Die Faszination des Codeknackens
Telepolis-Autor Klaus Schmeh sprach mit dem US-Historiker David Kahn, dem weltweit führenden Experten für die Geschichte der Verschlüsselungstechnik, über die Enigma, ungelöste Codes und seinen Buchklassiker "The Codebreakers".
David Kahn (geboren 1930 in den USA) veröffentlichte 1967 sein Buch "The Codebreakers", in dem erstmals die Geschichte der Verschlüsselungstechnik in ausführlicher Form erzählt wurde. Mehrere erfolgreiche Romane (z. B. "Cryptonomicon") und Hollywood-Filme (z. B. "Enigma") wurden davon beeinflusst. Zahlreiche bekannte Kryptologen sind durch Kahns Buch erstmals mit der Kryptologie in Berührung gekommen.
Stimmt es, dass der US-Geheimdienst NSA seinerzeit verhindern wollte, dass Ihr Buch "The Codebreakers" erscheint?
Kahn: Ja, das ist richtig. Die Dechiffrier-Spezialisten der NSA konnten damals viele Codes problemlos knacken, weil kaum ein Normalbürger wusste, wie eine gute Verschlüsselung funktioniert. Die NSA wollte daher auf keinen Fall, dass ein Buch mit kryptologischem Know-how in die Buchläden kam. Es hat aber nichts genutzt. Der Verlag ließ sich nicht einschüchtern, und das Buch kam auf den Markt.
Wie kamen Sie überhaupt dazu, sich mit der Geschichte der Kryptologie zu beschäftigen?
Kahn: Es gab schon vor "The Codebreakers" einige Bücher, die dieses Thema behandelten - wenn auch nicht so ausführlich und nicht mit wissenschaftlichem Anspruch. Eines davon ist "Secret and Urgent" von Fletcher Pratt. Dieses wunderbare Buch habe ich mit 14 Jahren gelesen, und ich war fasziniert. Seit damals hat mich die Verschlüsselungstechnik nicht mehr losgelassen. Später habe ich Sozialwissenschaften studiert und mich in wissenschaftlicher Form damit beschäftigt. 1967 erschien dann "The Codebreakers".
Nicht nur in Deutschland steht die berühmte Verschlüsselungsmaschine "Enigma" für das wohl bekannteste Kapitel der Verschlüsselungsgeschichte. Wann haben Sie zum ersten Mal von der Enigma gehört?
Kahn: Als ich die erste Ausgabe von "The Codebreakers" geschrieben habe. Mir war damals klar, dass die Enigma eine wichtige Verschlüsselungsmaschine war, mit der die Deutschen im Zweiten Weltkrieg ihren Funkverkehr verschlüsselt hatten. Damals war allerdings noch nicht bekannt, welche Dramen sich im Zusammenhang mit der Enigma abgespielt hatten. Erst in den siebziger Jahren kam die Wahrheit ans Licht: Die Briten hatten die Enigma im Zweiten Weltkrieg geknackt und erhebliche Vorteile daraus gezogen. In der zweiten Ausgabe von "The Codebreakers", die 1996 erschienen ist, bin ich natürlich auf diese Geschichte eingegangen.
Die Deutschen haben von den britischen Dechiffrier-Erfolgen nichts mitbekommen. Warum haben die Nazi-Größen die Sicherheit ihrer wichtigsten Verschlüsselungsmaschine derart überschätzt?
Kahn: Die Briten hatten mit Alan Turing einen genialen Mathematiker in ihren Reihen, der eine Möglichkeit fand, Enigma-Funksprüche zu lösen. Damit hatten die Deutschen nicht gerechnet.
In der Geschichte der Kryptologie gibt es viele weitere Beispiele für geknackte Codes. Welches ist für sie die größte Leistung, die je ein Codeknacker vollbracht hat?
Kahn: Der Erfolg der Briten beim Lösen der Enigma war sicherlich ein Höhepunkt der Kryptologie-Geschichte. Dabei sollte man nicht vergessen, dass das Knacken der Enigma eine Teamleistung war, zu der neben Turing viele weitere Einzelpersonen beigetragen haben. Mindestens genauso hoch würde ich die Leistung des US-Amerikaners William Friedman einschätzen, der - ebenfalls zusammen mit Team-Kollegen - im Laufe seines Lebens unzählige Codes geknackt hat. Friedmans Meisterstück war zweifellos das Dechiffrieren der japanischen Verschlüsselungsmaschine Purple. Der Leiter dieses Projekts war Frank Rowlett. Zusammen mit anderen Mitarbeitern fanden Friedman und Rowlett einen Weg, mit dem sich praktisch alle mit diesem Gerät verschlüsselten Nachrichten innerhalb kurzer Zeit entziffern ließen. Dabei hatten Friedman und seine Kollegen nie eine Purple gesehen und keinerlei Informationen darüber, wie eine solche funktionierte.
Gibt es außer der Enigma und der Purple noch weitere Beispiele dafür, dass geknackte Codes den Lauf der Geschichte beeinträchtigt haben?
Kahn: Durchaus. Als Beispiel möchte ich die Schlacht von Tannenberg im Ersten Weltkrieg nennen. Die Russen verwendeten während dieser für ihre Funksprüche schlechte und teilweise gar keine Verschlüsselungsverfahren. Die Deutschen konnten daher mithören, was wesentlich dazu beitrug, dass die Russen eine katastrophale Niederlage hinnehmen mussten. Diese wiederum schwächte das Russische Reich so sehr, dass später die Kommunisten an die Macht kamen und die Welt des 20. Jahrhunderts maßgeblich prägten. Ebenfalls im Ersten Weltkrieg spielte das Zimmermann-Telegramm Weltgeschichte. Dieses verschlüsselte Telegramm wurde vom deutschen Außenminister Arthur Zimmermann nach Mexiko geschickt und sollte die dortige Regierung zum Kriegseintritt auf der Seite der Deutschen bewegen. Allerdings konnten britische Spezialisten das Telegramm dechiffrieren. Das Ergebnis war, dass nicht die Mexikaner mit Deutschland, sondern die US-Amerikaner gegen Deutschland in den Krieg zogen.
Kommen wir zu Ihrer Person zurück. Sie sind Amerikaner, haben aber einen deutschen Nachnamen. Wo liegen Ihre Wurzeln?
Kahn: Mein Vorfahren waren Juden, die in Österreich-Ungarn lebten. Mein Vater ist 1907 in die USA ausgewandert. Kahn ist eine deutsche Form des jüdischen Namens Cohen. Die deutsche Sprache habe ich erst gelernt, als ich ein Jahr lang in Freiburg lebte, um im Militärarchiv für meine Promotion in Geschichte zu recherchieren. Das Ergebnis ist 1978 in Buchform als "Hitler's Spies" erschienen.
Sie haben 1960 mit der Arbeit an "The Codebreakers" begonnen und dann sieben Jahre lang daran gearbeitet. Wovon haben Sie in dieser Zeit gelebt?
Kahn: Nur die letzten zwei bis drei Jahre habe ich Vollzeit an am Buch gearbeitet. Davor war ich zusätzlich als Journalist aktiv und habe mir dabei etwas angespart. Ich musste mich in der gesamten Zeit ziemlich einschränken, aber ich denke, es hat sich gelohnt.
Als die Kryptologie Ende der siebziger Jahre zu einer akademischen Disziplin wurde, war Ihr Buch nahezu das einzige auf dem Markt, das sich dem Thema widmete - wenn auch nicht aus technischer, sondern aus historischer Sicht. Von der damaligen ersten Kryptologen-Generation wären viele ohne Ihr Buch erst gar nicht zu dieser Wissenschaft gekommen. Kennen Sie weitere Menschen, die "The Codebreakers" beeinflusst hat.
Kahn: Mich haben einmal ein paar junge Kryptologen der NSA um ein Autogramm gebeten. Sie sagten "Dr. Kahn, Sie haben unser Leben verändert!" Als ich fragte, in welcher Form, meinten sie, sie alle hätten sich entschieden, Kryptologen zu werden, nachdem sie "The Codebreakers" gelesen haben. Das war erstaunlich für mich, denn niemand - nicht einmal meine Söhne - haben jemals etwas Derartiges zu mir gesagt.
Was ist für Sie das größte noch offene Rätsel in der Kryptologie-Geschichte?
Kahn: Ich denke, das größte Rätsel ist das Voynich-Manuskript. Dieses ist ein altes Buch, das niemand lesen kann, weil es in unbekannten Buchstaben verfasst ist. Bisher hat es noch niemand geschafft, diesem Buchstaben-Salat sein Geheimnis zu entlocken. Auch die Bilder im Voynich-Manuskript stellen mehr Fragen als sie Antworten geben.
Das Voynich-Manuskript war in der Telepolis bereits einmal ein Thema (Das Voynich-Manuskript: das Buch, das niemand lesen kann). Was steckt Ihrer Meinung dahinter? Lässt sich der Text überhaupt entschlüsseln oder besteht er nur aus Buchstabenfolgen ohne Sinn?
Kahn: Wenn das Voynich-Manuskript nur aus einem sinnlosen Buchstabengemisch bestünde, dann müssten die statistischen Untersuchungen andere Ergebnisse liefern als sie das tun. Ich denke daher schon, dass der Text einen Sinn hat. Vielleicht handelt es sich um eine Abhandlung, die in einer Kunstsprache verfasst ist. Das Voynich-Manuskript ist auf jeden Fall ein spannendes Rätsel.
Ein weiteres kryptologisches Rätsel, über das die Telepolis berichtet hat, sind die Beale-Chiffren. Dabei handelt es sich um drei verschlüsselte Nachrichten aus dem 19. Jahrhundert, die angeblich die Lage eines Schatzes verraten. Nur eine der drei Nachrichten wurde bisher dechiffriert, und den Schatz hat noch niemand gefunden ?
Kahn: Den Schatz wird wohl auch nie jemand finden, weil er nicht existiert. Die Sache mit den Beale-Chiffren ist nicht mehr als eine geschickt erzählte, aber frei erfundene Geschichte. Bemerkenswert daran ist nur, dass es noch immer Leute gibt, die daran glauben und nach dem Schatz suchen.
Und schließlich war der Bibel-Code bereits ein Thema in der Telepolis. Was halten Sie von diesem?
Kahn: Überhaupt nichts. Diese versteckten Nachrichten in der Bibel existieren schlichtweg nicht. Wer mit den richtigen Techniken lange genug sucht, findet in jedem längeren Text irgendeinen Code. So sind auch die angeblichen versteckten Botschaften in den Stücken Shakespeares zu erklären, die beweisen sollen, dass in Wirklichkeit Francis Bacon der Autor war. Das alles ist ziemlich offensichtlicher Unfug. Daher lohnt es sich auch nicht, sich mit Bibel-Code-Fans oder Baconianern auf eine Diskussion einzulassen.
Mit fast 80 Jahren sind Sie immer noch sehr aktiv. An welchem Projekt arbeiten Sie gerade?
Kahn: Ich schreibe momentan ein Buch über die US-Geheimdienste im Zweiten Weltkrieg. Ein paar Kapitel sind schon geschrieben, noch gibt es aber viel zu recherchieren. Ich weiß noch nicht, wann ich zu einem Ende kommen werde.
Gibt es in der Geschichte der Verschlüsselung noch etwas zu erforschen?
Kahn: Noch vieles. Mich würde zum Beispiel interessieren, ob die NSA die Verschlüsselungsverfahren von Staaten wie dem Iran oder dem Irak knacken kann. Näheres dazu werden wir aber wohl erst in 100 Jahren erfahren.
Klaus Schmeh ist Autor des Buchs "Codeknacker gegen Codemacher", in dem die Geschichte der Verschlüsselungstechnik erzählt wird. Seine Homepage: www.schmeh.org.