheoretischen Ansichten sicherlich nicht verleugnen musste.
Das hinderte die Gruppe nicht an harschen Urteilen. „Auch wenn Europa die aktuelle Finanzkrise nicht zu verantworten hat, hat es doch zu ihr beigetragen und ist schwer von ihr getroffen“, konstatiert der Bericht. Die Finanzfachleute kritisieren das unkoordinierte Vorgehen der Kommission, das für einige Mitgliedsstaaten unerwünschte Nebenwirkungen habe, und führen es auf eine „inadäquate Krisenmanagement-Infrastruktur“ zurück. Auch die Europäische Zentralbank setzen de Larosière & Co. auf ihre Mängelliste, weil diese streng monetaristisch nur über die Inflationsgefahr wachte. In ihrer Fokussierung auf die Konsumentenpreise hat die EZB alle sonstigen Entwicklungen auf den Geld- und Kreditmärkten aus den Augen verloren, urteilt der Report.
Gerade durch die krisenbedingten Fusionen auf den Finanzmärkten sieht die Arbeitsgruppe die Gefahr von Instabilitäten noch wachsen. Die Konglomerate seien nicht nur „too big to manage“ und „too big to fail“, sondern auch „too big to save“, befürchten die Finanzprofis. Trotz der Marktdominanz dieser Big Player und bestehender Antitrust-Gesetze machen sie sich allerdings nicht allzu viel Hoffnung auf Besserung: „Es ist wenig wahrscheinlich, dass große Finanz-Institutionen in ihre Einzelbestandteile aufgespalten werden.“
Dieser resignative Gestus beherrscht auch die Reformvorschläge der Runde. Obwohl sie nicht glaubt, „dass Regulation all diese Probleme lösen kann“, beschränken sich ihre Empfehlungen neben der Forderung nach mehr Transparenz im Wesenlichen eben darauf. Herzstück ihrer Agenda, die unverzüglicher Umsetzung bedarf - „Work must begin immediately!“ - ist die Einrichtung eines „European Systematic Risk Councils“ (ESRC) unter dem Dach der Europäischen Zentralbank. Dieses soll die bisher von der EZB so sträflich vernachlässigte makro-ökonomische Lage der Dinge analysieren und schnell potenzielle Gefahrenherde identifizieren. Zudem rät der Larosière-Bericht zu einer strengeren Kontrolle der Rating-Agenturen und des „parallelen Banksystems“, also der Investment- und Hedge-Fonds. Derivate und Zertifikate bedürfen ebenso einer intensiveren Überwachung. Die Banken müssen nach Meinung der Sachverständigen für solche Produkte mehr Sicherheiten ausweisen und auch sonst ihre Eigenkapital-Ausstattung verbessern. Darüber hinaus legen sie den Geldhäusern nahe, ihre internen Risiko-Modelle mit externen zu verbinden.
Stimmt die EuroMemorandum-Gruppe in der Analyse der Schwachstellen des Systems weitgehend mit de Larosières Mannen überein, so zieht sie doch weit radikalere Schlussfolgerungen. Ihr Glaube an die Regulierbarkeit des ganzen Kasinobetriebs ist begrenzt. Auch erwarten die Wissenschaftler nicht, dass ein besserer Informationsfluss und mehr Transparenz viel zur Schadensbegrenzung beitragen. Die solchen Ansätzen innewohnende Logik, nach der der homo oeconomicus schon auf den Pfad der Vernunft zurückkehren wird, wenn er erstmal wieder den Wald vor lauter Bäumen sehen kann, teilen die EuroMemorandler offensichtlich nicht.
„Für das Bankensystem reicht es bei weitem nicht aus, die Transparenz zu erhöhen“, schreiben die Ökonomen und treten für eine Verstaatlichung der Banken, ein Verbot von Hedge-Fonds und Schuldverbriefungen, eine Börsenumsatzsteuer sowie für eine Schließung der Off-Shore-Zentren ein. „Entschleunigung“ ist für sie das Gebot der Stunde und Umverteilung ein Mittel dazu, denn die in den letzten Jahren stark gewachsenen privaten Vermögen haben nach ihren Beobachtungen einen immensen Druck auf die Finanzmärkte ausgeübt. Insgesamt plädieren die Forscher dafür, das Bankensystem stärker auf gesamtgesellschaftliche Aufgaben zu verpflichten. So sollte die EZB, statt einseitig nur auf Preisstabilität fixiert zu sein, auch Verantwortung für ausgeglichenes Wachstum, Beschäftigung und stabile Finanzmärkte übernehmen, meinen sie. Dafür müsste Brüssel sich ihrer Ansicht nach allerdings vom „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ lösen.
Bleibt alles anders
Dazu dürfte die EU kaum bereit sein. Eine „flexible Anwendung“ des Stabilitätspaktes - mehr wollte die Kommission im Rahmen ihres Krisenmanagements nicht zugestehen. „Der Stabilitäts- und Wachstumspakt bleibt der Grundpfeiler der Budget-Richtlinien der EU“, bekräftigte der Europäische Rat im Dezember letzten Jahres. So gehen dann auch die Defizit-Verfahren, die im Moment gegen Spanien, Frankreich, Irland und Griechenland laufen, munter weiter ihren juristischen Gang. In die Lissabon-Strategie mit ihrem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsländer zu steigern, muss sich der „Recovery Plan“ ebenfalls einfügen, so der Rat.
Nach Meinung des Bochumer Professors für Öffentliches Recht, Andreas Fisahn, kann die Europäische Union auch gar nicht anders als neoliberal. Während der Kapitalismus es hierzulande nicht zum Verfassungsrang gebracht hat, verpflichten die Verträge von Nizza und Lissabon die Europäische Union auf den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“. Und für den Kapitalverkehr gilt Fisahn zufolge sogar eine Liberalisierungspflicht. Allerdings lässt der Artikel 65 „aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ Ausnahmen zu, worauf das EuroMemorandum jedoch keine allzu großen Hoffnungen setzt. Am Beihilferecht hat der Europäische Rat indessen schon gedreht und den Unterstützungsrahmen für Unternehmen auf 500.000 Euro ausgeweitet, obwohl die EU sonst kein Pardon kennt und beispielsweise der WestLB mit Verweis auf dieses Rechtsinstitut das Leben weiterhin schwer macht.
Ein sozialeres Europa?
Aber in den „Trotz alledem“-Beschwörungen der „Lissabon-Strategie“ und des Stabilitätspakts nebst „flexibler Anwendungen“ drückt sich bereits die leise Ahnung aus, im Angesicht der Weltwirtschaftskrise mit der bisherigen Politik an eine Grenze gestoßen zu sein. Auf der Konferenz „Für ein soziales Europa“, welche die der Linkspartei nahe stehende Rosa-Luxemburg-Stiftung am 21. März in Düsseldorf organisiert hatte, erkannte der bündnisgrüne Europa-Kandidat Sven Giegold dann auch „Chancen jenseits der Verträge“. Annelie Buntenbach vom DGB-Vorstand setzte derweil neben der europa-weiten Großdemonstration der Gewerkschaften im Mai auf die Initiative, eine Verpflichtung zum sozialen Fortschritt in den Lissabon-Vertrag aufzunehmen, um dem Europäischen Gerichtshof, der schon das Streikrecht beschnitt, Mindestlöhne verbot und eine Arbeitszeitrichtlinie mit einer Höchstgrenze von 65 Wochenstunden absegnete, die Rechtsgrundlage zu nehmen.
Euroskeptizismus ward in Düsseldorf derweil nicht gesehen. Wenn sich die Proteste auf die nationale Ebene beschränkten, bleibe man immer in der Logik von Wettbewerbsstaaten, hielt Richard Detje von der Zeitschrift „Sozialismus“ mit Blick auf Opel fest. Der Linkspartei-Kandidat für Straßburg, Jürgen Klute, teilte diese Auffassung: „Es geht nicht darum, ob wir Europa wollen, sondern welches Europa wir wollen“. Ob das gewünschte Europa allerdings mit der Wahl vom 7. Juni kommt, steht einigermaßen in Frage, denn Beobachter räumen der konservativen Fraktion keine schlechten Chancen ein, ihre Mehrheit zu verteidigen.