Die Fliege macht sich davon und das Pferd stirbt

Militärischer Großeinsatz in Falludscha soll "zweiten Krieg" im Irak entscheiden

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Das "Fenster für eine friedliche Lösung schließt sich", gab Allawi am Wochenende der Presse bekannt; die Bühne für Die entscheidende Schlacht in Falludscha ist bereitet, die US-Truppen im Land auf 142.000 verstärkt, der Major assault, die Großoffensive scheint unausweichlich. Die US-Kommandeure warten nur mehr auf Allawis offizielle Bitte zur Unterstützung, die wahrscheinlich nicht ausbleiben wird. Doch der militärische Einsatz, der einen Wendepunkt im "Krieg nach dem Krieg" (vgl. Der "zweite Krieg" im Irak) einläuten soll, ist innerhalb der Spitze der irakischen Interimsregierung umstritten.

Er sei überhaupt nicht mit denen einverstanden, die glauben, ein militärischer Angriff sei notwendig, sagte der irakische Interimspräsident Ghazi al-Jawer gestern einer kuwaitischen Zeitung:

Die Art, wie die Koalition mit der Krise umgeht, ist falsch. Als ob jemand seinem Pferd in den Kopf schießen würde, um eine Fliege zu töten, die dort gelandet ist. Die Fliege macht sich davon und das Pferd stirbt.

Tatsächlich steht viel auf dem Spiel: Wenn die militärische Aktion gelingen sollte, könnte dies, so das optimistische Kalkül, einen Wendepunkt im Kampf gegen die "Aufständischen" markieren. Wenn nicht, unkt Newsweek, wäre der neu gewählte amerikanische Präsident zu seinem Amtsantritt mit einem noch größeren Schlamassel im Irak konfrontiert. Der Tipping point im Irak wäre nach optimistischer Denkart dann ereicht, wenn eine "kritische Masse" von irakischen Einheiten gegen die "Aufständischen" kämpfe und deren Erfolge für die irakische Bevölkerung sichtbar wären, so dass das Unsicherheitsgefühl langsam in Richtung Sicherheit kippen könnte – am besten bis zu den Wahlen. Voraussetzung: das richtige Signal durch einen entscheidenden Sieg in Falludscha.

Doch die Unabwägbarkeiten sind groß, die Skeptiker unter den US-Militärs äußern sich immer kritischer. Sogar der amerikanische Außenminister Colin Powell soll im Freundeskreis die Lage im Irak so eingeschätzt haben, dass die "Aufständischen" auf der Siegesspur seien. Die größte Schwierigkeit, so der allgemeine Tenor aus den Reihen dieser Skeptiker, läge nicht in der Einnahme der Stadt, so schwierig dies auch sei, sondern - wieder einmal – im "Management der Situation" in der Zeit nach dem Kampf, so ein amerikanischer Offizieller:

Noch viel wichtiger als die Schlacht ist die Zeit danach. Die Iraker müssen da hinein gehen, wie die amerikanische Regierung nach einem Hurrikan in Florida. Sie müssen sich vor Ort zeigen, wie sie Leuten helfen.

Obschon man die irakischen Sicherheitskräfte in letzter Zeit mit mehr Geld und besserer Ausrüstung versorgt hat und sie in aller Eile aufstockt – in den nächsten Wochen sollen weitere sechs Batallione einsatzbereit sein – ist das Misstrauen der US-Kommandeure ihnen gegenüber groß. Man befürchtet einerseits die mangelnde Kompetenz "unerfahrener" Generäle und vor allem die Infiltration der Sicherheitstruppen durch die Aufständischen sowie deren Einschüchterungstaktik gegenüber den irakischen Truppen durch die zahlreichen Anschläge.

Wie groß das Misstrauen der Amerikaner ist, demonstriert der Überfall auf 49 irakische Soldaten in der Nähe eines Ausbildungslagers in Kirkush am 23.Oktober. Die Soldaten wurden bei ihrer Fahrt nachhause von "Aufständischen" gnadenlos niedergeschossen; sie waren dem Angriff wehrlos ausgeliefert, weil es ihnen aufgrund der Order ihrer amerikanischen Ausbilder nicht gestattet war, die Ausbildungsbasis mit ihren Waffen zu verlassen – aus Sorge, sie könnten mit den Waffen desertieren (und überlaufen). Zugleich deutete der perfekt geplante Hinterhalt darauf hin, dass die Angreifer genau Bescheid wussten, also Zugang zu internen Informationen hatten. Sie kannten offensichtlich die Abfahrtszeit und Fahrtroute der Soldatenbusse.

Die Infiltration erstreckt sich über alle Ebenen, von der Spitze bis zur Basis, von den Entscheidungsträgern bis zu den niedrigen Graden.

anonymer irakischer Regierungsvertreter

Die oben zitierte Äußerung des irakischen Prsäidenten Ghazi al-Jawer weist auf ein anderes großes Problem des amerikanischen Militäreinsatzes hin: die politischen Folgen, welche zum einen die Interimsregierung unter Iyad Allawi treffen und zum anderen die Amerikaner. Genaue Angaben darüber, wie viele Zivilisten sich noch in Falludscha aufhalten gibt es nicht. Das US-Militär schätzt die Zahl der Einwohner, die dort geblieben sind, auf etwa 50 - 60.000 (von 300.000). Das würde bedeuten, so ein Experte, dass man beim Kampf gegen geschätzte 3 – 5.000 Aufständische vermeiden müsse, dass den restlichen 45.000 Leid geschehe, "eine sehr schwierige Sache" – zumal in allen Berichten zur Vorbereitung der "entscheidenden Schlacht" vermerkt wird, dass es nur spärliche Geheimdienstinformation zur Situation innerhalb Falludschas gebe.

Welche militärischen Ziele die Kommandeure der Marines in Falludscha genau verfolgen, ist ebenso vage. Man verspreche sich von dem Angriff, dass die Aufständischen "ganz einfach fliehen". Wie die Fliege eben...Und das Pferd, der Irak bleibt sich selbst überlassen. Vielleicht geht es dem US-Militär nur darum, noch einmal Stärke zu zeigen, um mit vorzeigbaren Erfolg den langsamen Rückzug einzuläuten.